Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der 'Kaiser in Sonini und Athen

die der Sultan diesem Volke gewährt hat, es nicht befriedigt, sondern nur die
Begierde geweckt hat, vollständig unabhängig zu werden, was übrigens nnr
von den christlichen, nicht von den muhammedanischen Kretern gilt, obwohl
anch diese griechisch sprechen. Ein solches Verlangen ist überall die Folge
örtlicher Autonomie bei Provinzen, denen sie verliehen wird. Rumänien und
Serbien begannen mit lokaler Selbstregierung und endigten mit gänzlicher
Unabhängigkeit. Bulgarien ist ans dem Wege dahin. Ein autonomes Groß-
herzogtnm Posen würde nach Losreißung vou der preußischen Monarchie streben,
und Irland wäre vermutlich schon dabei, sich in eine unabhängig neben Eng¬
land bestehende Republik zu verwandeln, wenn Gladstone es mit seinem Uorno
ü.ni(j hätte beglücken dürfen.

Wir kommen nur zu eiuer entgegengesetzten Reihe von Gerüchten und
Behauptungen -- entgegengesetzt, weil sie, wenn überhaupt ernsthaft gemeint,
mit ihrem Inhalte zu deu Maßregeln gehören würden, die der Erhaltung des
Friedens dienen sollen. Sie knüpfen sich an die Reise unsers Kaisers in den
levantinischen Gewässern, an seinen Besuch in Athen und seinen Abstecher nach
der Snltanstadt am Goldner Horn und laufen ans nichts Geringeres hinaus
als darauf, daß der Kaiser dabei die Absicht verfolgt habe, die Pforte zum
Beitritt zum Dreibünde zu bewegen, nach andrer weisen Thebaner Meinung
auch deu Basileus der Hellenen. Das letztere dem Glauben des Publikums
zuzumuten, ist geradezu eine UnHöflichkeit, denn anch der Unwissendste und
Leichtgläubigste muß sich erinnern, daß die Türken und die Griechen als natür¬
liche Geguer unter keinerlei Umständen Bundesgenossen werden können. Aber
auch die andre angebliche Absicht zerfällt bei einiger Überlegung so sehr in
nichts, daß es kaum der Mühe verlohnte, sie als unglaublich zu erweisen,
wenn sie nicht wochenlang in der gesamten europäischen Presse immer wieder¬
gekehrt wäre, und wenn wir nicht annehmen dürften, daß die betreffenden Be¬
richte in den vielen Kreise,?, die ohne eignes Urteil sich dein ihrer Leibzeitung
anzuschließen Pflegen, vollen Glauben gefunden hätten oder doch als sehr
wahrscheinlich vorgekommen wären. Zunächst spricht doch Wohl gegen eine
solche Absicht, daß mau sie nicht an die große Glocke gehängt haben, d. h. daß
man sie nicht dnrch einen großen, die Augen aller Welt ans sich lenkenden
Zug des Kaisers verfolgt haben würde. Das wäre nicht notwendig und nichts
weniger als klug gewesen. Dann aber spricht zunächst folgendes fehr entschieden
gegen die Sache. Wollte die Pforte dem dreiköpfigen Friedensbunde beitreten,
so würde die gesamte Streitkraft der drei Großmächte als mittelbare Bürg¬
schaft für die Unverletzlichst des Gebietes des Sultans in Asien sowohl als
in Europa wirken; denn obwohl die einzelnen Bedingungen, unter denen der
Bund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn und später mit Italien ab¬
geschlossen worden ist, und die Pflichten, die er seinen Gliedern gegen einander
auferlegt, noch hente nicht an die Öffentlichkeit gedrungen sind, ist es doch


Der 'Kaiser in Sonini und Athen

die der Sultan diesem Volke gewährt hat, es nicht befriedigt, sondern nur die
Begierde geweckt hat, vollständig unabhängig zu werden, was übrigens nnr
von den christlichen, nicht von den muhammedanischen Kretern gilt, obwohl
anch diese griechisch sprechen. Ein solches Verlangen ist überall die Folge
örtlicher Autonomie bei Provinzen, denen sie verliehen wird. Rumänien und
Serbien begannen mit lokaler Selbstregierung und endigten mit gänzlicher
Unabhängigkeit. Bulgarien ist ans dem Wege dahin. Ein autonomes Groß-
herzogtnm Posen würde nach Losreißung vou der preußischen Monarchie streben,
und Irland wäre vermutlich schon dabei, sich in eine unabhängig neben Eng¬
land bestehende Republik zu verwandeln, wenn Gladstone es mit seinem Uorno
ü.ni(j hätte beglücken dürfen.

Wir kommen nur zu eiuer entgegengesetzten Reihe von Gerüchten und
Behauptungen — entgegengesetzt, weil sie, wenn überhaupt ernsthaft gemeint,
mit ihrem Inhalte zu deu Maßregeln gehören würden, die der Erhaltung des
Friedens dienen sollen. Sie knüpfen sich an die Reise unsers Kaisers in den
levantinischen Gewässern, an seinen Besuch in Athen und seinen Abstecher nach
der Snltanstadt am Goldner Horn und laufen ans nichts Geringeres hinaus
als darauf, daß der Kaiser dabei die Absicht verfolgt habe, die Pforte zum
Beitritt zum Dreibünde zu bewegen, nach andrer weisen Thebaner Meinung
auch deu Basileus der Hellenen. Das letztere dem Glauben des Publikums
zuzumuten, ist geradezu eine UnHöflichkeit, denn anch der Unwissendste und
Leichtgläubigste muß sich erinnern, daß die Türken und die Griechen als natür¬
liche Geguer unter keinerlei Umständen Bundesgenossen werden können. Aber
auch die andre angebliche Absicht zerfällt bei einiger Überlegung so sehr in
nichts, daß es kaum der Mühe verlohnte, sie als unglaublich zu erweisen,
wenn sie nicht wochenlang in der gesamten europäischen Presse immer wieder¬
gekehrt wäre, und wenn wir nicht annehmen dürften, daß die betreffenden Be¬
richte in den vielen Kreise,?, die ohne eignes Urteil sich dein ihrer Leibzeitung
anzuschließen Pflegen, vollen Glauben gefunden hätten oder doch als sehr
wahrscheinlich vorgekommen wären. Zunächst spricht doch Wohl gegen eine
solche Absicht, daß mau sie nicht an die große Glocke gehängt haben, d. h. daß
man sie nicht dnrch einen großen, die Augen aller Welt ans sich lenkenden
Zug des Kaisers verfolgt haben würde. Das wäre nicht notwendig und nichts
weniger als klug gewesen. Dann aber spricht zunächst folgendes fehr entschieden
gegen die Sache. Wollte die Pforte dem dreiköpfigen Friedensbunde beitreten,
so würde die gesamte Streitkraft der drei Großmächte als mittelbare Bürg¬
schaft für die Unverletzlichst des Gebietes des Sultans in Asien sowohl als
in Europa wirken; denn obwohl die einzelnen Bedingungen, unter denen der
Bund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn und später mit Italien ab¬
geschlossen worden ist, und die Pflichten, die er seinen Gliedern gegen einander
auferlegt, noch hente nicht an die Öffentlichkeit gedrungen sind, ist es doch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0259" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206258"/>
          <fw type="header" place="top"> Der 'Kaiser in Sonini und Athen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_886" prev="#ID_885"> die der Sultan diesem Volke gewährt hat, es nicht befriedigt, sondern nur die<lb/>
Begierde geweckt hat, vollständig unabhängig zu werden, was übrigens nnr<lb/>
von den christlichen, nicht von den muhammedanischen Kretern gilt, obwohl<lb/>
anch diese griechisch sprechen. Ein solches Verlangen ist überall die Folge<lb/>
örtlicher Autonomie bei Provinzen, denen sie verliehen wird. Rumänien und<lb/>
Serbien begannen mit lokaler Selbstregierung und endigten mit gänzlicher<lb/>
Unabhängigkeit. Bulgarien ist ans dem Wege dahin. Ein autonomes Groß-<lb/>
herzogtnm Posen würde nach Losreißung vou der preußischen Monarchie streben,<lb/>
und Irland wäre vermutlich schon dabei, sich in eine unabhängig neben Eng¬<lb/>
land bestehende Republik zu verwandeln, wenn Gladstone es mit seinem Uorno<lb/>
ü.ni(j hätte beglücken dürfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_887" next="#ID_888"> Wir kommen nur zu eiuer entgegengesetzten Reihe von Gerüchten und<lb/>
Behauptungen &#x2014; entgegengesetzt, weil sie, wenn überhaupt ernsthaft gemeint,<lb/>
mit ihrem Inhalte zu deu Maßregeln gehören würden, die der Erhaltung des<lb/>
Friedens dienen sollen. Sie knüpfen sich an die Reise unsers Kaisers in den<lb/>
levantinischen Gewässern, an seinen Besuch in Athen und seinen Abstecher nach<lb/>
der Snltanstadt am Goldner Horn und laufen ans nichts Geringeres hinaus<lb/>
als darauf, daß der Kaiser dabei die Absicht verfolgt habe, die Pforte zum<lb/>
Beitritt zum Dreibünde zu bewegen, nach andrer weisen Thebaner Meinung<lb/>
auch deu Basileus der Hellenen. Das letztere dem Glauben des Publikums<lb/>
zuzumuten, ist geradezu eine UnHöflichkeit, denn anch der Unwissendste und<lb/>
Leichtgläubigste muß sich erinnern, daß die Türken und die Griechen als natür¬<lb/>
liche Geguer unter keinerlei Umständen Bundesgenossen werden können. Aber<lb/>
auch die andre angebliche Absicht zerfällt bei einiger Überlegung so sehr in<lb/>
nichts, daß es kaum der Mühe verlohnte, sie als unglaublich zu erweisen,<lb/>
wenn sie nicht wochenlang in der gesamten europäischen Presse immer wieder¬<lb/>
gekehrt wäre, und wenn wir nicht annehmen dürften, daß die betreffenden Be¬<lb/>
richte in den vielen Kreise,?, die ohne eignes Urteil sich dein ihrer Leibzeitung<lb/>
anzuschließen Pflegen, vollen Glauben gefunden hätten oder doch als sehr<lb/>
wahrscheinlich vorgekommen wären. Zunächst spricht doch Wohl gegen eine<lb/>
solche Absicht, daß mau sie nicht an die große Glocke gehängt haben, d. h. daß<lb/>
man sie nicht dnrch einen großen, die Augen aller Welt ans sich lenkenden<lb/>
Zug des Kaisers verfolgt haben würde. Das wäre nicht notwendig und nichts<lb/>
weniger als klug gewesen. Dann aber spricht zunächst folgendes fehr entschieden<lb/>
gegen die Sache. Wollte die Pforte dem dreiköpfigen Friedensbunde beitreten,<lb/>
so würde die gesamte Streitkraft der drei Großmächte als mittelbare Bürg¬<lb/>
schaft für die Unverletzlichst des Gebietes des Sultans in Asien sowohl als<lb/>
in Europa wirken; denn obwohl die einzelnen Bedingungen, unter denen der<lb/>
Bund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn und später mit Italien ab¬<lb/>
geschlossen worden ist, und die Pflichten, die er seinen Gliedern gegen einander<lb/>
auferlegt, noch hente nicht an die Öffentlichkeit gedrungen sind, ist es doch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0259] Der 'Kaiser in Sonini und Athen die der Sultan diesem Volke gewährt hat, es nicht befriedigt, sondern nur die Begierde geweckt hat, vollständig unabhängig zu werden, was übrigens nnr von den christlichen, nicht von den muhammedanischen Kretern gilt, obwohl anch diese griechisch sprechen. Ein solches Verlangen ist überall die Folge örtlicher Autonomie bei Provinzen, denen sie verliehen wird. Rumänien und Serbien begannen mit lokaler Selbstregierung und endigten mit gänzlicher Unabhängigkeit. Bulgarien ist ans dem Wege dahin. Ein autonomes Groß- herzogtnm Posen würde nach Losreißung vou der preußischen Monarchie streben, und Irland wäre vermutlich schon dabei, sich in eine unabhängig neben Eng¬ land bestehende Republik zu verwandeln, wenn Gladstone es mit seinem Uorno ü.ni(j hätte beglücken dürfen. Wir kommen nur zu eiuer entgegengesetzten Reihe von Gerüchten und Behauptungen — entgegengesetzt, weil sie, wenn überhaupt ernsthaft gemeint, mit ihrem Inhalte zu deu Maßregeln gehören würden, die der Erhaltung des Friedens dienen sollen. Sie knüpfen sich an die Reise unsers Kaisers in den levantinischen Gewässern, an seinen Besuch in Athen und seinen Abstecher nach der Snltanstadt am Goldner Horn und laufen ans nichts Geringeres hinaus als darauf, daß der Kaiser dabei die Absicht verfolgt habe, die Pforte zum Beitritt zum Dreibünde zu bewegen, nach andrer weisen Thebaner Meinung auch deu Basileus der Hellenen. Das letztere dem Glauben des Publikums zuzumuten, ist geradezu eine UnHöflichkeit, denn anch der Unwissendste und Leichtgläubigste muß sich erinnern, daß die Türken und die Griechen als natür¬ liche Geguer unter keinerlei Umständen Bundesgenossen werden können. Aber auch die andre angebliche Absicht zerfällt bei einiger Überlegung so sehr in nichts, daß es kaum der Mühe verlohnte, sie als unglaublich zu erweisen, wenn sie nicht wochenlang in der gesamten europäischen Presse immer wieder¬ gekehrt wäre, und wenn wir nicht annehmen dürften, daß die betreffenden Be¬ richte in den vielen Kreise,?, die ohne eignes Urteil sich dein ihrer Leibzeitung anzuschließen Pflegen, vollen Glauben gefunden hätten oder doch als sehr wahrscheinlich vorgekommen wären. Zunächst spricht doch Wohl gegen eine solche Absicht, daß mau sie nicht an die große Glocke gehängt haben, d. h. daß man sie nicht dnrch einen großen, die Augen aller Welt ans sich lenkenden Zug des Kaisers verfolgt haben würde. Das wäre nicht notwendig und nichts weniger als klug gewesen. Dann aber spricht zunächst folgendes fehr entschieden gegen die Sache. Wollte die Pforte dem dreiköpfigen Friedensbunde beitreten, so würde die gesamte Streitkraft der drei Großmächte als mittelbare Bürg¬ schaft für die Unverletzlichst des Gebietes des Sultans in Asien sowohl als in Europa wirken; denn obwohl die einzelnen Bedingungen, unter denen der Bund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn und später mit Italien ab¬ geschlossen worden ist, und die Pflichten, die er seinen Gliedern gegen einander auferlegt, noch hente nicht an die Öffentlichkeit gedrungen sind, ist es doch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/259
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/259>, abgerufen am 22.12.2024.