Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern

Eine merkwürdige Kritik der dem Stücke zu Grunde liegenden Sage läßt er,
unbewußt vielleicht, dem Thoas entschlüpfen, als ihm Iphigenie sagt, die ge¬
fangenen Fremden seien Mnttermörder:


Iphigenie

In grausem Bund vergossen sie der Mutter Blut,


Thoa s

O Phöbos, solches hätte kein Barbar vermocht!

Das, was Euripides zur dramatischen Bearbeitung des letzten Abschnitts
der Tantalossage anreizte, ist leicht erkennbar: es waren drei sehr wirksame
dramatische Motive, die Erkennungsszene, die Heilung des Orest und die
Flucht; die beiden letztern fielen schon in der Sage zusammen, und auch im
Drama sind sie nicht getrennt. Interessant ist nun, wie der griechische Dichter
diese Motive behandelt. Das Hauptgewicht legt er offenbar auf die Erken¬
nung und die Flucht, die Heilung kann ja nach der Sage vollständig erst mit
der Erfüllung des Orakelspruches, also in Athen geschehen. Euripides, der
vom Kern der Sage nirgends abweicht, drückt dies sehr bestimmt dadurch aus,
daß er am Schlüsse des Stückes Pallas Athene auftreten läßt, die gewisser¬
maßen das, was sich erst in Athen und vor dem Orakel zu Delphi abspielen
sollte, vorausnimmt. So erklärt sich diese an und für sich auffällige Erschei¬
nung eines nisus "zx umolliug,, es ist die notwendige Abrundung und Ab-
schließung des naiven Dramas.") Indem es aber Euripides unternahm, die
beiden übrigen Motive ihrem ganzen innern Gehalte nach durchzuführen, lag
die Gefahr sehr nahe, daß sein Stück in zwei Teile zerfiel. Bon der innigen
Verknüpfung dieser Teile hing der eigentliche Konflikt ab; die Flucht aller
Beteiligten und die Entführung des Bildes mußte als eine Steigerung der
Handlung zugleich eine Steigerung des Interesses in sich schließen, und man
muß sich sagen, daß dem Dichter diese Verknüpfung herrlich gelungen ist, indem
er die Sorge der Geschwister für einander zur Vermittlerin macht. Was die
Durchführung der Motive felbst anlangt, so ist ohne Zweifel die Erkennungs-
szeue ein Meisterstück antiker Dramatik. Obgleich es etwas gesucht erscheint,
daß Iphigenie einen Brief, den ihr ein Gefangener und durch sie Geopferter
geschrieben haben soll, nach Argos schicken will und zu diesem Botendienste
einen der Fremden bestimmt, die nach Landessitte dem Opfertode am Altare
der Göttin geweiht sind, so sind doch die Gemütsbewegungen des Orest während
des Vorlesens dieses Briefes und während der damit verknüpften allmählichen
Enthüllung des wahren Verhältnisses geradezu ergreifend. Er eilt zu ihr, er



*) Euripides pflegt immer statt der Exposition den Herold und zur Losung des Konflikts
eine Gottheit auftreten zu lassen, insofern ist auch hier das Erscheinen der Athene vom Stand-
Punkte des Dichters aus gerechtfertigt.
Grenzboten II 1889 64
Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern

Eine merkwürdige Kritik der dem Stücke zu Grunde liegenden Sage läßt er,
unbewußt vielleicht, dem Thoas entschlüpfen, als ihm Iphigenie sagt, die ge¬
fangenen Fremden seien Mnttermörder:


Iphigenie

In grausem Bund vergossen sie der Mutter Blut,


Thoa s

O Phöbos, solches hätte kein Barbar vermocht!

Das, was Euripides zur dramatischen Bearbeitung des letzten Abschnitts
der Tantalossage anreizte, ist leicht erkennbar: es waren drei sehr wirksame
dramatische Motive, die Erkennungsszene, die Heilung des Orest und die
Flucht; die beiden letztern fielen schon in der Sage zusammen, und auch im
Drama sind sie nicht getrennt. Interessant ist nun, wie der griechische Dichter
diese Motive behandelt. Das Hauptgewicht legt er offenbar auf die Erken¬
nung und die Flucht, die Heilung kann ja nach der Sage vollständig erst mit
der Erfüllung des Orakelspruches, also in Athen geschehen. Euripides, der
vom Kern der Sage nirgends abweicht, drückt dies sehr bestimmt dadurch aus,
daß er am Schlüsse des Stückes Pallas Athene auftreten läßt, die gewisser¬
maßen das, was sich erst in Athen und vor dem Orakel zu Delphi abspielen
sollte, vorausnimmt. So erklärt sich diese an und für sich auffällige Erschei¬
nung eines nisus «zx umolliug,, es ist die notwendige Abrundung und Ab-
schließung des naiven Dramas.") Indem es aber Euripides unternahm, die
beiden übrigen Motive ihrem ganzen innern Gehalte nach durchzuführen, lag
die Gefahr sehr nahe, daß sein Stück in zwei Teile zerfiel. Bon der innigen
Verknüpfung dieser Teile hing der eigentliche Konflikt ab; die Flucht aller
Beteiligten und die Entführung des Bildes mußte als eine Steigerung der
Handlung zugleich eine Steigerung des Interesses in sich schließen, und man
muß sich sagen, daß dem Dichter diese Verknüpfung herrlich gelungen ist, indem
er die Sorge der Geschwister für einander zur Vermittlerin macht. Was die
Durchführung der Motive felbst anlangt, so ist ohne Zweifel die Erkennungs-
szeue ein Meisterstück antiker Dramatik. Obgleich es etwas gesucht erscheint,
daß Iphigenie einen Brief, den ihr ein Gefangener und durch sie Geopferter
geschrieben haben soll, nach Argos schicken will und zu diesem Botendienste
einen der Fremden bestimmt, die nach Landessitte dem Opfertode am Altare
der Göttin geweiht sind, so sind doch die Gemütsbewegungen des Orest während
des Vorlesens dieses Briefes und während der damit verknüpften allmählichen
Enthüllung des wahren Verhältnisses geradezu ergreifend. Er eilt zu ihr, er



*) Euripides pflegt immer statt der Exposition den Herold und zur Losung des Konflikts
eine Gottheit auftreten zu lassen, insofern ist auch hier das Erscheinen der Athene vom Stand-
Punkte des Dichters aus gerechtfertigt.
Grenzboten II 1889 64
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0513" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205244"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1421" prev="#ID_1420"> Eine merkwürdige Kritik der dem Stücke zu Grunde liegenden Sage läßt er,<lb/>
unbewußt vielleicht, dem Thoas entschlüpfen, als ihm Iphigenie sagt, die ge¬<lb/>
fangenen Fremden seien Mnttermörder:</p><lb/>
          <note type="speaker"> Iphigenie</note><lb/>
          <p xml:id="ID_1422"> In grausem Bund vergossen sie der Mutter Blut,</p><lb/>
          <note type="speaker"> Thoa s</note><lb/>
          <p xml:id="ID_1423"> O Phöbos, solches hätte kein Barbar vermocht!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1424" next="#ID_1425"> Das, was Euripides zur dramatischen Bearbeitung des letzten Abschnitts<lb/>
der Tantalossage anreizte, ist leicht erkennbar: es waren drei sehr wirksame<lb/>
dramatische Motive, die Erkennungsszene, die Heilung des Orest und die<lb/>
Flucht; die beiden letztern fielen schon in der Sage zusammen, und auch im<lb/>
Drama sind sie nicht getrennt. Interessant ist nun, wie der griechische Dichter<lb/>
diese Motive behandelt. Das Hauptgewicht legt er offenbar auf die Erken¬<lb/>
nung und die Flucht, die Heilung kann ja nach der Sage vollständig erst mit<lb/>
der Erfüllung des Orakelspruches, also in Athen geschehen. Euripides, der<lb/>
vom Kern der Sage nirgends abweicht, drückt dies sehr bestimmt dadurch aus,<lb/>
daß er am Schlüsse des Stückes Pallas Athene auftreten läßt, die gewisser¬<lb/>
maßen das, was sich erst in Athen und vor dem Orakel zu Delphi abspielen<lb/>
sollte, vorausnimmt. So erklärt sich diese an und für sich auffällige Erschei¬<lb/>
nung eines nisus «zx umolliug,, es ist die notwendige Abrundung und Ab-<lb/>
schließung des naiven Dramas.") Indem es aber Euripides unternahm, die<lb/>
beiden übrigen Motive ihrem ganzen innern Gehalte nach durchzuführen, lag<lb/>
die Gefahr sehr nahe, daß sein Stück in zwei Teile zerfiel. Bon der innigen<lb/>
Verknüpfung dieser Teile hing der eigentliche Konflikt ab; die Flucht aller<lb/>
Beteiligten und die Entführung des Bildes mußte als eine Steigerung der<lb/>
Handlung zugleich eine Steigerung des Interesses in sich schließen, und man<lb/>
muß sich sagen, daß dem Dichter diese Verknüpfung herrlich gelungen ist, indem<lb/>
er die Sorge der Geschwister für einander zur Vermittlerin macht. Was die<lb/>
Durchführung der Motive felbst anlangt, so ist ohne Zweifel die Erkennungs-<lb/>
szeue ein Meisterstück antiker Dramatik. Obgleich es etwas gesucht erscheint,<lb/>
daß Iphigenie einen Brief, den ihr ein Gefangener und durch sie Geopferter<lb/>
geschrieben haben soll, nach Argos schicken will und zu diesem Botendienste<lb/>
einen der Fremden bestimmt, die nach Landessitte dem Opfertode am Altare<lb/>
der Göttin geweiht sind, so sind doch die Gemütsbewegungen des Orest während<lb/>
des Vorlesens dieses Briefes und während der damit verknüpften allmählichen<lb/>
Enthüllung des wahren Verhältnisses geradezu ergreifend. Er eilt zu ihr, er</p><lb/>
          <note xml:id="FID_70" place="foot"> *) Euripides pflegt immer statt der Exposition den Herold und zur Losung des Konflikts<lb/>
eine Gottheit auftreten zu lassen, insofern ist auch hier das Erscheinen der Athene vom Stand-<lb/>
Punkte des Dichters aus gerechtfertigt.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1889 64</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0513] Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern Eine merkwürdige Kritik der dem Stücke zu Grunde liegenden Sage läßt er, unbewußt vielleicht, dem Thoas entschlüpfen, als ihm Iphigenie sagt, die ge¬ fangenen Fremden seien Mnttermörder: Iphigenie In grausem Bund vergossen sie der Mutter Blut, Thoa s O Phöbos, solches hätte kein Barbar vermocht! Das, was Euripides zur dramatischen Bearbeitung des letzten Abschnitts der Tantalossage anreizte, ist leicht erkennbar: es waren drei sehr wirksame dramatische Motive, die Erkennungsszene, die Heilung des Orest und die Flucht; die beiden letztern fielen schon in der Sage zusammen, und auch im Drama sind sie nicht getrennt. Interessant ist nun, wie der griechische Dichter diese Motive behandelt. Das Hauptgewicht legt er offenbar auf die Erken¬ nung und die Flucht, die Heilung kann ja nach der Sage vollständig erst mit der Erfüllung des Orakelspruches, also in Athen geschehen. Euripides, der vom Kern der Sage nirgends abweicht, drückt dies sehr bestimmt dadurch aus, daß er am Schlüsse des Stückes Pallas Athene auftreten läßt, die gewisser¬ maßen das, was sich erst in Athen und vor dem Orakel zu Delphi abspielen sollte, vorausnimmt. So erklärt sich diese an und für sich auffällige Erschei¬ nung eines nisus «zx umolliug,, es ist die notwendige Abrundung und Ab- schließung des naiven Dramas.") Indem es aber Euripides unternahm, die beiden übrigen Motive ihrem ganzen innern Gehalte nach durchzuführen, lag die Gefahr sehr nahe, daß sein Stück in zwei Teile zerfiel. Bon der innigen Verknüpfung dieser Teile hing der eigentliche Konflikt ab; die Flucht aller Beteiligten und die Entführung des Bildes mußte als eine Steigerung der Handlung zugleich eine Steigerung des Interesses in sich schließen, und man muß sich sagen, daß dem Dichter diese Verknüpfung herrlich gelungen ist, indem er die Sorge der Geschwister für einander zur Vermittlerin macht. Was die Durchführung der Motive felbst anlangt, so ist ohne Zweifel die Erkennungs- szeue ein Meisterstück antiker Dramatik. Obgleich es etwas gesucht erscheint, daß Iphigenie einen Brief, den ihr ein Gefangener und durch sie Geopferter geschrieben haben soll, nach Argos schicken will und zu diesem Botendienste einen der Fremden bestimmt, die nach Landessitte dem Opfertode am Altare der Göttin geweiht sind, so sind doch die Gemütsbewegungen des Orest während des Vorlesens dieses Briefes und während der damit verknüpften allmählichen Enthüllung des wahren Verhältnisses geradezu ergreifend. Er eilt zu ihr, er *) Euripides pflegt immer statt der Exposition den Herold und zur Losung des Konflikts eine Gottheit auftreten zu lassen, insofern ist auch hier das Erscheinen der Athene vom Stand- Punkte des Dichters aus gerechtfertigt. Grenzboten II 1889 64

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/513
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/513>, abgerufen am 05.02.2025.