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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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gebe es keine bedeutenden Frauen mehr, sondern nnr noch verschrobene Blau¬
strümpfe (Phänomenologie S. 704). Diese Ansicht ist nicht allein übertrieben,
sie ist geschichtlich geradezu falsch, denn es hat in Deutschland auch schon vor
Gründung der höheren Mädchenschule pretiöse und emanzipirte, Weiber
gegeben. Hartmann Hütte sich erinnern sollen, daß Schopenhauer seine giftige"
Angriffe gegen die Frauen schrieb, noch ehe ihm Sprößlinge der modernen
Erziehung vor Augen standen. Um so ungerechter ist es, wen" Hartmann
sein Berdammungsurteil ohne Ausnahme auf alle höheren Mädchenschulen
ausdehnt.

Es ist richtig, das bunte Durcheinander der verschiedenartigsten Lehr¬
gegenstände, der verwirrende Einfluß einseitiger Fachgelehrten im Lehrkörper
der höheren Mädchenschulen, nmuuigfnche sich oft bekämpfende Lehrmethode",
eine den Knabenschulen nachgeäffte Dressur, alle diese den einheitlichen Unter¬
richt n" einer höheren Mädchenschule vernichtenden Übelstände müssen eine
Halbbildung zur Folge haben, die unser", ganzen Kulturleben nicht zum Segen
gereicht. Allein Hnrtmann durfte seine Verurteilung nicht auf alle höheren
Mädchenschulen ausdehnen. Er hätte zum mindesten einen Unterschied machen
müssen zwischeu den "in ihre Existenz krampfhaft ringenden Privatschulen mu
allen möglichen Zugeständnissen an das Publikum, mit einem zusammen¬
gewürfelten Lehrkörper, der die verschiedenartigsten Lehrmethoden aus den
Vuiabenschnleu hinüberschleppt, der größtenteils den Müdchennnterricht als eine
zwar untergeordnete, aber doch einträgliche Nebenbeschäftigung betreibt, und ander¬
seits der öffentlichen, vom Staat oder einer Gemeinde gehaltenen Anstalt, wo
unter fachmännischer Leitung ein einheitlich zusamuumgesetztes Kvllegiunc arbeitet.

Aber für Hartmann sind alle Mädchenschulen, wo französisch und englische
Vokabeln gelernt werden, "höhere Töchterschulen," und so wird denn auch
durch eine kühne Nerallgemeinernng über unsre gesamte Müdcheuerziehuug,
wie sie die Schule bietet, der Stab gebrochen. Wir behaupten geradezu, daß
nicht die Schule für "die egoistische Bequemlichkeit, Leistnngsschen nud
Genußsucht" der Mädchen höherer Stände verantwortlich zu macheu ist, sondern
lediglich die Familien, die Gesellschaft, vor allein die lieben Mütter. Die Er¬
ziehung soll allerdings auf der gleichzeitigen Wirkung von Familie und Schule
beruhen. Aber das moderne Familienleben der höheren Gesellschaft mit seiner
Oberflächlichkeit, Zerfahrenheit und Ruhelosigkeit bietet schon längst nicht mehr
eine Stätte für echte Jugenderziehung. Die nervöse Unruhe unsers Jahr¬
hunderts ist auch in das häusliche Leben gedrungen und hat die stille Be¬
schaulichkeit und Selbstgenügsamkeit, die zur erfolgreichem Kindererziehung not¬
wendige Verinnerlichung verdrängt. Die meisten Eltern und gerade die Mütter
tonnen und wollen sich gar nicht mehr mit einer systematischen Erziehung
ihrer Töchter beschäftigen; sie schieben die ganze Arbeit der Schule zu und
verlangen von dieser, daß sie in den vier oder fünf täglichen Lehrstunden


gebe es keine bedeutenden Frauen mehr, sondern nnr noch verschrobene Blau¬
strümpfe (Phänomenologie S. 704). Diese Ansicht ist nicht allein übertrieben,
sie ist geschichtlich geradezu falsch, denn es hat in Deutschland auch schon vor
Gründung der höheren Mädchenschule pretiöse und emanzipirte, Weiber
gegeben. Hartmann Hütte sich erinnern sollen, daß Schopenhauer seine giftige»
Angriffe gegen die Frauen schrieb, noch ehe ihm Sprößlinge der modernen
Erziehung vor Augen standen. Um so ungerechter ist es, wen» Hartmann
sein Berdammungsurteil ohne Ausnahme auf alle höheren Mädchenschulen
ausdehnt.

Es ist richtig, das bunte Durcheinander der verschiedenartigsten Lehr¬
gegenstände, der verwirrende Einfluß einseitiger Fachgelehrten im Lehrkörper
der höheren Mädchenschulen, nmuuigfnche sich oft bekämpfende Lehrmethode»,
eine den Knabenschulen nachgeäffte Dressur, alle diese den einheitlichen Unter¬
richt n» einer höheren Mädchenschule vernichtenden Übelstände müssen eine
Halbbildung zur Folge haben, die unser», ganzen Kulturleben nicht zum Segen
gereicht. Allein Hnrtmann durfte seine Verurteilung nicht auf alle höheren
Mädchenschulen ausdehnen. Er hätte zum mindesten einen Unterschied machen
müssen zwischeu den »in ihre Existenz krampfhaft ringenden Privatschulen mu
allen möglichen Zugeständnissen an das Publikum, mit einem zusammen¬
gewürfelten Lehrkörper, der die verschiedenartigsten Lehrmethoden aus den
Vuiabenschnleu hinüberschleppt, der größtenteils den Müdchennnterricht als eine
zwar untergeordnete, aber doch einträgliche Nebenbeschäftigung betreibt, und ander¬
seits der öffentlichen, vom Staat oder einer Gemeinde gehaltenen Anstalt, wo
unter fachmännischer Leitung ein einheitlich zusamuumgesetztes Kvllegiunc arbeitet.

Aber für Hartmann sind alle Mädchenschulen, wo französisch und englische
Vokabeln gelernt werden, „höhere Töchterschulen," und so wird denn auch
durch eine kühne Nerallgemeinernng über unsre gesamte Müdcheuerziehuug,
wie sie die Schule bietet, der Stab gebrochen. Wir behaupten geradezu, daß
nicht die Schule für „die egoistische Bequemlichkeit, Leistnngsschen nud
Genußsucht" der Mädchen höherer Stände verantwortlich zu macheu ist, sondern
lediglich die Familien, die Gesellschaft, vor allein die lieben Mütter. Die Er¬
ziehung soll allerdings auf der gleichzeitigen Wirkung von Familie und Schule
beruhen. Aber das moderne Familienleben der höheren Gesellschaft mit seiner
Oberflächlichkeit, Zerfahrenheit und Ruhelosigkeit bietet schon längst nicht mehr
eine Stätte für echte Jugenderziehung. Die nervöse Unruhe unsers Jahr¬
hunderts ist auch in das häusliche Leben gedrungen und hat die stille Be¬
schaulichkeit und Selbstgenügsamkeit, die zur erfolgreichem Kindererziehung not¬
wendige Verinnerlichung verdrängt. Die meisten Eltern und gerade die Mütter
tonnen und wollen sich gar nicht mehr mit einer systematischen Erziehung
ihrer Töchter beschäftigen; sie schieben die ganze Arbeit der Schule zu und
verlangen von dieser, daß sie in den vier oder fünf täglichen Lehrstunden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/93>, abgerufen am 05.02.2025.