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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Goethes ZVettkmnpf mit den griechischen Dichtern

kalten Unterwelt bestimmt zu sein, ihre Sehnsucht nach den blumigen Allen
ihrer Kindheit wird so stark, daß sie sich des königlichen Schmuckes entledigt
und sich ganz wieder als frohes Mädchen fühlt. Da greift sie nach der Fracht
des Granatbaumes, genießt davon und verfällt nnn erst für immer der Unter¬
welt. Ihre Trauer, ihr ganzes Gebahren ist so innig, so verständlich, so
modern-sentimental und doch von antiker Hoheit so durchdrungen, daß man sie
eine Vorstudie zu Iphigenie nennen könnte. Merkwürdigerweise schob Goethe
diese ernst gemeinte Dichtung ein Jahr später in den durchaus satirischen
"Triumph der Empfindsamkeit" ein, als wollte er sich selbst verspotten. So
weit war er noch davon entfernt, sich als Schüler der griechischen Tragiker zu
fühlen! Erst im Jahre 177!", mitten im größten poetischen Schaffen, als
Egmont und Wilhelm Meister sich gestalteten und vielleicht schon Tnsso sich
regte, unternahm er den Wettkampf mit Euripides.

Der griechische Dichter hatte die alte Tantalidensage in ihrer plastischen
Einfalt auf sich wirken lassen; die kulturhistorischen Ideen von der fvrtzeugen-
den Schuld, von der allmählichen Verwerfung des Menschenopfers, von der
sühnenden und heilenden Wirkung einer höheren sittlichen Kultur tnucheu nur
nebenbei, in der Form vereinzelter Sentenzen bei ihm auf. Orest, wegen
des Muttermordes von den Eumeniden verfolgt, kommt auf Geheiß des Apollo
zu den Tmiriern, um das Bild der Artemis den Barbaren zu entreißen und
nach Athen zu bringen, denn um diesen Preis ist ihm die Heilung verheißen.
Bei den Tanriern findet er seine Schwester, die in Antis angeblich geopferte
Iphigenie, und mit deren List gelingt es ihm, das Bild zu entführen. Er
entflieht mit der Schwester und dem Freunde Pylades; Thoas, der König
der Tnnrier, möchte ihn verfolgen, aber Athene, der Äsns ox all-vlimu, erscheint,
bringt alles in Ordnung und erläßt noch einige humane Vestimmuugeil in
Betreff des MeuscheuvpferS und der Gerichtspflege -- Dinge, die den alten
Griechen wohl sehr interessant sein mochten, für uns aber nicht mehr von
Belang sind.

Euripides ist indes nicht durchaus der naive Dichter, wie er naturgemäß
aus dem griechischen Volkstume herauswuchs, sondern, zugleich kritisch und
gelegentlich sentimental, wie es das Kimonische lind Perikleische Zeitalter mit
sich brachte. So beurteilt er in dem Monolog der Iphigenie vor dem Chvr-
gesange: Finsterer Sund, finstere Furt (4. Auftritt) die alten Götter- und
Hervensagen ziemlich scharf vom Standpunkte der Vernunft aus. Läßt er doch
die Priesterin der Artemis sagen:


Drum halt ich auch
Für alte Fabel jenes Mahl bei Tantalvs,
Wo Götter sich an seines Sohnes Fleisch gelabt.
So schiebt das Volk die eigne frevelhafte Lust
An Blut und Menschenopfern seineu Göttern zu.

Goethes ZVettkmnpf mit den griechischen Dichtern

kalten Unterwelt bestimmt zu sein, ihre Sehnsucht nach den blumigen Allen
ihrer Kindheit wird so stark, daß sie sich des königlichen Schmuckes entledigt
und sich ganz wieder als frohes Mädchen fühlt. Da greift sie nach der Fracht
des Granatbaumes, genießt davon und verfällt nnn erst für immer der Unter¬
welt. Ihre Trauer, ihr ganzes Gebahren ist so innig, so verständlich, so
modern-sentimental und doch von antiker Hoheit so durchdrungen, daß man sie
eine Vorstudie zu Iphigenie nennen könnte. Merkwürdigerweise schob Goethe
diese ernst gemeinte Dichtung ein Jahr später in den durchaus satirischen
„Triumph der Empfindsamkeit" ein, als wollte er sich selbst verspotten. So
weit war er noch davon entfernt, sich als Schüler der griechischen Tragiker zu
fühlen! Erst im Jahre 177!», mitten im größten poetischen Schaffen, als
Egmont und Wilhelm Meister sich gestalteten und vielleicht schon Tnsso sich
regte, unternahm er den Wettkampf mit Euripides.

Der griechische Dichter hatte die alte Tantalidensage in ihrer plastischen
Einfalt auf sich wirken lassen; die kulturhistorischen Ideen von der fvrtzeugen-
den Schuld, von der allmählichen Verwerfung des Menschenopfers, von der
sühnenden und heilenden Wirkung einer höheren sittlichen Kultur tnucheu nur
nebenbei, in der Form vereinzelter Sentenzen bei ihm auf. Orest, wegen
des Muttermordes von den Eumeniden verfolgt, kommt auf Geheiß des Apollo
zu den Tmiriern, um das Bild der Artemis den Barbaren zu entreißen und
nach Athen zu bringen, denn um diesen Preis ist ihm die Heilung verheißen.
Bei den Tanriern findet er seine Schwester, die in Antis angeblich geopferte
Iphigenie, und mit deren List gelingt es ihm, das Bild zu entführen. Er
entflieht mit der Schwester und dem Freunde Pylades; Thoas, der König
der Tnnrier, möchte ihn verfolgen, aber Athene, der Äsns ox all-vlimu, erscheint,
bringt alles in Ordnung und erläßt noch einige humane Vestimmuugeil in
Betreff des MeuscheuvpferS und der Gerichtspflege — Dinge, die den alten
Griechen wohl sehr interessant sein mochten, für uns aber nicht mehr von
Belang sind.

Euripides ist indes nicht durchaus der naive Dichter, wie er naturgemäß
aus dem griechischen Volkstume herauswuchs, sondern, zugleich kritisch und
gelegentlich sentimental, wie es das Kimonische lind Perikleische Zeitalter mit
sich brachte. So beurteilt er in dem Monolog der Iphigenie vor dem Chvr-
gesange: Finsterer Sund, finstere Furt (4. Auftritt) die alten Götter- und
Hervensagen ziemlich scharf vom Standpunkte der Vernunft aus. Läßt er doch
die Priesterin der Artemis sagen:


Drum halt ich auch
Für alte Fabel jenes Mahl bei Tantalvs,
Wo Götter sich an seines Sohnes Fleisch gelabt.
So schiebt das Volk die eigne frevelhafte Lust
An Blut und Menschenopfern seineu Göttern zu.

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[0512] Goethes ZVettkmnpf mit den griechischen Dichtern kalten Unterwelt bestimmt zu sein, ihre Sehnsucht nach den blumigen Allen ihrer Kindheit wird so stark, daß sie sich des königlichen Schmuckes entledigt und sich ganz wieder als frohes Mädchen fühlt. Da greift sie nach der Fracht des Granatbaumes, genießt davon und verfällt nnn erst für immer der Unter¬ welt. Ihre Trauer, ihr ganzes Gebahren ist so innig, so verständlich, so modern-sentimental und doch von antiker Hoheit so durchdrungen, daß man sie eine Vorstudie zu Iphigenie nennen könnte. Merkwürdigerweise schob Goethe diese ernst gemeinte Dichtung ein Jahr später in den durchaus satirischen „Triumph der Empfindsamkeit" ein, als wollte er sich selbst verspotten. So weit war er noch davon entfernt, sich als Schüler der griechischen Tragiker zu fühlen! Erst im Jahre 177!», mitten im größten poetischen Schaffen, als Egmont und Wilhelm Meister sich gestalteten und vielleicht schon Tnsso sich regte, unternahm er den Wettkampf mit Euripides. Der griechische Dichter hatte die alte Tantalidensage in ihrer plastischen Einfalt auf sich wirken lassen; die kulturhistorischen Ideen von der fvrtzeugen- den Schuld, von der allmählichen Verwerfung des Menschenopfers, von der sühnenden und heilenden Wirkung einer höheren sittlichen Kultur tnucheu nur nebenbei, in der Form vereinzelter Sentenzen bei ihm auf. Orest, wegen des Muttermordes von den Eumeniden verfolgt, kommt auf Geheiß des Apollo zu den Tmiriern, um das Bild der Artemis den Barbaren zu entreißen und nach Athen zu bringen, denn um diesen Preis ist ihm die Heilung verheißen. Bei den Tanriern findet er seine Schwester, die in Antis angeblich geopferte Iphigenie, und mit deren List gelingt es ihm, das Bild zu entführen. Er entflieht mit der Schwester und dem Freunde Pylades; Thoas, der König der Tnnrier, möchte ihn verfolgen, aber Athene, der Äsns ox all-vlimu, erscheint, bringt alles in Ordnung und erläßt noch einige humane Vestimmuugeil in Betreff des MeuscheuvpferS und der Gerichtspflege — Dinge, die den alten Griechen wohl sehr interessant sein mochten, für uns aber nicht mehr von Belang sind. Euripides ist indes nicht durchaus der naive Dichter, wie er naturgemäß aus dem griechischen Volkstume herauswuchs, sondern, zugleich kritisch und gelegentlich sentimental, wie es das Kimonische lind Perikleische Zeitalter mit sich brachte. So beurteilt er in dem Monolog der Iphigenie vor dem Chvr- gesange: Finsterer Sund, finstere Furt (4. Auftritt) die alten Götter- und Hervensagen ziemlich scharf vom Standpunkte der Vernunft aus. Läßt er doch die Priesterin der Artemis sagen: Drum halt ich auch Für alte Fabel jenes Mahl bei Tantalvs, Wo Götter sich an seines Sohnes Fleisch gelabt. So schiebt das Volk die eigne frevelhafte Lust An Blut und Menschenopfern seineu Göttern zu.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/512>, abgerufen am 05.02.2025.