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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Robert Hamerlings Selbstbiographie

UM
Mann haben sich die Wogen beruhigt, die Robert HainerlingS
"Homunkulus" vor anderthalb Jahren -- eine glänzende satirische
Weihnachtsbescherung -- in der litterarischen Welt aufwirbelte,
so schickt er schon wieder ein neues Buch aus, das in der
kurzen Zeit seit seinein Erscheinen auch schon die verschiedenste:?
Beurteilungen erfahren hat: Stationen meiner Lebens Pilgerfahrt (Ham¬
burg, Verlagsanstalt), wie es sich etwas gesucht neunt. Also eine Selbstbiographie.

In unsrer Zeit des lebhaften Sinnes sür Memoirenlitteratur ist kaum ein
Buch willkommener als ein solches, worin der Dichter dein Wunsche des
Publikums nach Kenntnis seiner privaten Persönlichkeit, seiner eignen Schicksale
und Erlebnisse entgegenkommt; Pflegt man doch nicht ohne Grund der Gegen¬
wart den Vorwurf zu macheu, daß sie sich uur zu sehr für die private anstatt
für die künstlerische Persönlichkeit jener Dichter interessirt, die einmal große
Erfolge gehabt haben. Aber den Wert solcher Selbstbiographien zu beurteilen
ist ebenso schwer, als es für den Verfasser schwierig ist, den richtigem Ton
darin zu treffen. Ein berühmtes Meisterwerk ist die leider nur fragmentarische
Selbstbiographie, die Grillparzer hinterlassen hat; es giebt sogar Gelehrte, die
sie für das bedeutendste Werk halten, das der große Dichter überhaupt ge¬
schrieben habe. Gleichwohl weiß man jetzt, daß Grillparzer darin nicht ganz
gerecht gegen sich selbst war, er hat sich vielfach kleiner gemacht, als er war,
z. B. über seine Jugendtraum hat er in einer Weise streng geurteilt, die mau
nicht gelten lassen kann. Von I. I. Rousseaus vontössions ist bekannt, daß
sie vielfach von der Wahrheit abweichen. Goethes "Dichtung und Wahrheit,"
eines seiner größten Meisterwerke, das für die deutsche Litteraturgeschicht-
schreibung mustergebend geworden ist, muß doch auch mit Borsicht gelesen
werden. Es scheint eben in der menschlichen Natur zu liegen, daß kein Mann
sein eignes Leben so objektiv schildern kann, wie es dem später nachforschenden
Geschlecht erscheinen muß. Es kann ja anch niemand aus seiner Haut heraus,
kein Mensch hat die Gabe, sich selbst ganz und gar und fortlaufend durch die
ganze Reihe der Jahre von außen anzuschauen, und nur so außerordentlichen
Künstlern und Genien wie Goethe war es gegönnt, die Anschauung, die sie




Robert Hamerlings Selbstbiographie

UM
Mann haben sich die Wogen beruhigt, die Robert HainerlingS
„Homunkulus" vor anderthalb Jahren — eine glänzende satirische
Weihnachtsbescherung — in der litterarischen Welt aufwirbelte,
so schickt er schon wieder ein neues Buch aus, das in der
kurzen Zeit seit seinein Erscheinen auch schon die verschiedenste:?
Beurteilungen erfahren hat: Stationen meiner Lebens Pilgerfahrt (Ham¬
burg, Verlagsanstalt), wie es sich etwas gesucht neunt. Also eine Selbstbiographie.

In unsrer Zeit des lebhaften Sinnes sür Memoirenlitteratur ist kaum ein
Buch willkommener als ein solches, worin der Dichter dein Wunsche des
Publikums nach Kenntnis seiner privaten Persönlichkeit, seiner eignen Schicksale
und Erlebnisse entgegenkommt; Pflegt man doch nicht ohne Grund der Gegen¬
wart den Vorwurf zu macheu, daß sie sich uur zu sehr für die private anstatt
für die künstlerische Persönlichkeit jener Dichter interessirt, die einmal große
Erfolge gehabt haben. Aber den Wert solcher Selbstbiographien zu beurteilen
ist ebenso schwer, als es für den Verfasser schwierig ist, den richtigem Ton
darin zu treffen. Ein berühmtes Meisterwerk ist die leider nur fragmentarische
Selbstbiographie, die Grillparzer hinterlassen hat; es giebt sogar Gelehrte, die
sie für das bedeutendste Werk halten, das der große Dichter überhaupt ge¬
schrieben habe. Gleichwohl weiß man jetzt, daß Grillparzer darin nicht ganz
gerecht gegen sich selbst war, er hat sich vielfach kleiner gemacht, als er war,
z. B. über seine Jugendtraum hat er in einer Weise streng geurteilt, die mau
nicht gelten lassen kann. Von I. I. Rousseaus vontössions ist bekannt, daß
sie vielfach von der Wahrheit abweichen. Goethes „Dichtung und Wahrheit,"
eines seiner größten Meisterwerke, das für die deutsche Litteraturgeschicht-
schreibung mustergebend geworden ist, muß doch auch mit Borsicht gelesen
werden. Es scheint eben in der menschlichen Natur zu liegen, daß kein Mann
sein eignes Leben so objektiv schildern kann, wie es dem später nachforschenden
Geschlecht erscheinen muß. Es kann ja anch niemand aus seiner Haut heraus,
kein Mensch hat die Gabe, sich selbst ganz und gar und fortlaufend durch die
ganze Reihe der Jahre von außen anzuschauen, und nur so außerordentlichen
Künstlern und Genien wie Goethe war es gegönnt, die Anschauung, die sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/605>, abgerufen am 05.02.2025.