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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Das erste Amtsjahr des neuen Pfarrers

Zahl der Gläser Wein gemerkt, die die vier Pfarrer getrunken haben. Doch schließlich
heißes auch hier: "Sie torrens ja, denn die Stelle ist gut."

So vergehen wieder Wachen und Monate. Immer bescheidener wird der
Inhalt des vielgeprüften Geldbeutels. Wo bleiben nur die Einnahmen der so gut
dotirter Pfarrei? Endlich, endlich rührt sichs. Es wird ein Geburtsschein bestellt
und prompt bezahlt: eine Mark fünfzehn Pfennige!

Inzwischen ists zum Befremden der jungen Hausfrau den Küchenvorräten
ähnlich ergangen wie dem Kassenbeflande des Herrn Gemahls. Mit unglaublicher
Schnelligkeit schwinden Kaffee, Zucker, Reis u. f. w., die sämtlich in stattlichen Büchsen
im offenen Schranke aufbewahrt werden, dahin, als ob sie sich selbst gegenseitig
aussrttßen. Sollten etwa unberufene Hände an diesen Schätzen teilnehmen? Un¬
willkürlich wird das Gebaren des dienenden Geistes, einer "warm empfohlenen"
Frau ans dem Dorfe, die mit zahlreichen Kindern gesegnet ist, mit Teilnahme be¬
obachtet. Der Erfolg ist, das; der Schlüssel des Schrankes von nun an sich stets
in der Tasche der Hausfrau befindet. Schon in den nächsten Tagen verbreitet sich
im Dorfe das Gerücht, die neue Frau Pfarrerin sei gar zu "spitz." Brühwarm
wird ihr diese interessante Neuigkeit von einer Nachbarin mit der erforderlichen
sittlichen Entrüstung über die böse Welt zugetragen. Doch bleibt die Quelle in
Dunkel gehüllt.

Endlich reißt dem Pfarrer der Faden der Geduld. Halb verlege", fast als
ob er ein Unrecht begehe, befragt er den Kirchenrechner, der in dienstlicher Ange¬
legenheit bei ihm vorspricht, ob wohl Geld in der Kirchenkasse sei. Die Antwort
ist wenig tröstlich. Jetzt, in: Sommer, sei gerade Ebbe, aber einige Wochen nach
der Heuernte werde es wohl wieder besser gehen. Dann könne ja wohl der alte
Herr (der Amtsvorgänger) einen Teil seines Guthabens bekommen; mich wolle der
Nachbarpfarrer für seine längere Vertretung während der Vakanz berücksichtigt sein,
und den Rest des Stelleneinkommens ans der Vakanzzeit habe der Zentralkircheu-
sonds zu fordern. Das werde sich schon mit der Zeit machen, der alte Herr habe
ja die Leute auch nie ums Bezahlen von Güterpacht und Kirchensteuer ge¬
drängt.

So ist denn ein ziemlich trostloser Blick in die Zukunft eröffnet. still¬
schweigend nimmt der junge Inhaber der guten Stelle diesen nicht undentlichen
Bescheid hin und entläßt den Rechner mit denk Bedeuten, daß er doch nach Kräften
die alten Aufstände beitreiben möge. Jetzt verbreitet sich ebenso geheimnisvoll im
Dorfe und in der Umgegend das Gerücht, der neue Pfarrer sei "hungrig." Dieser
selbst aber leiht sich auf den Rat eines erfahrenen ältern Kollegen in der Stille
eme stattliche Summe gegen die landesüblichen Zinsen, tun wenigstens der drückendsten
Verlegenheiten enthoben zu sein. Innerhalb der nächsten Jahre hofft er, falls nicht
anderweitige Hindernisse dazwischen kommen, sie bei möglichster Einschränkung all¬
mählich wieder abtragen zu köunen.

Aber der Schleifstein des Lebens mit seinen mancherlei unliebsamen Erfahrungen
dreht sich rüstig weiter. ^

Die bisher gut besuchte Kirche zeigt jetzt allsonntäglich mehr und mehr leere
Plätze. Den Leuten ist eben die Annehmlichkeit, wieder eiuen eignen Pfarrer in
ihrer Mitte zu haben, nichts Neues mehr. Eine herzliche Bitte von der Kanzel
um bessern Kirchenbesuch wird abends von den durstigen Musikfreunden des Eiuzugs-
tages bewitzelt. Auch der freundliche Wirt lacht mit. Bezieht doch der Pfarrer
seit kurzem sein Bier nicht mehr vou ihm, sondern von seinem Konkurrenten, weil
dieser bessern Stoss und mäßigere Preise hat!


Grenzboten IV 1839 g
Das erste Amtsjahr des neuen Pfarrers

Zahl der Gläser Wein gemerkt, die die vier Pfarrer getrunken haben. Doch schließlich
heißes auch hier: „Sie torrens ja, denn die Stelle ist gut."

So vergehen wieder Wachen und Monate. Immer bescheidener wird der
Inhalt des vielgeprüften Geldbeutels. Wo bleiben nur die Einnahmen der so gut
dotirter Pfarrei? Endlich, endlich rührt sichs. Es wird ein Geburtsschein bestellt
und prompt bezahlt: eine Mark fünfzehn Pfennige!

Inzwischen ists zum Befremden der jungen Hausfrau den Küchenvorräten
ähnlich ergangen wie dem Kassenbeflande des Herrn Gemahls. Mit unglaublicher
Schnelligkeit schwinden Kaffee, Zucker, Reis u. f. w., die sämtlich in stattlichen Büchsen
im offenen Schranke aufbewahrt werden, dahin, als ob sie sich selbst gegenseitig
aussrttßen. Sollten etwa unberufene Hände an diesen Schätzen teilnehmen? Un¬
willkürlich wird das Gebaren des dienenden Geistes, einer „warm empfohlenen"
Frau ans dem Dorfe, die mit zahlreichen Kindern gesegnet ist, mit Teilnahme be¬
obachtet. Der Erfolg ist, das; der Schlüssel des Schrankes von nun an sich stets
in der Tasche der Hausfrau befindet. Schon in den nächsten Tagen verbreitet sich
im Dorfe das Gerücht, die neue Frau Pfarrerin sei gar zu „spitz." Brühwarm
wird ihr diese interessante Neuigkeit von einer Nachbarin mit der erforderlichen
sittlichen Entrüstung über die böse Welt zugetragen. Doch bleibt die Quelle in
Dunkel gehüllt.

Endlich reißt dem Pfarrer der Faden der Geduld. Halb verlege», fast als
ob er ein Unrecht begehe, befragt er den Kirchenrechner, der in dienstlicher Ange¬
legenheit bei ihm vorspricht, ob wohl Geld in der Kirchenkasse sei. Die Antwort
ist wenig tröstlich. Jetzt, in: Sommer, sei gerade Ebbe, aber einige Wochen nach
der Heuernte werde es wohl wieder besser gehen. Dann könne ja wohl der alte
Herr (der Amtsvorgänger) einen Teil seines Guthabens bekommen; mich wolle der
Nachbarpfarrer für seine längere Vertretung während der Vakanz berücksichtigt sein,
und den Rest des Stelleneinkommens ans der Vakanzzeit habe der Zentralkircheu-
sonds zu fordern. Das werde sich schon mit der Zeit machen, der alte Herr habe
ja die Leute auch nie ums Bezahlen von Güterpacht und Kirchensteuer ge¬
drängt.

So ist denn ein ziemlich trostloser Blick in die Zukunft eröffnet. still¬
schweigend nimmt der junge Inhaber der guten Stelle diesen nicht undentlichen
Bescheid hin und entläßt den Rechner mit denk Bedeuten, daß er doch nach Kräften
die alten Aufstände beitreiben möge. Jetzt verbreitet sich ebenso geheimnisvoll im
Dorfe und in der Umgegend das Gerücht, der neue Pfarrer sei „hungrig." Dieser
selbst aber leiht sich auf den Rat eines erfahrenen ältern Kollegen in der Stille
eme stattliche Summe gegen die landesüblichen Zinsen, tun wenigstens der drückendsten
Verlegenheiten enthoben zu sein. Innerhalb der nächsten Jahre hofft er, falls nicht
anderweitige Hindernisse dazwischen kommen, sie bei möglichster Einschränkung all¬
mählich wieder abtragen zu köunen.

Aber der Schleifstein des Lebens mit seinen mancherlei unliebsamen Erfahrungen
dreht sich rüstig weiter. ^

Die bisher gut besuchte Kirche zeigt jetzt allsonntäglich mehr und mehr leere
Plätze. Den Leuten ist eben die Annehmlichkeit, wieder eiuen eignen Pfarrer in
ihrer Mitte zu haben, nichts Neues mehr. Eine herzliche Bitte von der Kanzel
um bessern Kirchenbesuch wird abends von den durstigen Musikfreunden des Eiuzugs-
tages bewitzelt. Auch der freundliche Wirt lacht mit. Bezieht doch der Pfarrer
seit kurzem sein Bier nicht mehr vou ihm, sondern von seinem Konkurrenten, weil
dieser bessern Stoss und mäßigere Preise hat!


Grenzboten IV 1839 g
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[0049] Das erste Amtsjahr des neuen Pfarrers Zahl der Gläser Wein gemerkt, die die vier Pfarrer getrunken haben. Doch schließlich heißes auch hier: „Sie torrens ja, denn die Stelle ist gut." So vergehen wieder Wachen und Monate. Immer bescheidener wird der Inhalt des vielgeprüften Geldbeutels. Wo bleiben nur die Einnahmen der so gut dotirter Pfarrei? Endlich, endlich rührt sichs. Es wird ein Geburtsschein bestellt und prompt bezahlt: eine Mark fünfzehn Pfennige! Inzwischen ists zum Befremden der jungen Hausfrau den Küchenvorräten ähnlich ergangen wie dem Kassenbeflande des Herrn Gemahls. Mit unglaublicher Schnelligkeit schwinden Kaffee, Zucker, Reis u. f. w., die sämtlich in stattlichen Büchsen im offenen Schranke aufbewahrt werden, dahin, als ob sie sich selbst gegenseitig aussrttßen. Sollten etwa unberufene Hände an diesen Schätzen teilnehmen? Un¬ willkürlich wird das Gebaren des dienenden Geistes, einer „warm empfohlenen" Frau ans dem Dorfe, die mit zahlreichen Kindern gesegnet ist, mit Teilnahme be¬ obachtet. Der Erfolg ist, das; der Schlüssel des Schrankes von nun an sich stets in der Tasche der Hausfrau befindet. Schon in den nächsten Tagen verbreitet sich im Dorfe das Gerücht, die neue Frau Pfarrerin sei gar zu „spitz." Brühwarm wird ihr diese interessante Neuigkeit von einer Nachbarin mit der erforderlichen sittlichen Entrüstung über die böse Welt zugetragen. Doch bleibt die Quelle in Dunkel gehüllt. Endlich reißt dem Pfarrer der Faden der Geduld. Halb verlege», fast als ob er ein Unrecht begehe, befragt er den Kirchenrechner, der in dienstlicher Ange¬ legenheit bei ihm vorspricht, ob wohl Geld in der Kirchenkasse sei. Die Antwort ist wenig tröstlich. Jetzt, in: Sommer, sei gerade Ebbe, aber einige Wochen nach der Heuernte werde es wohl wieder besser gehen. Dann könne ja wohl der alte Herr (der Amtsvorgänger) einen Teil seines Guthabens bekommen; mich wolle der Nachbarpfarrer für seine längere Vertretung während der Vakanz berücksichtigt sein, und den Rest des Stelleneinkommens ans der Vakanzzeit habe der Zentralkircheu- sonds zu fordern. Das werde sich schon mit der Zeit machen, der alte Herr habe ja die Leute auch nie ums Bezahlen von Güterpacht und Kirchensteuer ge¬ drängt. So ist denn ein ziemlich trostloser Blick in die Zukunft eröffnet. still¬ schweigend nimmt der junge Inhaber der guten Stelle diesen nicht undentlichen Bescheid hin und entläßt den Rechner mit denk Bedeuten, daß er doch nach Kräften die alten Aufstände beitreiben möge. Jetzt verbreitet sich ebenso geheimnisvoll im Dorfe und in der Umgegend das Gerücht, der neue Pfarrer sei „hungrig." Dieser selbst aber leiht sich auf den Rat eines erfahrenen ältern Kollegen in der Stille eme stattliche Summe gegen die landesüblichen Zinsen, tun wenigstens der drückendsten Verlegenheiten enthoben zu sein. Innerhalb der nächsten Jahre hofft er, falls nicht anderweitige Hindernisse dazwischen kommen, sie bei möglichster Einschränkung all¬ mählich wieder abtragen zu köunen. Aber der Schleifstein des Lebens mit seinen mancherlei unliebsamen Erfahrungen dreht sich rüstig weiter. ^ Die bisher gut besuchte Kirche zeigt jetzt allsonntäglich mehr und mehr leere Plätze. Den Leuten ist eben die Annehmlichkeit, wieder eiuen eignen Pfarrer in ihrer Mitte zu haben, nichts Neues mehr. Eine herzliche Bitte von der Kanzel um bessern Kirchenbesuch wird abends von den durstigen Musikfreunden des Eiuzugs- tages bewitzelt. Auch der freundliche Wirt lacht mit. Bezieht doch der Pfarrer seit kurzem sein Bier nicht mehr vou ihm, sondern von seinem Konkurrenten, weil dieser bessern Stoss und mäßigere Preise hat! Grenzboten IV 1839 g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/49>, abgerufen am 22.12.2024.