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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Das Sozialistengesetz und die nationalliberale Partei

seits der sozialdemokratischen Agitation wirksam entgegenträte, anderseits nicht
zugleich die Gefahr in sich trüge, auch andre Parteien in ihren minder ge¬
fährlichen Bestrebungen zu unterdrücken. Eine Bestimmung zu finden, die
in beiden Beziehungen nichts zu wünschen übrig ließe, ist die Quadratur des
Zirkels.

Gesetzt uun, man überzeugte sich, daß mit "gemeinrechtlichen" Bestim¬
mungen nichts zu machen sei, daß vielmehr nur ein gegen die Sozialdemo-
kratie gerichtetes Spezialgesetz den notwendigen Schutz gewähren könne, so
entsteht die Frage: was will man denn nur an dem bestehenden Gesetze ge¬
ändert haben, um es als bleibendes anzunehmen? Gerade darin herrscht die
größte Unklarheit. Man hat die Agitation begonnen, ohne zu wissen, was
man eigentlich will. Und das ist stets ein Fehler. Es erinnert das an die
wüste Bewegung, die sich in Frankreich unter dem Schlagworte "Revision"
gegen die bestehenden Zustände gebildet hat.

Weiter aber müssen wir dieser Agitation: folgende Fragen gegenüberstellen:
Ist denn mit dem bisherigen Gesetze ein über dessen Zweck hinausgehender
Mißbrauch getrieben worden? Und sind die Gefahren der Sozialdemokratin
die im Jahre 187" mit eiserner Notwendigkeit zu dem Erlaß dieses Gesetzes
führten, seitdem etwa geschwunden oder auch nur geringer geworden?

Kein Aufrichtiger wird diese Fragen mit Ja beantworten können. Dann
aber hat die ganze Agitation gegen das bestehende Gesetz von feiten einer Partei,
die überhaupt die bürgerliche Gesellschaft gegen die Gefahren der Sozialdemo-
krntie schlitzen will, einen reinen doktrinären Charakter.

In dieser Auffassung können Nur uns auch nicht durch Schlagworte be¬
irren lassen, wie sie noch jüngst ein Artikel der National-Zeitung brachte. Die
^ozialdemokratie soll "zur gesetzlichen Ausübung ihrer Bürgerrechte zurück¬
geführt werden." Wir halten das nicht für geboten, fo lange beinahe Gewi߬
heit dafür besteht, daß die Sozialdemokratie die gesetzliche Ausübung ihrer
Bürgerrechte zu nichts anderm benutzen würde, als eine Revolution zum
Umsturz der ganzen gesellschaftlichen Ordnung vorzubereiten. Bon der "Ver¬
söhnung," die durch Aufhebung des Sozialistengesetzes angebahnt werden soll,
halten wir so wenig, daß wir überzeugt siud, die gesamte Sozialdemokratie
würde diese Aufhebung nur mit einem Hohngelächter beantworten. Es ist
auch durchaus unwahr, wenn gesagt wird, das Sozialistcngesetz sei damals,
als es gegeben wurde, nur auf eine kurze Frist berechnet gewesen. Gerade
der Abgeordnete Bamberger, der auch am 16. September 1878 im Namen der
Nationalliberalen, und zwar für das Gesetz, das Wort ergriff, legte dar, daß
von einer Wirksamkeit dieses Gesetzes innerhalb weniger Jahre gar leine Rede
sein könne, und daß nur deswegen eine Befristung desselben geboten sei, weil
mau doch Vollmachten von so außerordentlicher Tragweite nicht für immer
oiuer Negierung in die Hand gebe. Die Befristung des Gesetzes sollte also


Grenzboten IV 1839 2
Das Sozialistengesetz und die nationalliberale Partei

seits der sozialdemokratischen Agitation wirksam entgegenträte, anderseits nicht
zugleich die Gefahr in sich trüge, auch andre Parteien in ihren minder ge¬
fährlichen Bestrebungen zu unterdrücken. Eine Bestimmung zu finden, die
in beiden Beziehungen nichts zu wünschen übrig ließe, ist die Quadratur des
Zirkels.

Gesetzt uun, man überzeugte sich, daß mit „gemeinrechtlichen" Bestim¬
mungen nichts zu machen sei, daß vielmehr nur ein gegen die Sozialdemo-
kratie gerichtetes Spezialgesetz den notwendigen Schutz gewähren könne, so
entsteht die Frage: was will man denn nur an dem bestehenden Gesetze ge¬
ändert haben, um es als bleibendes anzunehmen? Gerade darin herrscht die
größte Unklarheit. Man hat die Agitation begonnen, ohne zu wissen, was
man eigentlich will. Und das ist stets ein Fehler. Es erinnert das an die
wüste Bewegung, die sich in Frankreich unter dem Schlagworte „Revision"
gegen die bestehenden Zustände gebildet hat.

Weiter aber müssen wir dieser Agitation: folgende Fragen gegenüberstellen:
Ist denn mit dem bisherigen Gesetze ein über dessen Zweck hinausgehender
Mißbrauch getrieben worden? Und sind die Gefahren der Sozialdemokratin
die im Jahre 187» mit eiserner Notwendigkeit zu dem Erlaß dieses Gesetzes
führten, seitdem etwa geschwunden oder auch nur geringer geworden?

Kein Aufrichtiger wird diese Fragen mit Ja beantworten können. Dann
aber hat die ganze Agitation gegen das bestehende Gesetz von feiten einer Partei,
die überhaupt die bürgerliche Gesellschaft gegen die Gefahren der Sozialdemo-
krntie schlitzen will, einen reinen doktrinären Charakter.

In dieser Auffassung können Nur uns auch nicht durch Schlagworte be¬
irren lassen, wie sie noch jüngst ein Artikel der National-Zeitung brachte. Die
^ozialdemokratie soll „zur gesetzlichen Ausübung ihrer Bürgerrechte zurück¬
geführt werden." Wir halten das nicht für geboten, fo lange beinahe Gewi߬
heit dafür besteht, daß die Sozialdemokratie die gesetzliche Ausübung ihrer
Bürgerrechte zu nichts anderm benutzen würde, als eine Revolution zum
Umsturz der ganzen gesellschaftlichen Ordnung vorzubereiten. Bon der „Ver¬
söhnung," die durch Aufhebung des Sozialistengesetzes angebahnt werden soll,
halten wir so wenig, daß wir überzeugt siud, die gesamte Sozialdemokratie
würde diese Aufhebung nur mit einem Hohngelächter beantworten. Es ist
auch durchaus unwahr, wenn gesagt wird, das Sozialistcngesetz sei damals,
als es gegeben wurde, nur auf eine kurze Frist berechnet gewesen. Gerade
der Abgeordnete Bamberger, der auch am 16. September 1878 im Namen der
Nationalliberalen, und zwar für das Gesetz, das Wort ergriff, legte dar, daß
von einer Wirksamkeit dieses Gesetzes innerhalb weniger Jahre gar leine Rede
sein könne, und daß nur deswegen eine Befristung desselben geboten sei, weil
mau doch Vollmachten von so außerordentlicher Tragweite nicht für immer
oiuer Negierung in die Hand gebe. Die Befristung des Gesetzes sollte also


Grenzboten IV 1839 2
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[0017] Das Sozialistengesetz und die nationalliberale Partei seits der sozialdemokratischen Agitation wirksam entgegenträte, anderseits nicht zugleich die Gefahr in sich trüge, auch andre Parteien in ihren minder ge¬ fährlichen Bestrebungen zu unterdrücken. Eine Bestimmung zu finden, die in beiden Beziehungen nichts zu wünschen übrig ließe, ist die Quadratur des Zirkels. Gesetzt uun, man überzeugte sich, daß mit „gemeinrechtlichen" Bestim¬ mungen nichts zu machen sei, daß vielmehr nur ein gegen die Sozialdemo- kratie gerichtetes Spezialgesetz den notwendigen Schutz gewähren könne, so entsteht die Frage: was will man denn nur an dem bestehenden Gesetze ge¬ ändert haben, um es als bleibendes anzunehmen? Gerade darin herrscht die größte Unklarheit. Man hat die Agitation begonnen, ohne zu wissen, was man eigentlich will. Und das ist stets ein Fehler. Es erinnert das an die wüste Bewegung, die sich in Frankreich unter dem Schlagworte „Revision" gegen die bestehenden Zustände gebildet hat. Weiter aber müssen wir dieser Agitation: folgende Fragen gegenüberstellen: Ist denn mit dem bisherigen Gesetze ein über dessen Zweck hinausgehender Mißbrauch getrieben worden? Und sind die Gefahren der Sozialdemokratin die im Jahre 187» mit eiserner Notwendigkeit zu dem Erlaß dieses Gesetzes führten, seitdem etwa geschwunden oder auch nur geringer geworden? Kein Aufrichtiger wird diese Fragen mit Ja beantworten können. Dann aber hat die ganze Agitation gegen das bestehende Gesetz von feiten einer Partei, die überhaupt die bürgerliche Gesellschaft gegen die Gefahren der Sozialdemo- krntie schlitzen will, einen reinen doktrinären Charakter. In dieser Auffassung können Nur uns auch nicht durch Schlagworte be¬ irren lassen, wie sie noch jüngst ein Artikel der National-Zeitung brachte. Die ^ozialdemokratie soll „zur gesetzlichen Ausübung ihrer Bürgerrechte zurück¬ geführt werden." Wir halten das nicht für geboten, fo lange beinahe Gewi߬ heit dafür besteht, daß die Sozialdemokratie die gesetzliche Ausübung ihrer Bürgerrechte zu nichts anderm benutzen würde, als eine Revolution zum Umsturz der ganzen gesellschaftlichen Ordnung vorzubereiten. Bon der „Ver¬ söhnung," die durch Aufhebung des Sozialistengesetzes angebahnt werden soll, halten wir so wenig, daß wir überzeugt siud, die gesamte Sozialdemokratie würde diese Aufhebung nur mit einem Hohngelächter beantworten. Es ist auch durchaus unwahr, wenn gesagt wird, das Sozialistcngesetz sei damals, als es gegeben wurde, nur auf eine kurze Frist berechnet gewesen. Gerade der Abgeordnete Bamberger, der auch am 16. September 1878 im Namen der Nationalliberalen, und zwar für das Gesetz, das Wort ergriff, legte dar, daß von einer Wirksamkeit dieses Gesetzes innerhalb weniger Jahre gar leine Rede sein könne, und daß nur deswegen eine Befristung desselben geboten sei, weil mau doch Vollmachten von so außerordentlicher Tragweite nicht für immer oiuer Negierung in die Hand gebe. Die Befristung des Gesetzes sollte also Grenzboten IV 1839 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/17>, abgerufen am 22.07.2024.