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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die Wahlen in Frankreich

Demokratien möglich, ja unausbleiblich sind, sondern was in solchen Geniein-
Wesen sich ereignen muß, wenn in ihnen ein "reichlicher Mangel" an großen
politischen Talenten herrscht, und das ist in Frankreich in den meisten Fällen zu
bemerken. Sie dulden nur Mittelmäßigkeiten, da der Neid in ihnen der herr¬
schende Geist ist und die unbeschränkte Freiheit besitzt, jede auftauchende sittliche
oder geistige Größe auf das allgemeine Niveau herunterzureißen und ans
dem Wege zu schaffen -- natürlich, wenn die Größe von der Art ist, daß sie
sichs gefallen lassen muß, herabgezogen und beiseite geschoben zu werden. Das
aber war in Frankreich die Regel. Wäre hier ein Wirkicher großer Staats¬
mann aufgetreten, so würde er sich ohne Frage sehr bald mit seiner Begabung
an Weisheit, an Wissen und Willensstärke über allen Neid emporgeschwungen
haben und zu Ansehen und Unabhängigkeit gelangt sein, wobei dann freilich
die Demokratie zu Schein und Form geworden wäre, wie im athenischen Staate,
als nach der Theorie der biedere Demos, in Wirklichkeit aber Perikles regierte.
Wo finden wir aber im heutigen Frankreich einen solchen gebietenden Helden?
Gambetta besaß annähernd einiges Zeug dazu, seit seinem Tode ist niemand
der Art wieder aufgetreten, am wenigsten ein Geist, der, auf sich selbst beruhend,
über den Parteien gestanden und sie auch gegen ihr Interesse und Streben beherrscht
und dem Staatszwecke dienstbar gemacht hätte. Auch von Jules Ferry, ans den
sonst sich vielleicht noch hinweisen ließe, ist dies nicht mit Grund zu behaupten.
So kam es, daß jedes kleine politische Talent abwechselnd, um sich sein Ver¬
bleiben auf der erstreberten Stelle, sein Ansehen und seinen Einfluß für mög¬
lichst lauge Dauer zu sichern, mit andern Parteien liebäugeln mußte, und daß
die große republikanische Partei in ein halbes Dutzend kleine Gruppen zer¬
trümmert ist, die nicht vielmehr als Widerspruch gegen einander, Rüuke und
Gezänk leisten. Alle haben das Gefühl ihrer Schwäche, und die Regierungen,
die sie, heute die eine, morgen die andre, stellen, leiden an derselben Empfindung,
woraus dann gelegentlich plötzlich Akte kleinlicher Tyrannei hervorgehen, die
das Bewußtsein von Stärke zeigen sollen, aber nur wenig imponiren. Wir
erinnern nnr an den Minister Thvvenet, der die ohnedies dem Staate ent¬
fremdete Geistlichkeit durch sein abgeschmacktes Verbot, ans die Wahlen zu
wirken, nur noch mehr der republikanischen Sache abwendig machte. Andrer¬
seits zeigt die Opposition, wenn man die Gegner der Partei Ferrys und
Tirards so nennen darf, ein stetes Schwanken des Übergewichts der in ihr
neben einander hergehenden Parteien. Vor kurzem war die herrschende Idee die
"Bonlange" mit ihrer Verfassungsveräuderung und ihrer Diktatur, dann,
nach der Wahl der Generalräte, traten die monarchischen Parteien mit ihrem
kläglichen Grafen von Paris und ihrem gleichfalls unbedeutenden Viktor Na¬
poleon in den Vordergrund, und jetzt scheint der Stern des "braven Generals",
oder des oononsLioimkurö en l'uns, wie ihn die Höxndlllznö Ij'rMyAiLö nennt,
sich noch mehr dem Horizonte zu nähern und untergehen zu wollen. Aber


Die Wahlen in Frankreich

Demokratien möglich, ja unausbleiblich sind, sondern was in solchen Geniein-
Wesen sich ereignen muß, wenn in ihnen ein „reichlicher Mangel" an großen
politischen Talenten herrscht, und das ist in Frankreich in den meisten Fällen zu
bemerken. Sie dulden nur Mittelmäßigkeiten, da der Neid in ihnen der herr¬
schende Geist ist und die unbeschränkte Freiheit besitzt, jede auftauchende sittliche
oder geistige Größe auf das allgemeine Niveau herunterzureißen und ans
dem Wege zu schaffen — natürlich, wenn die Größe von der Art ist, daß sie
sichs gefallen lassen muß, herabgezogen und beiseite geschoben zu werden. Das
aber war in Frankreich die Regel. Wäre hier ein Wirkicher großer Staats¬
mann aufgetreten, so würde er sich ohne Frage sehr bald mit seiner Begabung
an Weisheit, an Wissen und Willensstärke über allen Neid emporgeschwungen
haben und zu Ansehen und Unabhängigkeit gelangt sein, wobei dann freilich
die Demokratie zu Schein und Form geworden wäre, wie im athenischen Staate,
als nach der Theorie der biedere Demos, in Wirklichkeit aber Perikles regierte.
Wo finden wir aber im heutigen Frankreich einen solchen gebietenden Helden?
Gambetta besaß annähernd einiges Zeug dazu, seit seinem Tode ist niemand
der Art wieder aufgetreten, am wenigsten ein Geist, der, auf sich selbst beruhend,
über den Parteien gestanden und sie auch gegen ihr Interesse und Streben beherrscht
und dem Staatszwecke dienstbar gemacht hätte. Auch von Jules Ferry, ans den
sonst sich vielleicht noch hinweisen ließe, ist dies nicht mit Grund zu behaupten.
So kam es, daß jedes kleine politische Talent abwechselnd, um sich sein Ver¬
bleiben auf der erstreberten Stelle, sein Ansehen und seinen Einfluß für mög¬
lichst lauge Dauer zu sichern, mit andern Parteien liebäugeln mußte, und daß
die große republikanische Partei in ein halbes Dutzend kleine Gruppen zer¬
trümmert ist, die nicht vielmehr als Widerspruch gegen einander, Rüuke und
Gezänk leisten. Alle haben das Gefühl ihrer Schwäche, und die Regierungen,
die sie, heute die eine, morgen die andre, stellen, leiden an derselben Empfindung,
woraus dann gelegentlich plötzlich Akte kleinlicher Tyrannei hervorgehen, die
das Bewußtsein von Stärke zeigen sollen, aber nur wenig imponiren. Wir
erinnern nnr an den Minister Thvvenet, der die ohnedies dem Staate ent¬
fremdete Geistlichkeit durch sein abgeschmacktes Verbot, ans die Wahlen zu
wirken, nur noch mehr der republikanischen Sache abwendig machte. Andrer¬
seits zeigt die Opposition, wenn man die Gegner der Partei Ferrys und
Tirards so nennen darf, ein stetes Schwanken des Übergewichts der in ihr
neben einander hergehenden Parteien. Vor kurzem war die herrschende Idee die
„Bonlange" mit ihrer Verfassungsveräuderung und ihrer Diktatur, dann,
nach der Wahl der Generalräte, traten die monarchischen Parteien mit ihrem
kläglichen Grafen von Paris und ihrem gleichfalls unbedeutenden Viktor Na¬
poleon in den Vordergrund, und jetzt scheint der Stern des „braven Generals",
oder des oononsLioimkurö en l'uns, wie ihn die Höxndlllznö Ij'rMyAiLö nennt,
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[0012] Die Wahlen in Frankreich Demokratien möglich, ja unausbleiblich sind, sondern was in solchen Geniein- Wesen sich ereignen muß, wenn in ihnen ein „reichlicher Mangel" an großen politischen Talenten herrscht, und das ist in Frankreich in den meisten Fällen zu bemerken. Sie dulden nur Mittelmäßigkeiten, da der Neid in ihnen der herr¬ schende Geist ist und die unbeschränkte Freiheit besitzt, jede auftauchende sittliche oder geistige Größe auf das allgemeine Niveau herunterzureißen und ans dem Wege zu schaffen — natürlich, wenn die Größe von der Art ist, daß sie sichs gefallen lassen muß, herabgezogen und beiseite geschoben zu werden. Das aber war in Frankreich die Regel. Wäre hier ein Wirkicher großer Staats¬ mann aufgetreten, so würde er sich ohne Frage sehr bald mit seiner Begabung an Weisheit, an Wissen und Willensstärke über allen Neid emporgeschwungen haben und zu Ansehen und Unabhängigkeit gelangt sein, wobei dann freilich die Demokratie zu Schein und Form geworden wäre, wie im athenischen Staate, als nach der Theorie der biedere Demos, in Wirklichkeit aber Perikles regierte. Wo finden wir aber im heutigen Frankreich einen solchen gebietenden Helden? Gambetta besaß annähernd einiges Zeug dazu, seit seinem Tode ist niemand der Art wieder aufgetreten, am wenigsten ein Geist, der, auf sich selbst beruhend, über den Parteien gestanden und sie auch gegen ihr Interesse und Streben beherrscht und dem Staatszwecke dienstbar gemacht hätte. Auch von Jules Ferry, ans den sonst sich vielleicht noch hinweisen ließe, ist dies nicht mit Grund zu behaupten. So kam es, daß jedes kleine politische Talent abwechselnd, um sich sein Ver¬ bleiben auf der erstreberten Stelle, sein Ansehen und seinen Einfluß für mög¬ lichst lauge Dauer zu sichern, mit andern Parteien liebäugeln mußte, und daß die große republikanische Partei in ein halbes Dutzend kleine Gruppen zer¬ trümmert ist, die nicht vielmehr als Widerspruch gegen einander, Rüuke und Gezänk leisten. Alle haben das Gefühl ihrer Schwäche, und die Regierungen, die sie, heute die eine, morgen die andre, stellen, leiden an derselben Empfindung, woraus dann gelegentlich plötzlich Akte kleinlicher Tyrannei hervorgehen, die das Bewußtsein von Stärke zeigen sollen, aber nur wenig imponiren. Wir erinnern nnr an den Minister Thvvenet, der die ohnedies dem Staate ent¬ fremdete Geistlichkeit durch sein abgeschmacktes Verbot, ans die Wahlen zu wirken, nur noch mehr der republikanischen Sache abwendig machte. Andrer¬ seits zeigt die Opposition, wenn man die Gegner der Partei Ferrys und Tirards so nennen darf, ein stetes Schwanken des Übergewichts der in ihr neben einander hergehenden Parteien. Vor kurzem war die herrschende Idee die „Bonlange" mit ihrer Verfassungsveräuderung und ihrer Diktatur, dann, nach der Wahl der Generalräte, traten die monarchischen Parteien mit ihrem kläglichen Grafen von Paris und ihrem gleichfalls unbedeutenden Viktor Na¬ poleon in den Vordergrund, und jetzt scheint der Stern des „braven Generals", oder des oononsLioimkurö en l'uns, wie ihn die Höxndlllznö Ij'rMyAiLö nennt, sich noch mehr dem Horizonte zu nähern und untergehen zu wollen. Aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/12>, abgerufen am 22.07.2024.