Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.guten Sprechen erziehen, und dies setzte wieder das volle Verständnis des guten Sprechen erziehen, und dies setzte wieder das volle Verständnis des <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0332" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206331"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1092" prev="#ID_1091" next="#ID_1093"> guten Sprechen erziehen, und dies setzte wieder das volle Verständnis des<lb/> darzustellenden Dramas und seines Dichters voraus. Er mußte also zuvörderst<lb/> in einem Vortrage seinen Künstlern das Werk erklären, beleuchten, analysiren —<lb/> Muster dramaturgischer Kritik, die Fellner mit Recht vollständig abgedruckt hat.<lb/> Bei Shakespeare, Calderon, ja auch bei Schiller und seinen eignen Werken<lb/> hatte er die Aufgabe, die Dramen für die Bühne einzurichten, umzuarbeiten,<lb/> ihr anzupassen. Ämter, die heutzutage an jedem größern Theater verschiednen<lb/> Personen zufallen, füllte er alle selbst aus. Auch die Kasfenführung, den<lb/> Verkehr mit dem Verwaltungsrat der Aktiengesellschaft hatte er zu besorgen.<lb/> Die meiste Sorgfalt verwendete Immermann auf das gute Zusammenspiel seiner<lb/> Truppe. Da sein Unternehmen sparsam mit dem Gelde umgehen mußte, so<lb/> war ihm manche erste Kraft zu teuer; er mußte junge, begabte, aber billigere<lb/> Künstler sich erst erziehen. Das verringerte nicht die Arbeit, aber es war<lb/> ihm gerade recht, da die ersten Kräfte nur zu oft aus dem Zusammenspiel<lb/> herauszutreten strebten, was er ganz vermeiden wollte. Das Ideal der Schau¬<lb/> spielkunst lag ihm in der Mitte der beiden großen Traditionen Goethes und<lb/> Schröters. Goethe legte das Hauptgewicht auf die kunstvolle, gehobene,<lb/> poetische Sprechweise, das mimische Spiel sollte gerade nur auf die notwendige<lb/> Begleitung der Rede beschränkt bleiben; Schröder war realistischer, ihm stand<lb/> die körperliche Beweglichkeit des Schauspielers in erster Reihe. Beide Schulen<lb/> waren im Verfall: die akademische war ins Deklamiren geraten, die realistische<lb/> ins übertriebene Nachahmen der Wirklichkeit. Für Immermann war es aber<lb/> Grundgesetz, das Spiel dem künstlerischen Charakter der Dichtung anzupassen.<lb/> In allererster Linie stand ihm die aus dem reinsten Verständnis der dichterischen<lb/> Absicht getroffene Wahl des Grundtons in der szenischen Darstellung. Calderon<lb/> mußte anders als Shakespeare gespielt werden: dort mußte die Rede poetischer,<lb/> hier die Mimik und Bewegung realistischer behandelt werden. Die Vorwürfe,<lb/> die Devrient gegen Immermann erhebt, indem er seine Pflege der Sprechkunst<lb/> tadelt, weist Fellner als durchaus ungerechtfertigt und auf Mißverständnis<lb/> Jmmermannschcr Äußerungen beruhend zurück. Er weist auch zutreffend nach,<lb/> daß Laube, der angesehenste Dramaturg und Begründer des Burgtheaterruhmes,<lb/> keine andern Grundsätze als die Immermanns gehabt hat. Laube ist in der<lb/> That diesem Vorgänger weitaus gerechter als alle seine andern Beurteiler<lb/> geworden. Und für den unbefangnen Leser werden alle dramaturgischen Ver¬<lb/> ordnungen Immermanns, die uns Fellner mitteilt, wie etwas selbstverständliches,<lb/> gegenwärtig allgemein übliches und anerkanntes erscheinen, sodaß es wirklich<lb/> zu verwundern ist, warum dem Dichter noch immer der böse Ruf des „ge¬<lb/> lehrten" Theaterdirektors im Gegensatz zum „praktischen" anhängt. Nur mit<lb/> der unglücklichen Formel, die Fellner für Immermanns dramaturgische Grund¬<lb/> sätze gefunden hat, können wir uns nicht befreunden. „Ein geläuterter Natu¬<lb/> ralismus tritt uns auf seiner Bühne entgegen," sagt Fellner. So darf man</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0332]
guten Sprechen erziehen, und dies setzte wieder das volle Verständnis des
darzustellenden Dramas und seines Dichters voraus. Er mußte also zuvörderst
in einem Vortrage seinen Künstlern das Werk erklären, beleuchten, analysiren —
Muster dramaturgischer Kritik, die Fellner mit Recht vollständig abgedruckt hat.
Bei Shakespeare, Calderon, ja auch bei Schiller und seinen eignen Werken
hatte er die Aufgabe, die Dramen für die Bühne einzurichten, umzuarbeiten,
ihr anzupassen. Ämter, die heutzutage an jedem größern Theater verschiednen
Personen zufallen, füllte er alle selbst aus. Auch die Kasfenführung, den
Verkehr mit dem Verwaltungsrat der Aktiengesellschaft hatte er zu besorgen.
Die meiste Sorgfalt verwendete Immermann auf das gute Zusammenspiel seiner
Truppe. Da sein Unternehmen sparsam mit dem Gelde umgehen mußte, so
war ihm manche erste Kraft zu teuer; er mußte junge, begabte, aber billigere
Künstler sich erst erziehen. Das verringerte nicht die Arbeit, aber es war
ihm gerade recht, da die ersten Kräfte nur zu oft aus dem Zusammenspiel
herauszutreten strebten, was er ganz vermeiden wollte. Das Ideal der Schau¬
spielkunst lag ihm in der Mitte der beiden großen Traditionen Goethes und
Schröters. Goethe legte das Hauptgewicht auf die kunstvolle, gehobene,
poetische Sprechweise, das mimische Spiel sollte gerade nur auf die notwendige
Begleitung der Rede beschränkt bleiben; Schröder war realistischer, ihm stand
die körperliche Beweglichkeit des Schauspielers in erster Reihe. Beide Schulen
waren im Verfall: die akademische war ins Deklamiren geraten, die realistische
ins übertriebene Nachahmen der Wirklichkeit. Für Immermann war es aber
Grundgesetz, das Spiel dem künstlerischen Charakter der Dichtung anzupassen.
In allererster Linie stand ihm die aus dem reinsten Verständnis der dichterischen
Absicht getroffene Wahl des Grundtons in der szenischen Darstellung. Calderon
mußte anders als Shakespeare gespielt werden: dort mußte die Rede poetischer,
hier die Mimik und Bewegung realistischer behandelt werden. Die Vorwürfe,
die Devrient gegen Immermann erhebt, indem er seine Pflege der Sprechkunst
tadelt, weist Fellner als durchaus ungerechtfertigt und auf Mißverständnis
Jmmermannschcr Äußerungen beruhend zurück. Er weist auch zutreffend nach,
daß Laube, der angesehenste Dramaturg und Begründer des Burgtheaterruhmes,
keine andern Grundsätze als die Immermanns gehabt hat. Laube ist in der
That diesem Vorgänger weitaus gerechter als alle seine andern Beurteiler
geworden. Und für den unbefangnen Leser werden alle dramaturgischen Ver¬
ordnungen Immermanns, die uns Fellner mitteilt, wie etwas selbstverständliches,
gegenwärtig allgemein übliches und anerkanntes erscheinen, sodaß es wirklich
zu verwundern ist, warum dem Dichter noch immer der böse Ruf des „ge¬
lehrten" Theaterdirektors im Gegensatz zum „praktischen" anhängt. Nur mit
der unglücklichen Formel, die Fellner für Immermanns dramaturgische Grund¬
sätze gefunden hat, können wir uns nicht befreunden. „Ein geläuterter Natu¬
ralismus tritt uns auf seiner Bühne entgegen," sagt Fellner. So darf man
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