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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

oder andächtiger Verzückung Dinge hörten und sahen, die nicht vorhanden
waren, und daß begabte Männer, Frauen und Jungfrauen in der zeitweiligen
Aufhebung der Schwerkraft und im Verkehr und Geistern bedeutenderes leisteten
als der Knabe von Nesau und unsre Spiritisten. Aber der Brauchbarkeit alter
Chroniken schaden solche leicht ablösbare Zuthaten weniger als der unsrer
heutigen Geschichtswerke ihre "Pragmatik." Denn was eine Wundergeschichte
ist, sieht man auf der Stelle und macht einfach einen Strich dnrch; aber in
einem kunstreichen Charakterbilde moderner Geschichtschreibung zu entscheiden,
wie viel davon der Wirklichkeit und wie viel der tendenziösen Kunst des Ver¬
fassers angehört, das ist ein schwieriges Stuck Arbeit. Wer sich mit mittel¬
alterlicher Geschichte beschäftigt, der dankt Gott dafür, daß die Chronisten keine
Theorien beweisen und keine Kunstwerke liefern, sondern sich ans die trockene
und treuherzige Aufzählung der Thatsachen beschränken. Freilich thevretisircn
auch sie manchmal und beweisen entweder die Schlechtigkeit der durch Sünden
verderbten Welt und die Nachwirkung des Sündenfalls, oder die göttlichen
Rechte des Papstes oder "des Kaisers oder die Lehre von den zwei Schwertern;
allein das thun sie nicht durch künstliche und schlaue GriWirung der That¬
sachen, sondern in besondern mehr oder weniger langweiligen Abhandlungen,
die i"an als nicht zur Sache gehörig einfach überschlägt. So sind auch die
damaligen Staatsschrifteu von unübertrefflicher Deutlichkeit. Wenn Kaiser,
Papst und sonstige Potentaten sich gegenseitig Drache, Schlange, Räuber und
Mörder schimpfen, so weiß man ganz genau, wie viel es geschlagen hat,
während man seit der Zeit, wo die Sprache als eine Kunst zum Verbergen
der Gedanken gehandhabt wird, nach dem Lesen einer diplomatischen Note regel¬
mäßig weniger weiß als vorher. Wenn demnach Buckle jener Zeit vorwirft,
nicht einmal ein Macchinvelli habe sich zu einer alle Erscheinungen organisch
verbindenden Ansicht erheben können, so ist das zwar richtig, aber für den
Geschichtsforscher das Gegenteil von einem Unglück.

Da ferner die Bildung doch erst verbreitet werden muß, ehe sie allgemein
vorhanden sein kann, in rohen Zeiten aber die Bildungsmittel nur den Vor¬
nehmsten zugänglich sind, so ist nicht abzusehen, wie Bildungsfortschritt möglich
gewesen wäre ohne die von Buckle so sehr beklagte Bevormundung. Es ist
laicht einzusehen, daß diese über einen gewissen Grad und eine gewisse Zeit¬
grenze hinaus mehr schadet als nützt; allein wo die Grenze liegt, darüber
vermögen sich die Beteiligten 'immer nur schwer zu einigen. Ans dem Festlande
wenigstens pflegen gerade die politischen Parteigenossen Buckles für weitgehenden
Schulzwang und sonstige Bevormundung des Volkes zu schwärmen und sind
daher namentlich bei den Landleuten wenig beliebt, die ihr eignes Interesse
besser zu verstehen glauben als ihre städtischen Vormünder, und demgemäß
liberalen Regierungen mit derselben Begründung Opposition machen, wie das
liberale Gelehrten- und Bürgertum deu konservativen.


Buckle und Darwin

oder andächtiger Verzückung Dinge hörten und sahen, die nicht vorhanden
waren, und daß begabte Männer, Frauen und Jungfrauen in der zeitweiligen
Aufhebung der Schwerkraft und im Verkehr und Geistern bedeutenderes leisteten
als der Knabe von Nesau und unsre Spiritisten. Aber der Brauchbarkeit alter
Chroniken schaden solche leicht ablösbare Zuthaten weniger als der unsrer
heutigen Geschichtswerke ihre „Pragmatik." Denn was eine Wundergeschichte
ist, sieht man auf der Stelle und macht einfach einen Strich dnrch; aber in
einem kunstreichen Charakterbilde moderner Geschichtschreibung zu entscheiden,
wie viel davon der Wirklichkeit und wie viel der tendenziösen Kunst des Ver¬
fassers angehört, das ist ein schwieriges Stuck Arbeit. Wer sich mit mittel¬
alterlicher Geschichte beschäftigt, der dankt Gott dafür, daß die Chronisten keine
Theorien beweisen und keine Kunstwerke liefern, sondern sich ans die trockene
und treuherzige Aufzählung der Thatsachen beschränken. Freilich thevretisircn
auch sie manchmal und beweisen entweder die Schlechtigkeit der durch Sünden
verderbten Welt und die Nachwirkung des Sündenfalls, oder die göttlichen
Rechte des Papstes oder "des Kaisers oder die Lehre von den zwei Schwertern;
allein das thun sie nicht durch künstliche und schlaue GriWirung der That¬
sachen, sondern in besondern mehr oder weniger langweiligen Abhandlungen,
die i»an als nicht zur Sache gehörig einfach überschlägt. So sind auch die
damaligen Staatsschrifteu von unübertrefflicher Deutlichkeit. Wenn Kaiser,
Papst und sonstige Potentaten sich gegenseitig Drache, Schlange, Räuber und
Mörder schimpfen, so weiß man ganz genau, wie viel es geschlagen hat,
während man seit der Zeit, wo die Sprache als eine Kunst zum Verbergen
der Gedanken gehandhabt wird, nach dem Lesen einer diplomatischen Note regel¬
mäßig weniger weiß als vorher. Wenn demnach Buckle jener Zeit vorwirft,
nicht einmal ein Macchinvelli habe sich zu einer alle Erscheinungen organisch
verbindenden Ansicht erheben können, so ist das zwar richtig, aber für den
Geschichtsforscher das Gegenteil von einem Unglück.

Da ferner die Bildung doch erst verbreitet werden muß, ehe sie allgemein
vorhanden sein kann, in rohen Zeiten aber die Bildungsmittel nur den Vor¬
nehmsten zugänglich sind, so ist nicht abzusehen, wie Bildungsfortschritt möglich
gewesen wäre ohne die von Buckle so sehr beklagte Bevormundung. Es ist
laicht einzusehen, daß diese über einen gewissen Grad und eine gewisse Zeit¬
grenze hinaus mehr schadet als nützt; allein wo die Grenze liegt, darüber
vermögen sich die Beteiligten 'immer nur schwer zu einigen. Ans dem Festlande
wenigstens pflegen gerade die politischen Parteigenossen Buckles für weitgehenden
Schulzwang und sonstige Bevormundung des Volkes zu schwärmen und sind
daher namentlich bei den Landleuten wenig beliebt, die ihr eignes Interesse
besser zu verstehen glauben als ihre städtischen Vormünder, und demgemäß
liberalen Regierungen mit derselben Begründung Opposition machen, wie das
liberale Gelehrten- und Bürgertum deu konservativen.


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[0475] Buckle und Darwin oder andächtiger Verzückung Dinge hörten und sahen, die nicht vorhanden waren, und daß begabte Männer, Frauen und Jungfrauen in der zeitweiligen Aufhebung der Schwerkraft und im Verkehr und Geistern bedeutenderes leisteten als der Knabe von Nesau und unsre Spiritisten. Aber der Brauchbarkeit alter Chroniken schaden solche leicht ablösbare Zuthaten weniger als der unsrer heutigen Geschichtswerke ihre „Pragmatik." Denn was eine Wundergeschichte ist, sieht man auf der Stelle und macht einfach einen Strich dnrch; aber in einem kunstreichen Charakterbilde moderner Geschichtschreibung zu entscheiden, wie viel davon der Wirklichkeit und wie viel der tendenziösen Kunst des Ver¬ fassers angehört, das ist ein schwieriges Stuck Arbeit. Wer sich mit mittel¬ alterlicher Geschichte beschäftigt, der dankt Gott dafür, daß die Chronisten keine Theorien beweisen und keine Kunstwerke liefern, sondern sich ans die trockene und treuherzige Aufzählung der Thatsachen beschränken. Freilich thevretisircn auch sie manchmal und beweisen entweder die Schlechtigkeit der durch Sünden verderbten Welt und die Nachwirkung des Sündenfalls, oder die göttlichen Rechte des Papstes oder "des Kaisers oder die Lehre von den zwei Schwertern; allein das thun sie nicht durch künstliche und schlaue GriWirung der That¬ sachen, sondern in besondern mehr oder weniger langweiligen Abhandlungen, die i»an als nicht zur Sache gehörig einfach überschlägt. So sind auch die damaligen Staatsschrifteu von unübertrefflicher Deutlichkeit. Wenn Kaiser, Papst und sonstige Potentaten sich gegenseitig Drache, Schlange, Räuber und Mörder schimpfen, so weiß man ganz genau, wie viel es geschlagen hat, während man seit der Zeit, wo die Sprache als eine Kunst zum Verbergen der Gedanken gehandhabt wird, nach dem Lesen einer diplomatischen Note regel¬ mäßig weniger weiß als vorher. Wenn demnach Buckle jener Zeit vorwirft, nicht einmal ein Macchinvelli habe sich zu einer alle Erscheinungen organisch verbindenden Ansicht erheben können, so ist das zwar richtig, aber für den Geschichtsforscher das Gegenteil von einem Unglück. Da ferner die Bildung doch erst verbreitet werden muß, ehe sie allgemein vorhanden sein kann, in rohen Zeiten aber die Bildungsmittel nur den Vor¬ nehmsten zugänglich sind, so ist nicht abzusehen, wie Bildungsfortschritt möglich gewesen wäre ohne die von Buckle so sehr beklagte Bevormundung. Es ist laicht einzusehen, daß diese über einen gewissen Grad und eine gewisse Zeit¬ grenze hinaus mehr schadet als nützt; allein wo die Grenze liegt, darüber vermögen sich die Beteiligten 'immer nur schwer zu einigen. Ans dem Festlande wenigstens pflegen gerade die politischen Parteigenossen Buckles für weitgehenden Schulzwang und sonstige Bevormundung des Volkes zu schwärmen und sind daher namentlich bei den Landleuten wenig beliebt, die ihr eignes Interesse besser zu verstehen glauben als ihre städtischen Vormünder, und demgemäß liberalen Regierungen mit derselben Begründung Opposition machen, wie das liberale Gelehrten- und Bürgertum deu konservativen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/475>, abgerufen am 04.07.2024.