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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die Revolution in Brasilien

allezeit bereit, die schwierigsten Pflichten nuf sich zu nehmen, und fest von
ihrer Fähigkeit überzeugt, ohne viel Vorbereitung und Erfahrung mit gutem
Erfolg sich der Leitung des Heerwesens, der Finanzen oder der auswärtigen
Angelegenheiten des Landes zu unterziehen, dem zu dienen ihr alleiniger Ehr¬
geiz ist.

Die Revolution muß selbst eine" großen Teil der Bewohner vou Rio
Janeiro überrascht haben; denn die dortigen Zeitungen berichteten noch vom
15. Oktober über "patriotische" Kundgebungen, die an diesem Tage bei
der Feier eines dreifachen Festes in der Herrscherfamilie, des Geburtstags der
Kaiserin, der silbernen Hochzeit des kronprinzlichen Paares und des Geburts¬
tages des Sohnes desselben, stattfanden, indem den hohen Herrschaften von
der Kaufmannschaft und verschiednen andern Kreisen Adressen, Fackelzüge
und sonstige Huldigungen dargebracht wurden. Noch mehr aber ist ohne
Zweifel das europäische Publikum von den Ereignissen überrascht worden.
Doch haben Kenner der neuesten Geschichte Brasiliens und der dadurch ent-
standnen Stimmung eines Teils der Bevölkerung dieses Reichs die Wahrschein¬
lichkeit einer Revolution wohl längst erkannt, wenn sie auch vermuteten, sie
werde erst nach dem Ableben des Kaisers Dom Pedro zur Thatsache werden,
dem seine tadellosen Eigenschaften und sein vielfach nützliches Wirken eine
Beliebtheit verschafft hatten, die auch der Dhunstie bis zu einem gewissen
Maße zu gute gekommen zu sein schien. Diese Annahmen haben sich als irrig
erwiesen, weil man dabei die Kraft des militärischen Strebertums unterschätzte,
das die vorhandne Mißstimmung über die Aufhebung der Sklaverei im
Reiche für seine Zwecke ausbeutete und damit Eile hatte. Dieses Strebertum,
ein wichtiger, aber schwer zu berechnender Faktor in der Politik aller mittel-
nnd südamerikanischen Staaten, beschleunigte augenscheinlich den Gang der
Krisis, während anderseits die Natur des Kaisers, seine Denkart, seine Lieb¬
lingsinteressen die Gefahr, der er zuletzt erlag, wo nicht schufen, doch wesentlich
verstärkten. Er war mehr ein Mann des Nachdenkens als des Handelns, ein
lnldnngsdurstiger Gelehrter und ein Menschenfreund, ein Staatsmann aber erst in
zweiter Linie und gar kein Soldat, dem Kriege und seinen Werkzeugen vielmehr >
abgeneigt, sodaß er mit seinen Truppen möglichst wenig verkehrte, möglichst wenig
für sie that nud dadurch die Offiziere allmählich sich entfremdete und der Ver¬
führung zugänglich machte, die in Gestalt ehrgeiziger Generale an sie hinan¬
trat. Hätte er bei der Schwäche der brasilianischen Armee auch nur auf
tnnsend treue, entschlossene und wohlgeübte Soldaten zählen können, so wäre
schon der erste Versuch der Meuterer ohne Zweifel rasch vereitelt worden, man
hätte ein Dutzend der schuldigster Verschwörer ans den Sandhaufen geschickt
und erschossen, und die Sache hätte hingereicht, dem Kaiser bis zu seinem Lebens¬
ende den Thron zu sichern. Pedro der Zweite aber hatte keine treuen Sol¬
daten, und er war nicht der Mann kräftigen Vorgehens gegen Aufrührer, er


Die Revolution in Brasilien

allezeit bereit, die schwierigsten Pflichten nuf sich zu nehmen, und fest von
ihrer Fähigkeit überzeugt, ohne viel Vorbereitung und Erfahrung mit gutem
Erfolg sich der Leitung des Heerwesens, der Finanzen oder der auswärtigen
Angelegenheiten des Landes zu unterziehen, dem zu dienen ihr alleiniger Ehr¬
geiz ist.

Die Revolution muß selbst eine» großen Teil der Bewohner vou Rio
Janeiro überrascht haben; denn die dortigen Zeitungen berichteten noch vom
15. Oktober über „patriotische" Kundgebungen, die an diesem Tage bei
der Feier eines dreifachen Festes in der Herrscherfamilie, des Geburtstags der
Kaiserin, der silbernen Hochzeit des kronprinzlichen Paares und des Geburts¬
tages des Sohnes desselben, stattfanden, indem den hohen Herrschaften von
der Kaufmannschaft und verschiednen andern Kreisen Adressen, Fackelzüge
und sonstige Huldigungen dargebracht wurden. Noch mehr aber ist ohne
Zweifel das europäische Publikum von den Ereignissen überrascht worden.
Doch haben Kenner der neuesten Geschichte Brasiliens und der dadurch ent-
standnen Stimmung eines Teils der Bevölkerung dieses Reichs die Wahrschein¬
lichkeit einer Revolution wohl längst erkannt, wenn sie auch vermuteten, sie
werde erst nach dem Ableben des Kaisers Dom Pedro zur Thatsache werden,
dem seine tadellosen Eigenschaften und sein vielfach nützliches Wirken eine
Beliebtheit verschafft hatten, die auch der Dhunstie bis zu einem gewissen
Maße zu gute gekommen zu sein schien. Diese Annahmen haben sich als irrig
erwiesen, weil man dabei die Kraft des militärischen Strebertums unterschätzte,
das die vorhandne Mißstimmung über die Aufhebung der Sklaverei im
Reiche für seine Zwecke ausbeutete und damit Eile hatte. Dieses Strebertum,
ein wichtiger, aber schwer zu berechnender Faktor in der Politik aller mittel-
nnd südamerikanischen Staaten, beschleunigte augenscheinlich den Gang der
Krisis, während anderseits die Natur des Kaisers, seine Denkart, seine Lieb¬
lingsinteressen die Gefahr, der er zuletzt erlag, wo nicht schufen, doch wesentlich
verstärkten. Er war mehr ein Mann des Nachdenkens als des Handelns, ein
lnldnngsdurstiger Gelehrter und ein Menschenfreund, ein Staatsmann aber erst in
zweiter Linie und gar kein Soldat, dem Kriege und seinen Werkzeugen vielmehr >
abgeneigt, sodaß er mit seinen Truppen möglichst wenig verkehrte, möglichst wenig
für sie that nud dadurch die Offiziere allmählich sich entfremdete und der Ver¬
führung zugänglich machte, die in Gestalt ehrgeiziger Generale an sie hinan¬
trat. Hätte er bei der Schwäche der brasilianischen Armee auch nur auf
tnnsend treue, entschlossene und wohlgeübte Soldaten zählen können, so wäre
schon der erste Versuch der Meuterer ohne Zweifel rasch vereitelt worden, man
hätte ein Dutzend der schuldigster Verschwörer ans den Sandhaufen geschickt
und erschossen, und die Sache hätte hingereicht, dem Kaiser bis zu seinem Lebens¬
ende den Thron zu sichern. Pedro der Zweite aber hatte keine treuen Sol¬
daten, und er war nicht der Mann kräftigen Vorgehens gegen Aufrührer, er


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[0435] Die Revolution in Brasilien allezeit bereit, die schwierigsten Pflichten nuf sich zu nehmen, und fest von ihrer Fähigkeit überzeugt, ohne viel Vorbereitung und Erfahrung mit gutem Erfolg sich der Leitung des Heerwesens, der Finanzen oder der auswärtigen Angelegenheiten des Landes zu unterziehen, dem zu dienen ihr alleiniger Ehr¬ geiz ist. Die Revolution muß selbst eine» großen Teil der Bewohner vou Rio Janeiro überrascht haben; denn die dortigen Zeitungen berichteten noch vom 15. Oktober über „patriotische" Kundgebungen, die an diesem Tage bei der Feier eines dreifachen Festes in der Herrscherfamilie, des Geburtstags der Kaiserin, der silbernen Hochzeit des kronprinzlichen Paares und des Geburts¬ tages des Sohnes desselben, stattfanden, indem den hohen Herrschaften von der Kaufmannschaft und verschiednen andern Kreisen Adressen, Fackelzüge und sonstige Huldigungen dargebracht wurden. Noch mehr aber ist ohne Zweifel das europäische Publikum von den Ereignissen überrascht worden. Doch haben Kenner der neuesten Geschichte Brasiliens und der dadurch ent- standnen Stimmung eines Teils der Bevölkerung dieses Reichs die Wahrschein¬ lichkeit einer Revolution wohl längst erkannt, wenn sie auch vermuteten, sie werde erst nach dem Ableben des Kaisers Dom Pedro zur Thatsache werden, dem seine tadellosen Eigenschaften und sein vielfach nützliches Wirken eine Beliebtheit verschafft hatten, die auch der Dhunstie bis zu einem gewissen Maße zu gute gekommen zu sein schien. Diese Annahmen haben sich als irrig erwiesen, weil man dabei die Kraft des militärischen Strebertums unterschätzte, das die vorhandne Mißstimmung über die Aufhebung der Sklaverei im Reiche für seine Zwecke ausbeutete und damit Eile hatte. Dieses Strebertum, ein wichtiger, aber schwer zu berechnender Faktor in der Politik aller mittel- nnd südamerikanischen Staaten, beschleunigte augenscheinlich den Gang der Krisis, während anderseits die Natur des Kaisers, seine Denkart, seine Lieb¬ lingsinteressen die Gefahr, der er zuletzt erlag, wo nicht schufen, doch wesentlich verstärkten. Er war mehr ein Mann des Nachdenkens als des Handelns, ein lnldnngsdurstiger Gelehrter und ein Menschenfreund, ein Staatsmann aber erst in zweiter Linie und gar kein Soldat, dem Kriege und seinen Werkzeugen vielmehr > abgeneigt, sodaß er mit seinen Truppen möglichst wenig verkehrte, möglichst wenig für sie that nud dadurch die Offiziere allmählich sich entfremdete und der Ver¬ führung zugänglich machte, die in Gestalt ehrgeiziger Generale an sie hinan¬ trat. Hätte er bei der Schwäche der brasilianischen Armee auch nur auf tnnsend treue, entschlossene und wohlgeübte Soldaten zählen können, so wäre schon der erste Versuch der Meuterer ohne Zweifel rasch vereitelt worden, man hätte ein Dutzend der schuldigster Verschwörer ans den Sandhaufen geschickt und erschossen, und die Sache hätte hingereicht, dem Kaiser bis zu seinem Lebens¬ ende den Thron zu sichern. Pedro der Zweite aber hatte keine treuen Sol¬ daten, und er war nicht der Mann kräftigen Vorgehens gegen Aufrührer, er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/435>, abgerufen am 04.07.2024.