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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Goethes !vettkampf mit den griechischen Dichtern

Liebe zum Freunde von früher Kindheit an ist auch eine Seite des großen
Liebesthemas, das Goethe behandelt, aber sie ist doch eine irdische Liebe, nicht
zu vergleichen mit der heiligen, priesterlichen Glut in Jphigeniens Brust.
Pylades ermutigt den Orest, aber er heilt ihn nicht; was er in Orests Ab¬
wesenheit der Priesterin vorspiegelt, sie, die beiden Gefangnen, seien Brüder,
Söhne des Adrast von Kreta, er heiße Cephalus, der andre Laodamas, dieser,
der ältere, habe einen im Alter zwischen ihnen stehenden Bruder erschlagen
und werde deshalb von den Furien verfolgt, macht fast den Eindruck eines
leichtfertigen Spieles, wenn wir Jphigeniens Ernst dagegen halten. Wie Thoas,
so erscheint auch Pylades der königlichen und priesterlichen Jungfrau gegen¬
über klein, aber wie jener, so ist auch er eine edle Natur, und dies ist not¬
wendig, damit die Abstufung der Charaktere nicht zur unausfüllbaren Kluft werde.

Den dritten Akt erfüllt die große Szene zwischen Iphigenie und Orest.
Es ist vielleicht das Erhabenste, was jemals im Geiste eines Dichters Leben
und Gestalt gewonen hat, und am wenigsten darf man es Euripides als einen
Fehler anrechnen, daß er nicht auf demselben Pfade gewandelt ist. Die ganze
christliche Kultur gehörte dazu, einen solchen Gedanken zu zeitigen, ja man
kann sagen, daß Goethe selbst nicht ganz das erreicht hat, was ihm vorschwebte,
die Heilung des Orest durch die Macht hoher Weiblichkeit.

Die Erkennungsszene ist ganz mit dem Heilungsprozeß verschmolzen; nicht
Iphigenie ist die Zweifelnde wie bei Euripides, sondern Orest erkennt die
wiedergefundene Schwester nicht an, und auch er nicht, weil er zweifelt, sondern
weil sein innerer Zustand, der höllische, wie Orest ihn selbst bezeichnet, sich
gegen die Reine und Hoheit der Schwester auflehnt. Er zwingt sich, sie zu
verkennen, er beschimpft ihre Zärtlichkeit in wahnsinniger Verblendung, die
bösen Geister, nicht die Eumeniden der Tantalossage, gewinnen Macht über
ihn, er bricht in Ermattung zusammen, und erst als Iphigenie ihn verlassen
hat, wird er ruhiger, aber es ist die Ruhe des Todes, des alles heilenden,
die ihn umfängt. Er träumt den Traum der Unterwelt, Vater und Mutter
kommen ihm Hand in Hand entgegen, und so ist der Blick in das Jenseits
die Krisis, die zur Genesung führt. Als Iphigenie mit dein Freunde zurück¬
kehrt, erwacht er, frei von den Qualen des Gewissens, zum neuen Leben der
holden irdischen Gegenwart. Merkwürdig ist, daß Iphigenie ihren Bruder
verläßt, als er im Kampfe mit dem Fluche, der auf ihm lastet, ermattet zu¬
sammensinkt. Warum bleibt sie nicht bei ihm? Die deutsche Schwester, sollte
man meinen, würde das Haupt des ermattenden Bruders in ihre Hand ge¬
nommen und ihm den kalten Schweiß von der Stirn getrocknet haben. Sie
vermag, so sagt sie, dies Glück und Elend nicht zu ertragen, sie sucht Pylades
auf, den treuen Freund, den teuern Mann. Pylades ist nicht, wie bei Euri¬
pides, der Verlobte der Elektra, durch kein Band der Verwandtschaft mit Orest
und Iphigenien verbunden, auch dürfen wir bei Iphigenien nicht eine keimende


Goethes !vettkampf mit den griechischen Dichtern

Liebe zum Freunde von früher Kindheit an ist auch eine Seite des großen
Liebesthemas, das Goethe behandelt, aber sie ist doch eine irdische Liebe, nicht
zu vergleichen mit der heiligen, priesterlichen Glut in Jphigeniens Brust.
Pylades ermutigt den Orest, aber er heilt ihn nicht; was er in Orests Ab¬
wesenheit der Priesterin vorspiegelt, sie, die beiden Gefangnen, seien Brüder,
Söhne des Adrast von Kreta, er heiße Cephalus, der andre Laodamas, dieser,
der ältere, habe einen im Alter zwischen ihnen stehenden Bruder erschlagen
und werde deshalb von den Furien verfolgt, macht fast den Eindruck eines
leichtfertigen Spieles, wenn wir Jphigeniens Ernst dagegen halten. Wie Thoas,
so erscheint auch Pylades der königlichen und priesterlichen Jungfrau gegen¬
über klein, aber wie jener, so ist auch er eine edle Natur, und dies ist not¬
wendig, damit die Abstufung der Charaktere nicht zur unausfüllbaren Kluft werde.

Den dritten Akt erfüllt die große Szene zwischen Iphigenie und Orest.
Es ist vielleicht das Erhabenste, was jemals im Geiste eines Dichters Leben
und Gestalt gewonen hat, und am wenigsten darf man es Euripides als einen
Fehler anrechnen, daß er nicht auf demselben Pfade gewandelt ist. Die ganze
christliche Kultur gehörte dazu, einen solchen Gedanken zu zeitigen, ja man
kann sagen, daß Goethe selbst nicht ganz das erreicht hat, was ihm vorschwebte,
die Heilung des Orest durch die Macht hoher Weiblichkeit.

Die Erkennungsszene ist ganz mit dem Heilungsprozeß verschmolzen; nicht
Iphigenie ist die Zweifelnde wie bei Euripides, sondern Orest erkennt die
wiedergefundene Schwester nicht an, und auch er nicht, weil er zweifelt, sondern
weil sein innerer Zustand, der höllische, wie Orest ihn selbst bezeichnet, sich
gegen die Reine und Hoheit der Schwester auflehnt. Er zwingt sich, sie zu
verkennen, er beschimpft ihre Zärtlichkeit in wahnsinniger Verblendung, die
bösen Geister, nicht die Eumeniden der Tantalossage, gewinnen Macht über
ihn, er bricht in Ermattung zusammen, und erst als Iphigenie ihn verlassen
hat, wird er ruhiger, aber es ist die Ruhe des Todes, des alles heilenden,
die ihn umfängt. Er träumt den Traum der Unterwelt, Vater und Mutter
kommen ihm Hand in Hand entgegen, und so ist der Blick in das Jenseits
die Krisis, die zur Genesung führt. Als Iphigenie mit dein Freunde zurück¬
kehrt, erwacht er, frei von den Qualen des Gewissens, zum neuen Leben der
holden irdischen Gegenwart. Merkwürdig ist, daß Iphigenie ihren Bruder
verläßt, als er im Kampfe mit dem Fluche, der auf ihm lastet, ermattet zu¬
sammensinkt. Warum bleibt sie nicht bei ihm? Die deutsche Schwester, sollte
man meinen, würde das Haupt des ermattenden Bruders in ihre Hand ge¬
nommen und ihm den kalten Schweiß von der Stirn getrocknet haben. Sie
vermag, so sagt sie, dies Glück und Elend nicht zu ertragen, sie sucht Pylades
auf, den treuen Freund, den teuern Mann. Pylades ist nicht, wie bei Euri¬
pides, der Verlobte der Elektra, durch kein Band der Verwandtschaft mit Orest
und Iphigenien verbunden, auch dürfen wir bei Iphigenien nicht eine keimende


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[0560] Goethes !vettkampf mit den griechischen Dichtern Liebe zum Freunde von früher Kindheit an ist auch eine Seite des großen Liebesthemas, das Goethe behandelt, aber sie ist doch eine irdische Liebe, nicht zu vergleichen mit der heiligen, priesterlichen Glut in Jphigeniens Brust. Pylades ermutigt den Orest, aber er heilt ihn nicht; was er in Orests Ab¬ wesenheit der Priesterin vorspiegelt, sie, die beiden Gefangnen, seien Brüder, Söhne des Adrast von Kreta, er heiße Cephalus, der andre Laodamas, dieser, der ältere, habe einen im Alter zwischen ihnen stehenden Bruder erschlagen und werde deshalb von den Furien verfolgt, macht fast den Eindruck eines leichtfertigen Spieles, wenn wir Jphigeniens Ernst dagegen halten. Wie Thoas, so erscheint auch Pylades der königlichen und priesterlichen Jungfrau gegen¬ über klein, aber wie jener, so ist auch er eine edle Natur, und dies ist not¬ wendig, damit die Abstufung der Charaktere nicht zur unausfüllbaren Kluft werde. Den dritten Akt erfüllt die große Szene zwischen Iphigenie und Orest. Es ist vielleicht das Erhabenste, was jemals im Geiste eines Dichters Leben und Gestalt gewonen hat, und am wenigsten darf man es Euripides als einen Fehler anrechnen, daß er nicht auf demselben Pfade gewandelt ist. Die ganze christliche Kultur gehörte dazu, einen solchen Gedanken zu zeitigen, ja man kann sagen, daß Goethe selbst nicht ganz das erreicht hat, was ihm vorschwebte, die Heilung des Orest durch die Macht hoher Weiblichkeit. Die Erkennungsszene ist ganz mit dem Heilungsprozeß verschmolzen; nicht Iphigenie ist die Zweifelnde wie bei Euripides, sondern Orest erkennt die wiedergefundene Schwester nicht an, und auch er nicht, weil er zweifelt, sondern weil sein innerer Zustand, der höllische, wie Orest ihn selbst bezeichnet, sich gegen die Reine und Hoheit der Schwester auflehnt. Er zwingt sich, sie zu verkennen, er beschimpft ihre Zärtlichkeit in wahnsinniger Verblendung, die bösen Geister, nicht die Eumeniden der Tantalossage, gewinnen Macht über ihn, er bricht in Ermattung zusammen, und erst als Iphigenie ihn verlassen hat, wird er ruhiger, aber es ist die Ruhe des Todes, des alles heilenden, die ihn umfängt. Er träumt den Traum der Unterwelt, Vater und Mutter kommen ihm Hand in Hand entgegen, und so ist der Blick in das Jenseits die Krisis, die zur Genesung führt. Als Iphigenie mit dein Freunde zurück¬ kehrt, erwacht er, frei von den Qualen des Gewissens, zum neuen Leben der holden irdischen Gegenwart. Merkwürdig ist, daß Iphigenie ihren Bruder verläßt, als er im Kampfe mit dem Fluche, der auf ihm lastet, ermattet zu¬ sammensinkt. Warum bleibt sie nicht bei ihm? Die deutsche Schwester, sollte man meinen, würde das Haupt des ermattenden Bruders in ihre Hand ge¬ nommen und ihm den kalten Schweiß von der Stirn getrocknet haben. Sie vermag, so sagt sie, dies Glück und Elend nicht zu ertragen, sie sucht Pylades auf, den treuen Freund, den teuern Mann. Pylades ist nicht, wie bei Euri¬ pides, der Verlobte der Elektra, durch kein Band der Verwandtschaft mit Orest und Iphigenien verbunden, auch dürfen wir bei Iphigenien nicht eine keimende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/560>, abgerufen am 05.02.2025.