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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern

Grunde nnr we"ig mehr als die Sklavin, und im Verkehr mit Männern war
die List ihre Stärke, wie Orest sagt:


In, gilt es List zu spinnen, seid ihr Frauen stark.

List wird immer ein Erbteil der Frauen sein, aber nur List, nur kalte Be¬
rechnung, mir empfindungslose Durchführung eines Planes ist widerlich, ist
Sklavensinn und sittliche Unlauterkeit. Man nennt Euripides nicht mit Un¬
recht den Philosophen unter den griechischen Dramatikern, und in der That,
oft legt er seinen Personen Aussprüche in den Mund, die von der kritischen
Schärfe seiner Reflexionen und Beobachtungen zeugen. Sollte er umvillkürlich
in Jphigeniens Gestalt einen Zug tantalischer Hinterlist gelegt haben, der ihm
gerade darum interessant war, weil er die gedrückte Stellung der griechischen
Frau symbolisch zur Darstellung bringen wollte?

Merkwürdig sind endlich noch gewisse anklingende, aber in der ganzen
Anlage des Stückes absichtlich vernachlässigte Motive. So sagt Phlades im
zweiten Auftritt zu Orest, als dieser schou verzweifelt, das Bild der Göttin zu
erlangen, und an Flucht denkt:


Stein, fliehen ist nicht meine Art, das kann ich nicht,
Auch Hiesie das beschimpfen diesen Götterspruch.
Verlassen wir den Tempel und verbergen uns
In Höhlen, deren Rand das dunkle Meer bespült,
Fern unserm Schiff, damit wir, wenn eS einer sieht
Und Meldung macht dem König, nicht verloren sind.
Doch wenn die Nacht in tiefe Schatten alles hüllt,
Dann gilt es, List zu brauchen, um das Marmorbild
Herauszuholen aus der Göttin Heiligtum.

Offenbar ist für Phlades in dieser Szene eine prächtige Charakteruuter-
lage geschaffen, er könnte als der kluge, mutige Freund sehr wirksam in das
Stück eingreifen, aber es bleibt bei der Unterlage, der Charakter ist nur vor¬
gezeichnet, nicht ausgeführt. In der bald darauf folgenden großen Szene, wo
er mit Orest gebunden vor die Priesterin gebracht wird, schweigt er, und erst
nachdem Iphigenie und Orest die Bestimmung getroffen haben, daß er den
Brief der Priesterin nach Argos bringen soll und Iphigenie sich entfernt hat,
regt er sich wieder, aber mir, um uach einem kurzen edeln Wettstreite mit
Orest um das Vorrecht der Opferwilligkeit dein lebensmüden Freunde nachzu¬
geben und das Botenamt anzunehmen. Thors ferner sagt im Gespräch mit
Iphigenien ein Wort, das zu einer sehr naheliegenden Episode Veranlassung
hätte geben können.


Iphigenie

Niemand darf von meinen Freunden --


Thoas

Meinst du mich mit diesem Wort?


Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern

Grunde nnr we»ig mehr als die Sklavin, und im Verkehr mit Männern war
die List ihre Stärke, wie Orest sagt:


In, gilt es List zu spinnen, seid ihr Frauen stark.

List wird immer ein Erbteil der Frauen sein, aber nur List, nur kalte Be¬
rechnung, mir empfindungslose Durchführung eines Planes ist widerlich, ist
Sklavensinn und sittliche Unlauterkeit. Man nennt Euripides nicht mit Un¬
recht den Philosophen unter den griechischen Dramatikern, und in der That,
oft legt er seinen Personen Aussprüche in den Mund, die von der kritischen
Schärfe seiner Reflexionen und Beobachtungen zeugen. Sollte er umvillkürlich
in Jphigeniens Gestalt einen Zug tantalischer Hinterlist gelegt haben, der ihm
gerade darum interessant war, weil er die gedrückte Stellung der griechischen
Frau symbolisch zur Darstellung bringen wollte?

Merkwürdig sind endlich noch gewisse anklingende, aber in der ganzen
Anlage des Stückes absichtlich vernachlässigte Motive. So sagt Phlades im
zweiten Auftritt zu Orest, als dieser schou verzweifelt, das Bild der Göttin zu
erlangen, und an Flucht denkt:


Stein, fliehen ist nicht meine Art, das kann ich nicht,
Auch Hiesie das beschimpfen diesen Götterspruch.
Verlassen wir den Tempel und verbergen uns
In Höhlen, deren Rand das dunkle Meer bespült,
Fern unserm Schiff, damit wir, wenn eS einer sieht
Und Meldung macht dem König, nicht verloren sind.
Doch wenn die Nacht in tiefe Schatten alles hüllt,
Dann gilt es, List zu brauchen, um das Marmorbild
Herauszuholen aus der Göttin Heiligtum.

Offenbar ist für Phlades in dieser Szene eine prächtige Charakteruuter-
lage geschaffen, er könnte als der kluge, mutige Freund sehr wirksam in das
Stück eingreifen, aber es bleibt bei der Unterlage, der Charakter ist nur vor¬
gezeichnet, nicht ausgeführt. In der bald darauf folgenden großen Szene, wo
er mit Orest gebunden vor die Priesterin gebracht wird, schweigt er, und erst
nachdem Iphigenie und Orest die Bestimmung getroffen haben, daß er den
Brief der Priesterin nach Argos bringen soll und Iphigenie sich entfernt hat,
regt er sich wieder, aber mir, um uach einem kurzen edeln Wettstreite mit
Orest um das Vorrecht der Opferwilligkeit dein lebensmüden Freunde nachzu¬
geben und das Botenamt anzunehmen. Thors ferner sagt im Gespräch mit
Iphigenien ein Wort, das zu einer sehr naheliegenden Episode Veranlassung
hätte geben können.


Iphigenie

Niemand darf von meinen Freunden —


Thoas

Meinst du mich mit diesem Wort?


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[0515] Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern Grunde nnr we»ig mehr als die Sklavin, und im Verkehr mit Männern war die List ihre Stärke, wie Orest sagt: In, gilt es List zu spinnen, seid ihr Frauen stark. List wird immer ein Erbteil der Frauen sein, aber nur List, nur kalte Be¬ rechnung, mir empfindungslose Durchführung eines Planes ist widerlich, ist Sklavensinn und sittliche Unlauterkeit. Man nennt Euripides nicht mit Un¬ recht den Philosophen unter den griechischen Dramatikern, und in der That, oft legt er seinen Personen Aussprüche in den Mund, die von der kritischen Schärfe seiner Reflexionen und Beobachtungen zeugen. Sollte er umvillkürlich in Jphigeniens Gestalt einen Zug tantalischer Hinterlist gelegt haben, der ihm gerade darum interessant war, weil er die gedrückte Stellung der griechischen Frau symbolisch zur Darstellung bringen wollte? Merkwürdig sind endlich noch gewisse anklingende, aber in der ganzen Anlage des Stückes absichtlich vernachlässigte Motive. So sagt Phlades im zweiten Auftritt zu Orest, als dieser schou verzweifelt, das Bild der Göttin zu erlangen, und an Flucht denkt: Stein, fliehen ist nicht meine Art, das kann ich nicht, Auch Hiesie das beschimpfen diesen Götterspruch. Verlassen wir den Tempel und verbergen uns In Höhlen, deren Rand das dunkle Meer bespült, Fern unserm Schiff, damit wir, wenn eS einer sieht Und Meldung macht dem König, nicht verloren sind. Doch wenn die Nacht in tiefe Schatten alles hüllt, Dann gilt es, List zu brauchen, um das Marmorbild Herauszuholen aus der Göttin Heiligtum. Offenbar ist für Phlades in dieser Szene eine prächtige Charakteruuter- lage geschaffen, er könnte als der kluge, mutige Freund sehr wirksam in das Stück eingreifen, aber es bleibt bei der Unterlage, der Charakter ist nur vor¬ gezeichnet, nicht ausgeführt. In der bald darauf folgenden großen Szene, wo er mit Orest gebunden vor die Priesterin gebracht wird, schweigt er, und erst nachdem Iphigenie und Orest die Bestimmung getroffen haben, daß er den Brief der Priesterin nach Argos bringen soll und Iphigenie sich entfernt hat, regt er sich wieder, aber mir, um uach einem kurzen edeln Wettstreite mit Orest um das Vorrecht der Opferwilligkeit dein lebensmüden Freunde nachzu¬ geben und das Botenamt anzunehmen. Thors ferner sagt im Gespräch mit Iphigenien ein Wort, das zu einer sehr naheliegenden Episode Veranlassung hätte geben können. Iphigenie Niemand darf von meinen Freunden — Thoas Meinst du mich mit diesem Wort?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/515>, abgerufen am 05.02.2025.