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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Wichtigen Teiles der Philosophie beigetragen haben. Kant, Schelling, Hegel
gelten ihnen noch immer als die konäg-tsurs 6s l'gLtkwtia.no, ani clspul8 eux
n'Ä xg,s fg.it un p^8.

Es ist notwendig, auf die Eigentümlichkeiten der französischen Philosophie
unsers Jahrhunderts näher einzugehen und die sich daraus ergebenden allge¬
meinen Gesichtspunkte festzustellen, wenn nur das dichterische Schaffen Sully-
Prudhvnunes verstehen wollen.

Kein französischer Denker, außer Lamennais, hat den Versuch gemacht,
alle Zweige der Philosophie im Zusammenhange zu behandeln. Weder die
Sensualisteu, wie Cabanis und Brvussais, noch die Spiritualisteu, wie Cousin
nud Jeosfroy, noch die sozialistischen und theologischen Vertreter sind über
Einzeluntersuchungen hinausgekommen. Die Gesamtheit aller philosophischen
Gesichtspunkte über Gott, Welt und Mensch einheitlich zusammenzufassen, wie
es die Deutschen in ihren "Systeme"" gethan haben, ist bei den Franzosen
eine ungelöste Aufgabe geblieben. Ja selbst den eignen Systemen siud die fran¬
zösischen Philosophen nicht treu geblieben, wie Paul Jnnet in seiner Abhandlung
nachgewiesen hat: l^g plnlosopluv as l^iuvnimi.8 (lisvruz ciss äeux Noucles vom
15. März 1889). Cousin ging vom. deutschen Pantheismus zum spiritualistischen
und kartesianischen Theismus über, Comite von seiner objektiven, rein Uüsseu-
schaftlichen Weltauffassilug zu einer sentimentalen und religiösen Richtung,
Lamennais von einer theologischen zu einer rein philosophische,! Betrachtungs¬
weise. Dieser SystenNvechsel ist eine sehr beachtenswerte Erscheinung, die mich
auf das litterarische Leben unbedingt zurückwirken müszte. Die Gründe dafür
können nur zum Teil in den Einwirkungen des Auslandes oder in der eigen¬
artigen Anlage des Philosophen gesucht werden.

Taine führt die ganze sich überstürzende Entwicklung der französischen
Philosophie, in der sich kein System ganz ausleben konnte, geradezu auf die
geschichtlichen und politischen Ereignisse zurück, die das ganze geistige Leben
Frankreichs mit fieberhafter Gewalt bald nach der, bald nach jener Richtung
fortgerissen habe; der kathvlisirende Spiritualismus der zwanziger Jahre sei
nur eine Folge der das hierarchische Wesen begünstigenden Bvnrbonenherrschaft
gewesen; die nach dein susts luilisn strebende Regierungsform des Juli-König-
tums habe den Eklektizismus großgezogen; durch die auf nüchterner Realpolitik
ruhenden Bestrebungen des zweiten Kaiserreiches sei eine völlige Abneigung
gegen alle abstrakten Spekulationen hervorgerufen und die ganze Geistesrichtung
in eine rein empirische Auffassung, den Positivismus, hineingeleitet worden.

Wenn aber im Kulturleben eines Volkes zwei so gewaltige Mächte wie
die Politik und die Philosophie fortwährend in ihren Grundsätzen, Mitteln
und Zielen hin und herschwanken, dann können wir schlechterdings anch von
der Litteratur nicht verlangen, daß sie in so bewegten Zeitläuften eine ruhige
Entwicklung aufweise. Der litterarische Geschmack ändert sich denn auch that-


Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Wichtigen Teiles der Philosophie beigetragen haben. Kant, Schelling, Hegel
gelten ihnen noch immer als die konäg-tsurs 6s l'gLtkwtia.no, ani clspul8 eux
n'Ä xg,s fg.it un p^8.

Es ist notwendig, auf die Eigentümlichkeiten der französischen Philosophie
unsers Jahrhunderts näher einzugehen und die sich daraus ergebenden allge¬
meinen Gesichtspunkte festzustellen, wenn nur das dichterische Schaffen Sully-
Prudhvnunes verstehen wollen.

Kein französischer Denker, außer Lamennais, hat den Versuch gemacht,
alle Zweige der Philosophie im Zusammenhange zu behandeln. Weder die
Sensualisteu, wie Cabanis und Brvussais, noch die Spiritualisteu, wie Cousin
nud Jeosfroy, noch die sozialistischen und theologischen Vertreter sind über
Einzeluntersuchungen hinausgekommen. Die Gesamtheit aller philosophischen
Gesichtspunkte über Gott, Welt und Mensch einheitlich zusammenzufassen, wie
es die Deutschen in ihren „Systeme»" gethan haben, ist bei den Franzosen
eine ungelöste Aufgabe geblieben. Ja selbst den eignen Systemen siud die fran¬
zösischen Philosophen nicht treu geblieben, wie Paul Jnnet in seiner Abhandlung
nachgewiesen hat: l^g plnlosopluv as l^iuvnimi.8 (lisvruz ciss äeux Noucles vom
15. März 1889). Cousin ging vom. deutschen Pantheismus zum spiritualistischen
und kartesianischen Theismus über, Comite von seiner objektiven, rein Uüsseu-
schaftlichen Weltauffassilug zu einer sentimentalen und religiösen Richtung,
Lamennais von einer theologischen zu einer rein philosophische,! Betrachtungs¬
weise. Dieser SystenNvechsel ist eine sehr beachtenswerte Erscheinung, die mich
auf das litterarische Leben unbedingt zurückwirken müszte. Die Gründe dafür
können nur zum Teil in den Einwirkungen des Auslandes oder in der eigen¬
artigen Anlage des Philosophen gesucht werden.

Taine führt die ganze sich überstürzende Entwicklung der französischen
Philosophie, in der sich kein System ganz ausleben konnte, geradezu auf die
geschichtlichen und politischen Ereignisse zurück, die das ganze geistige Leben
Frankreichs mit fieberhafter Gewalt bald nach der, bald nach jener Richtung
fortgerissen habe; der kathvlisirende Spiritualismus der zwanziger Jahre sei
nur eine Folge der das hierarchische Wesen begünstigenden Bvnrbonenherrschaft
gewesen; die nach dein susts luilisn strebende Regierungsform des Juli-König-
tums habe den Eklektizismus großgezogen; durch die auf nüchterner Realpolitik
ruhenden Bestrebungen des zweiten Kaiserreiches sei eine völlige Abneigung
gegen alle abstrakten Spekulationen hervorgerufen und die ganze Geistesrichtung
in eine rein empirische Auffassung, den Positivismus, hineingeleitet worden.

Wenn aber im Kulturleben eines Volkes zwei so gewaltige Mächte wie
die Politik und die Philosophie fortwährend in ihren Grundsätzen, Mitteln
und Zielen hin und herschwanken, dann können wir schlechterdings anch von
der Litteratur nicht verlangen, daß sie in so bewegten Zeitläuften eine ruhige
Entwicklung aufweise. Der litterarische Geschmack ändert sich denn auch that-


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[0020] Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart Wichtigen Teiles der Philosophie beigetragen haben. Kant, Schelling, Hegel gelten ihnen noch immer als die konäg-tsurs 6s l'gLtkwtia.no, ani clspul8 eux n'Ä xg,s fg.it un p^8. Es ist notwendig, auf die Eigentümlichkeiten der französischen Philosophie unsers Jahrhunderts näher einzugehen und die sich daraus ergebenden allge¬ meinen Gesichtspunkte festzustellen, wenn nur das dichterische Schaffen Sully- Prudhvnunes verstehen wollen. Kein französischer Denker, außer Lamennais, hat den Versuch gemacht, alle Zweige der Philosophie im Zusammenhange zu behandeln. Weder die Sensualisteu, wie Cabanis und Brvussais, noch die Spiritualisteu, wie Cousin nud Jeosfroy, noch die sozialistischen und theologischen Vertreter sind über Einzeluntersuchungen hinausgekommen. Die Gesamtheit aller philosophischen Gesichtspunkte über Gott, Welt und Mensch einheitlich zusammenzufassen, wie es die Deutschen in ihren „Systeme»" gethan haben, ist bei den Franzosen eine ungelöste Aufgabe geblieben. Ja selbst den eignen Systemen siud die fran¬ zösischen Philosophen nicht treu geblieben, wie Paul Jnnet in seiner Abhandlung nachgewiesen hat: l^g plnlosopluv as l^iuvnimi.8 (lisvruz ciss äeux Noucles vom 15. März 1889). Cousin ging vom. deutschen Pantheismus zum spiritualistischen und kartesianischen Theismus über, Comite von seiner objektiven, rein Uüsseu- schaftlichen Weltauffassilug zu einer sentimentalen und religiösen Richtung, Lamennais von einer theologischen zu einer rein philosophische,! Betrachtungs¬ weise. Dieser SystenNvechsel ist eine sehr beachtenswerte Erscheinung, die mich auf das litterarische Leben unbedingt zurückwirken müszte. Die Gründe dafür können nur zum Teil in den Einwirkungen des Auslandes oder in der eigen¬ artigen Anlage des Philosophen gesucht werden. Taine führt die ganze sich überstürzende Entwicklung der französischen Philosophie, in der sich kein System ganz ausleben konnte, geradezu auf die geschichtlichen und politischen Ereignisse zurück, die das ganze geistige Leben Frankreichs mit fieberhafter Gewalt bald nach der, bald nach jener Richtung fortgerissen habe; der kathvlisirende Spiritualismus der zwanziger Jahre sei nur eine Folge der das hierarchische Wesen begünstigenden Bvnrbonenherrschaft gewesen; die nach dein susts luilisn strebende Regierungsform des Juli-König- tums habe den Eklektizismus großgezogen; durch die auf nüchterner Realpolitik ruhenden Bestrebungen des zweiten Kaiserreiches sei eine völlige Abneigung gegen alle abstrakten Spekulationen hervorgerufen und die ganze Geistesrichtung in eine rein empirische Auffassung, den Positivismus, hineingeleitet worden. Wenn aber im Kulturleben eines Volkes zwei so gewaltige Mächte wie die Politik und die Philosophie fortwährend in ihren Grundsätzen, Mitteln und Zielen hin und herschwanken, dann können wir schlechterdings anch von der Litteratur nicht verlangen, daß sie in so bewegten Zeitläuften eine ruhige Entwicklung aufweise. Der litterarische Geschmack ändert sich denn auch that-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/20>, abgerufen am 22.07.2024.