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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

poe-sis sviLiitillciuo --, die Seele eines Dichters zu bewegen, seine Phantasie
anzufeuern, ihn ans platten und gemeinen Alltäglichkeiten herauszuziehen, als
die verständnisvolle Betrachtung des Weltalls durch die Werke oder Unter¬
weisungen der Gelehrten, als das beständig wachsende Erkennen der Erschei-
nungswelt, das sich in dem Maße erweitert wie unsre BeobnchtungSwerkzeilge
zuverlässiger und feiner werden, wie unsre Erfahrung, durch die Berechnung
unterstützt, die Grenzen des Raumes und des Lebens in die sinnliche An-
schauung verlegt! Jede Entdeckung ist gleichsam eine ungeahnte Offenbarung
der Einheit, die durch die Mannichfaltigkeit und selbst durch deu offenbaren
Widerspruch der Erscheinungen hindurchschimmert. Die Gesetze scheinen uns
die unzerstörbarem Elemente des göttlichen Gewebes der Dinge zu sein. Giebt
es hier nicht einen unerschöpflichen Stoff sur die Poesie?

Es ist richtig, jede wissenschaftliche Hhpvthese, jede philosophische Lehre
steht immer mit einem Fuße auf dein Boden der Dichtung; wer an jene mit
dichterischem Genius tritt, dein wird sich sofort ein unabsehbares Gebiet gro߬
artiger Gedanken erschließen, eine Fülle innerer dramatischer Kämpfe zwischen
liebgewvrdnen Ideen und unbegnemen Wahrheiten, zwischen alten Dogmen und
neuen Weltanschauungen.

Diese Gedanken mußten vorausgeschickt werdeu, um die Stellung zu wür¬
digen, die Sully-Prndhomme in der Entwicklungsgeschichte der französischen
Litteratur einnimmt.

Smith-Prndhomme, seit acht Jahren Mitglied der französischen Akademie,
wurde l3.'Z9 in Paris geboren. Seine Jugendbildung war vielseitig; er be¬
suchte die l"!(zolo pnlytLvllniciuo, studirte Mathematik, machte dann sein Imoczg.-
Inureg-t ist-tres, trat in die l^ovi" alö etroit und widmete sich neben seinen
Rechtsstudien mit aller Kraft der Philosophie. Im Jahre 1805 erschienen
seine ersten Dichtungen LKmoes ot, ?von<Z8, in denen er sofort neue Bahnen
einschlug. Bezeichnend für seine selbständige Richtung, die der Poesie ganz
neue Stoffe zuführen will, sind die Verse:


IÄ hos <:I>!Uns, xour Mu-iiöi'g,
Z>s'or>1)-ils iias ig seisnoo u,nx svvvros boantös,
1'outo I'Iiiktoiro Jima!nun> <z<^ ig. n^er^o vull"ro.

Noch deutlicher tritt dieses Streben nach tieferer philosophischer Lebens-
auffassung in den ^xreuvö" (1866) hervor. Liebe, Zweifel, Träumerei und
Thätigkeit gelten ihm als die vier Bewegnngsrichtungen der menschlichen Seele;
mit überraschender Feinheit und psychologischem. Scharfblick weiß der Dichter
in diesen Sonetten die dunkle Tiefe des innern Lebens zu ergründen. In dem
vierten Teile, wo er die Thätigkeit als erlösende Macht preist, und die Errungen-
schaften deS menschlichen Geistes in dithyrambischein Schwunge feiert, wird er
ganz, wie ihn I^vumitrö nennt, ingvnisur-poötö. Er besingt die Schnelligkeit


Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

poe-sis sviLiitillciuo —, die Seele eines Dichters zu bewegen, seine Phantasie
anzufeuern, ihn ans platten und gemeinen Alltäglichkeiten herauszuziehen, als
die verständnisvolle Betrachtung des Weltalls durch die Werke oder Unter¬
weisungen der Gelehrten, als das beständig wachsende Erkennen der Erschei-
nungswelt, das sich in dem Maße erweitert wie unsre BeobnchtungSwerkzeilge
zuverlässiger und feiner werden, wie unsre Erfahrung, durch die Berechnung
unterstützt, die Grenzen des Raumes und des Lebens in die sinnliche An-
schauung verlegt! Jede Entdeckung ist gleichsam eine ungeahnte Offenbarung
der Einheit, die durch die Mannichfaltigkeit und selbst durch deu offenbaren
Widerspruch der Erscheinungen hindurchschimmert. Die Gesetze scheinen uns
die unzerstörbarem Elemente des göttlichen Gewebes der Dinge zu sein. Giebt
es hier nicht einen unerschöpflichen Stoff sur die Poesie?

Es ist richtig, jede wissenschaftliche Hhpvthese, jede philosophische Lehre
steht immer mit einem Fuße auf dein Boden der Dichtung; wer an jene mit
dichterischem Genius tritt, dein wird sich sofort ein unabsehbares Gebiet gro߬
artiger Gedanken erschließen, eine Fülle innerer dramatischer Kämpfe zwischen
liebgewvrdnen Ideen und unbegnemen Wahrheiten, zwischen alten Dogmen und
neuen Weltanschauungen.

Diese Gedanken mußten vorausgeschickt werdeu, um die Stellung zu wür¬
digen, die Sully-Prndhomme in der Entwicklungsgeschichte der französischen
Litteratur einnimmt.

Smith-Prndhomme, seit acht Jahren Mitglied der französischen Akademie,
wurde l3.'Z9 in Paris geboren. Seine Jugendbildung war vielseitig; er be¬
suchte die l«!(zolo pnlytLvllniciuo, studirte Mathematik, machte dann sein Imoczg.-
Inureg-t ist-tres, trat in die l^ovi» alö etroit und widmete sich neben seinen
Rechtsstudien mit aller Kraft der Philosophie. Im Jahre 1805 erschienen
seine ersten Dichtungen LKmoes ot, ?von<Z8, in denen er sofort neue Bahnen
einschlug. Bezeichnend für seine selbständige Richtung, die der Poesie ganz
neue Stoffe zuführen will, sind die Verse:


IÄ hos <:I>!Uns, xour Mu-iiöi'g,
Z>s'or>1)-ils iias ig seisnoo u,nx svvvros boantös,
1'outo I'Iiiktoiro Jima!nun> <z<^ ig. n^er^o vull«ro.

Noch deutlicher tritt dieses Streben nach tieferer philosophischer Lebens-
auffassung in den ^xreuvö» (1866) hervor. Liebe, Zweifel, Träumerei und
Thätigkeit gelten ihm als die vier Bewegnngsrichtungen der menschlichen Seele;
mit überraschender Feinheit und psychologischem. Scharfblick weiß der Dichter
in diesen Sonetten die dunkle Tiefe des innern Lebens zu ergründen. In dem
vierten Teile, wo er die Thätigkeit als erlösende Macht preist, und die Errungen-
schaften deS menschlichen Geistes in dithyrambischein Schwunge feiert, wird er
ganz, wie ihn I^vumitrö nennt, ingvnisur-poötö. Er besingt die Schnelligkeit


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[0024] Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart poe-sis sviLiitillciuo —, die Seele eines Dichters zu bewegen, seine Phantasie anzufeuern, ihn ans platten und gemeinen Alltäglichkeiten herauszuziehen, als die verständnisvolle Betrachtung des Weltalls durch die Werke oder Unter¬ weisungen der Gelehrten, als das beständig wachsende Erkennen der Erschei- nungswelt, das sich in dem Maße erweitert wie unsre BeobnchtungSwerkzeilge zuverlässiger und feiner werden, wie unsre Erfahrung, durch die Berechnung unterstützt, die Grenzen des Raumes und des Lebens in die sinnliche An- schauung verlegt! Jede Entdeckung ist gleichsam eine ungeahnte Offenbarung der Einheit, die durch die Mannichfaltigkeit und selbst durch deu offenbaren Widerspruch der Erscheinungen hindurchschimmert. Die Gesetze scheinen uns die unzerstörbarem Elemente des göttlichen Gewebes der Dinge zu sein. Giebt es hier nicht einen unerschöpflichen Stoff sur die Poesie? Es ist richtig, jede wissenschaftliche Hhpvthese, jede philosophische Lehre steht immer mit einem Fuße auf dein Boden der Dichtung; wer an jene mit dichterischem Genius tritt, dein wird sich sofort ein unabsehbares Gebiet gro߬ artiger Gedanken erschließen, eine Fülle innerer dramatischer Kämpfe zwischen liebgewvrdnen Ideen und unbegnemen Wahrheiten, zwischen alten Dogmen und neuen Weltanschauungen. Diese Gedanken mußten vorausgeschickt werdeu, um die Stellung zu wür¬ digen, die Sully-Prndhomme in der Entwicklungsgeschichte der französischen Litteratur einnimmt. Smith-Prndhomme, seit acht Jahren Mitglied der französischen Akademie, wurde l3.'Z9 in Paris geboren. Seine Jugendbildung war vielseitig; er be¬ suchte die l«!(zolo pnlytLvllniciuo, studirte Mathematik, machte dann sein Imoczg.- Inureg-t ist-tres, trat in die l^ovi» alö etroit und widmete sich neben seinen Rechtsstudien mit aller Kraft der Philosophie. Im Jahre 1805 erschienen seine ersten Dichtungen LKmoes ot, ?von<Z8, in denen er sofort neue Bahnen einschlug. Bezeichnend für seine selbständige Richtung, die der Poesie ganz neue Stoffe zuführen will, sind die Verse: IÄ hos <:I>!Uns, xour Mu-iiöi'g, Z>s'or>1)-ils iias ig seisnoo u,nx svvvros boantös, 1'outo I'Iiiktoiro Jima!nun> <z<^ ig. n^er^o vull«ro. Noch deutlicher tritt dieses Streben nach tieferer philosophischer Lebens- auffassung in den ^xreuvö» (1866) hervor. Liebe, Zweifel, Träumerei und Thätigkeit gelten ihm als die vier Bewegnngsrichtungen der menschlichen Seele; mit überraschender Feinheit und psychologischem. Scharfblick weiß der Dichter in diesen Sonetten die dunkle Tiefe des innern Lebens zu ergründen. In dem vierten Teile, wo er die Thätigkeit als erlösende Macht preist, und die Errungen- schaften deS menschlichen Geistes in dithyrambischein Schwunge feiert, wird er ganz, wie ihn I^vumitrö nennt, ingvnisur-poötö. Er besingt die Schnelligkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/24>, abgerufen am 22.07.2024.