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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Das neue Gymnasium

Philosophen Einfluß "eben der ungeheuern und allverbreiteten Wirksamkeit
zuerst Voltaires, sodann Rousseaus auch nur genannt werden können. Unsre
Gebildeten greifen in einer Mußestunde wohl nach Shakespeare oder Moliöre,
nach Dickens oder Daudet, nach Carlyle oder Taine, aber doch nur ganz ver¬
einzelt nach Homer oder Thukydides, Horaz oder Tacitus. Mill und Spencer
sind uns näher als Plato und Aristoteles. Zu Mill und Spencer führt uns
ein unmittelbares Interesse, das Verlangen nach Belehrung und Widerspruch.
Sie sind lebendige Autoren, sie beschäftigen sich mit unsern Problemen, sie
deuten unsre Gedanken, vielleicht auch unsre Irrtümer. Die europäischen Völker
sind Glieder einer Familie, sie leben ein geschichtliches Leben. Die italienische
Renaissance, die deutsche Reformation, die französische und die englische Wissen¬
schaft des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, das sind die Hauptgrund¬
lagen unsers geistigen Lebens, hier also sind auch die Hauptgrundlagen unsers
Jugendunterrichts zu suchen. Dgs Lateinische freilich ist nicht zu entbehren,
es war bis vor kurzem die Sprache des geistig geschichtlichen Lebens im
Abendland, es ist außerdem die Muttersprache des Italienischen, des Fran¬
zösischen, zum Teil auch des Englischen. Aber das Griechische? Die Rede
vom Kranz, die Republik, den Prometheus überhaupt nicht zu kennen, ist in
der That ein Mangel an historischer Bildung, aber sie nicht in griechischer
Sprache gelesen zu haben ist ein Mangel, der sich namentlich bei den Prosaikern
ertragen läßt. Drum lese man dies und nur recht viel der Art in guten
Übersetzungen.

Darauf der Pädagoge Paulsen (nach Seite 11): Die Sache läßt sich,
wie man sieht, mit einem bestechenden Schein der Notwendigkeit umgeben.
Kein Zweifel, die theoretische Weltauffassung der Neuzeit hat mehr Nahrung
von Engländern und Franzosen empfangen, als von Hellenen und Römern.
Und nicht minder unzweifelhaft, unser wirtschaftliches, soziales und staatliches
Leben hat sich vorzugsweise unter französischem und englischem Einfluß ge¬
staltet. Dennoch halte ich die naheliegende Folgerung, daß also mit diesen
Elementen unsrer Kultur die Jugend gründlich vertraut zu machen die erste
und wichtigste Aufgabe, jedenfalls des gelehrten Unterrichts sei, daß also, von
dem nun einmal unvermeidlichen Latein abgesehen, Französisch und Englisch
in unsern Schulen die erste Stelle einnehmen müßten, für übereilt. Was uns
Erwachsenen am nächsten liegt, ist deshalb noch nicht der Jugend gemäß.
Wohl neigt sie dann und wann dazu, den Jahren vorzugreifen, hier burschen¬
haft herausfordernd, dort altklug und wohlweise; es ist ihr aber doch nicht
ganz wohl dabei. Im innersten Herzen sehnt sie sich aufzublicken, zu verehren,
anzubeten. Das Neueste vom Tage reizt sie nicht, das Verwickelte fesselt sie
nicht, das Abstrakte begeistert sie nicht. Nicht das also ist die Frage: was
brennt uns Erwachsenen heute am meisten auf der Seele, was reizt der Er¬
wachsenen Wißbegier und Widerspruch? sondern: welcher Übungen bedarf die


Grenzbvte" 11 1889 70
Das neue Gymnasium

Philosophen Einfluß »eben der ungeheuern und allverbreiteten Wirksamkeit
zuerst Voltaires, sodann Rousseaus auch nur genannt werden können. Unsre
Gebildeten greifen in einer Mußestunde wohl nach Shakespeare oder Moliöre,
nach Dickens oder Daudet, nach Carlyle oder Taine, aber doch nur ganz ver¬
einzelt nach Homer oder Thukydides, Horaz oder Tacitus. Mill und Spencer
sind uns näher als Plato und Aristoteles. Zu Mill und Spencer führt uns
ein unmittelbares Interesse, das Verlangen nach Belehrung und Widerspruch.
Sie sind lebendige Autoren, sie beschäftigen sich mit unsern Problemen, sie
deuten unsre Gedanken, vielleicht auch unsre Irrtümer. Die europäischen Völker
sind Glieder einer Familie, sie leben ein geschichtliches Leben. Die italienische
Renaissance, die deutsche Reformation, die französische und die englische Wissen¬
schaft des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, das sind die Hauptgrund¬
lagen unsers geistigen Lebens, hier also sind auch die Hauptgrundlagen unsers
Jugendunterrichts zu suchen. Dgs Lateinische freilich ist nicht zu entbehren,
es war bis vor kurzem die Sprache des geistig geschichtlichen Lebens im
Abendland, es ist außerdem die Muttersprache des Italienischen, des Fran¬
zösischen, zum Teil auch des Englischen. Aber das Griechische? Die Rede
vom Kranz, die Republik, den Prometheus überhaupt nicht zu kennen, ist in
der That ein Mangel an historischer Bildung, aber sie nicht in griechischer
Sprache gelesen zu haben ist ein Mangel, der sich namentlich bei den Prosaikern
ertragen läßt. Drum lese man dies und nur recht viel der Art in guten
Übersetzungen.

Darauf der Pädagoge Paulsen (nach Seite 11): Die Sache läßt sich,
wie man sieht, mit einem bestechenden Schein der Notwendigkeit umgeben.
Kein Zweifel, die theoretische Weltauffassung der Neuzeit hat mehr Nahrung
von Engländern und Franzosen empfangen, als von Hellenen und Römern.
Und nicht minder unzweifelhaft, unser wirtschaftliches, soziales und staatliches
Leben hat sich vorzugsweise unter französischem und englischem Einfluß ge¬
staltet. Dennoch halte ich die naheliegende Folgerung, daß also mit diesen
Elementen unsrer Kultur die Jugend gründlich vertraut zu machen die erste
und wichtigste Aufgabe, jedenfalls des gelehrten Unterrichts sei, daß also, von
dem nun einmal unvermeidlichen Latein abgesehen, Französisch und Englisch
in unsern Schulen die erste Stelle einnehmen müßten, für übereilt. Was uns
Erwachsenen am nächsten liegt, ist deshalb noch nicht der Jugend gemäß.
Wohl neigt sie dann und wann dazu, den Jahren vorzugreifen, hier burschen¬
haft herausfordernd, dort altklug und wohlweise; es ist ihr aber doch nicht
ganz wohl dabei. Im innersten Herzen sehnt sie sich aufzublicken, zu verehren,
anzubeten. Das Neueste vom Tage reizt sie nicht, das Verwickelte fesselt sie
nicht, das Abstrakte begeistert sie nicht. Nicht das also ist die Frage: was
brennt uns Erwachsenen heute am meisten auf der Seele, was reizt der Er¬
wachsenen Wißbegier und Widerspruch? sondern: welcher Übungen bedarf die


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[0601] Das neue Gymnasium Philosophen Einfluß »eben der ungeheuern und allverbreiteten Wirksamkeit zuerst Voltaires, sodann Rousseaus auch nur genannt werden können. Unsre Gebildeten greifen in einer Mußestunde wohl nach Shakespeare oder Moliöre, nach Dickens oder Daudet, nach Carlyle oder Taine, aber doch nur ganz ver¬ einzelt nach Homer oder Thukydides, Horaz oder Tacitus. Mill und Spencer sind uns näher als Plato und Aristoteles. Zu Mill und Spencer führt uns ein unmittelbares Interesse, das Verlangen nach Belehrung und Widerspruch. Sie sind lebendige Autoren, sie beschäftigen sich mit unsern Problemen, sie deuten unsre Gedanken, vielleicht auch unsre Irrtümer. Die europäischen Völker sind Glieder einer Familie, sie leben ein geschichtliches Leben. Die italienische Renaissance, die deutsche Reformation, die französische und die englische Wissen¬ schaft des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, das sind die Hauptgrund¬ lagen unsers geistigen Lebens, hier also sind auch die Hauptgrundlagen unsers Jugendunterrichts zu suchen. Dgs Lateinische freilich ist nicht zu entbehren, es war bis vor kurzem die Sprache des geistig geschichtlichen Lebens im Abendland, es ist außerdem die Muttersprache des Italienischen, des Fran¬ zösischen, zum Teil auch des Englischen. Aber das Griechische? Die Rede vom Kranz, die Republik, den Prometheus überhaupt nicht zu kennen, ist in der That ein Mangel an historischer Bildung, aber sie nicht in griechischer Sprache gelesen zu haben ist ein Mangel, der sich namentlich bei den Prosaikern ertragen läßt. Drum lese man dies und nur recht viel der Art in guten Übersetzungen. Darauf der Pädagoge Paulsen (nach Seite 11): Die Sache läßt sich, wie man sieht, mit einem bestechenden Schein der Notwendigkeit umgeben. Kein Zweifel, die theoretische Weltauffassung der Neuzeit hat mehr Nahrung von Engländern und Franzosen empfangen, als von Hellenen und Römern. Und nicht minder unzweifelhaft, unser wirtschaftliches, soziales und staatliches Leben hat sich vorzugsweise unter französischem und englischem Einfluß ge¬ staltet. Dennoch halte ich die naheliegende Folgerung, daß also mit diesen Elementen unsrer Kultur die Jugend gründlich vertraut zu machen die erste und wichtigste Aufgabe, jedenfalls des gelehrten Unterrichts sei, daß also, von dem nun einmal unvermeidlichen Latein abgesehen, Französisch und Englisch in unsern Schulen die erste Stelle einnehmen müßten, für übereilt. Was uns Erwachsenen am nächsten liegt, ist deshalb noch nicht der Jugend gemäß. Wohl neigt sie dann und wann dazu, den Jahren vorzugreifen, hier burschen¬ haft herausfordernd, dort altklug und wohlweise; es ist ihr aber doch nicht ganz wohl dabei. Im innersten Herzen sehnt sie sich aufzublicken, zu verehren, anzubeten. Das Neueste vom Tage reizt sie nicht, das Verwickelte fesselt sie nicht, das Abstrakte begeistert sie nicht. Nicht das also ist die Frage: was brennt uns Erwachsenen heute am meisten auf der Seele, was reizt der Er¬ wachsenen Wißbegier und Widerspruch? sondern: welcher Übungen bedarf die Grenzbvte» 11 1889 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/601>, abgerufen am 05.02.2025.