Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Erzählungen

Augen. Je ängstlicher unserm guten Belling zu Mute ist, um so steiler stehen
ihm die schwarzen Haare in die Höhe, um so grimmiger wird der Ausdruck
seines Gesichts. Es ist, als ob die Natur dieses schwache Herz mit einem
Schutzwall hätte umgeben wollen. Dieser seiner Eigenschaft ist sich Belling
völlig bewußt, im Ernst und im Humor, in Leid und in Genugthuung, und
hinter seinem grimmigen Gesicht findet er Schutz vor der wilden Jugend seines
Gymnasiums, deren Ungebcrdigkeit weithin bekannt ist. Diesen Verkehr Bellings
mit seinen Rangen hat Hoffmann aufs köstlichste geschildert. Den Spitznamen
"Iwan der Schreckliche" hat die witzige Jugend ihrem unverhofften Meister
gegeben. Köstlich ist auch die Wirkung des grimmigen Gesichtes auf die klein¬
städtische Gesellschaft, die den Besieger der wilden Tertia hoch in Ehren hält.
Der wahre Sachverhalt bleibt ihr aber ein Geheimnis, bis für den armen
Mathematikus auch die Stunde schlägt. Hoffmann hat ihn in eine hübsche
Liebesgeschichte verwickelt, die leider bei aller Anmut doch über die konventio¬
nellen Figuren nicht hinausgekommen ist: dies ist die Schwäche der sonst so
geistvollen Erfindung. Der Hund Iwans des Schrecklichen, der eine feinere
Nase hat als alle Menschen und die Gutmütigkeit seines Herrn verhängnisvoll
durch seinen gänzlichen Mangel an Disziplin an den Tag bringt, reiht sich
mit Ehren den vielen poetischen Hunden der modernen Novellistik an, ins¬
besondre um "Tambi" in der gleichnamigen Novelle Ferdinands von Saar,
der dasselbe Schicksal erleidet: er wird auch von einem Fremden niedergeschossen,
weil sein Herr nicht imstande war, bei Zeiten seine natürliche Ungeberdigkeit
zu zähmen.

Wollte man den neuesten Roman Friedrich Spielhagens, Ein neuer
Pharao (Leipzig, Staackmann, 1889) uur von rein ästhetischen Gesichtspunkten
betrachten, so würde man dem Verfasser einigermaßen Unrecht thun. Wenn man
ein Buch uach dem vorwiegenden Eindruck beurteilen soll, den es hinterläßt und
den es doch auch Wohl hervorzurufen bestimmt war, wenn der Verfasser ein
rechter Künstler ist, so muß man Spielhagens "Neuen Pharao" nicht als eine
Dichtung, sondern als eine glänzende Rede oder Abhandlung betrachten, die
sich über tausend und noch etliche andre Dinge ergeht. Niemals dürfte es
Spielhagen weniger gelungen sein, die vielgepriesene epische Objektivität fest¬
zuhalten, als diesesmal. Niemals ist er so persönlich in allen Teilen der
Erzählung hervorgetreten, niemals hat er so wenig Rücksicht auf die Natur¬
wahrheit der Gespräche (die sich zu Abhandlungen ausdehnen) genommen, nie¬
mals hat er seine Figuren so wenig charakteristisch ausgestaltet, sie fo wenig
selbst reden und handeln lassen, damit sie uns durch das ihnen innewohnende
eigne Leben fesseln, als diesesmal. Auf einen besondern Grad von Originalität
kann die Erfindung der Handlung auch nicht Anspruch erheben. Wenn
uns das Buch trotz alledem nicht geradezu langweilt, so geschieht es nur
darum, weil der alternde Meister sich noch immer vortrefflich auf die Künste


Grenzboten II 1889 59
Neue Erzählungen

Augen. Je ängstlicher unserm guten Belling zu Mute ist, um so steiler stehen
ihm die schwarzen Haare in die Höhe, um so grimmiger wird der Ausdruck
seines Gesichts. Es ist, als ob die Natur dieses schwache Herz mit einem
Schutzwall hätte umgeben wollen. Dieser seiner Eigenschaft ist sich Belling
völlig bewußt, im Ernst und im Humor, in Leid und in Genugthuung, und
hinter seinem grimmigen Gesicht findet er Schutz vor der wilden Jugend seines
Gymnasiums, deren Ungebcrdigkeit weithin bekannt ist. Diesen Verkehr Bellings
mit seinen Rangen hat Hoffmann aufs köstlichste geschildert. Den Spitznamen
„Iwan der Schreckliche" hat die witzige Jugend ihrem unverhofften Meister
gegeben. Köstlich ist auch die Wirkung des grimmigen Gesichtes auf die klein¬
städtische Gesellschaft, die den Besieger der wilden Tertia hoch in Ehren hält.
Der wahre Sachverhalt bleibt ihr aber ein Geheimnis, bis für den armen
Mathematikus auch die Stunde schlägt. Hoffmann hat ihn in eine hübsche
Liebesgeschichte verwickelt, die leider bei aller Anmut doch über die konventio¬
nellen Figuren nicht hinausgekommen ist: dies ist die Schwäche der sonst so
geistvollen Erfindung. Der Hund Iwans des Schrecklichen, der eine feinere
Nase hat als alle Menschen und die Gutmütigkeit seines Herrn verhängnisvoll
durch seinen gänzlichen Mangel an Disziplin an den Tag bringt, reiht sich
mit Ehren den vielen poetischen Hunden der modernen Novellistik an, ins¬
besondre um „Tambi" in der gleichnamigen Novelle Ferdinands von Saar,
der dasselbe Schicksal erleidet: er wird auch von einem Fremden niedergeschossen,
weil sein Herr nicht imstande war, bei Zeiten seine natürliche Ungeberdigkeit
zu zähmen.

Wollte man den neuesten Roman Friedrich Spielhagens, Ein neuer
Pharao (Leipzig, Staackmann, 1889) uur von rein ästhetischen Gesichtspunkten
betrachten, so würde man dem Verfasser einigermaßen Unrecht thun. Wenn man
ein Buch uach dem vorwiegenden Eindruck beurteilen soll, den es hinterläßt und
den es doch auch Wohl hervorzurufen bestimmt war, wenn der Verfasser ein
rechter Künstler ist, so muß man Spielhagens „Neuen Pharao" nicht als eine
Dichtung, sondern als eine glänzende Rede oder Abhandlung betrachten, die
sich über tausend und noch etliche andre Dinge ergeht. Niemals dürfte es
Spielhagen weniger gelungen sein, die vielgepriesene epische Objektivität fest¬
zuhalten, als diesesmal. Niemals ist er so persönlich in allen Teilen der
Erzählung hervorgetreten, niemals hat er so wenig Rücksicht auf die Natur¬
wahrheit der Gespräche (die sich zu Abhandlungen ausdehnen) genommen, nie¬
mals hat er seine Figuren so wenig charakteristisch ausgestaltet, sie fo wenig
selbst reden und handeln lassen, damit sie uns durch das ihnen innewohnende
eigne Leben fesseln, als diesesmal. Auf einen besondern Grad von Originalität
kann die Erfindung der Handlung auch nicht Anspruch erheben. Wenn
uns das Buch trotz alledem nicht geradezu langweilt, so geschieht es nur
darum, weil der alternde Meister sich noch immer vortrefflich auf die Künste


Grenzboten II 1889 59
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0473" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205204"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Erzählungen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1313" prev="#ID_1312"> Augen. Je ängstlicher unserm guten Belling zu Mute ist, um so steiler stehen<lb/>
ihm die schwarzen Haare in die Höhe, um so grimmiger wird der Ausdruck<lb/>
seines Gesichts. Es ist, als ob die Natur dieses schwache Herz mit einem<lb/>
Schutzwall hätte umgeben wollen. Dieser seiner Eigenschaft ist sich Belling<lb/>
völlig bewußt, im Ernst und im Humor, in Leid und in Genugthuung, und<lb/>
hinter seinem grimmigen Gesicht findet er Schutz vor der wilden Jugend seines<lb/>
Gymnasiums, deren Ungebcrdigkeit weithin bekannt ist. Diesen Verkehr Bellings<lb/>
mit seinen Rangen hat Hoffmann aufs köstlichste geschildert. Den Spitznamen<lb/>
&#x201E;Iwan der Schreckliche" hat die witzige Jugend ihrem unverhofften Meister<lb/>
gegeben. Köstlich ist auch die Wirkung des grimmigen Gesichtes auf die klein¬<lb/>
städtische Gesellschaft, die den Besieger der wilden Tertia hoch in Ehren hält.<lb/>
Der wahre Sachverhalt bleibt ihr aber ein Geheimnis, bis für den armen<lb/>
Mathematikus auch die Stunde schlägt. Hoffmann hat ihn in eine hübsche<lb/>
Liebesgeschichte verwickelt, die leider bei aller Anmut doch über die konventio¬<lb/>
nellen Figuren nicht hinausgekommen ist: dies ist die Schwäche der sonst so<lb/>
geistvollen Erfindung. Der Hund Iwans des Schrecklichen, der eine feinere<lb/>
Nase hat als alle Menschen und die Gutmütigkeit seines Herrn verhängnisvoll<lb/>
durch seinen gänzlichen Mangel an Disziplin an den Tag bringt, reiht sich<lb/>
mit Ehren den vielen poetischen Hunden der modernen Novellistik an, ins¬<lb/>
besondre um &#x201E;Tambi" in der gleichnamigen Novelle Ferdinands von Saar,<lb/>
der dasselbe Schicksal erleidet: er wird auch von einem Fremden niedergeschossen,<lb/>
weil sein Herr nicht imstande war, bei Zeiten seine natürliche Ungeberdigkeit<lb/>
zu zähmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1314" next="#ID_1315"> Wollte man den neuesten Roman Friedrich Spielhagens, Ein neuer<lb/>
Pharao (Leipzig, Staackmann, 1889) uur von rein ästhetischen Gesichtspunkten<lb/>
betrachten, so würde man dem Verfasser einigermaßen Unrecht thun. Wenn man<lb/>
ein Buch uach dem vorwiegenden Eindruck beurteilen soll, den es hinterläßt und<lb/>
den es doch auch Wohl hervorzurufen bestimmt war, wenn der Verfasser ein<lb/>
rechter Künstler ist, so muß man Spielhagens &#x201E;Neuen Pharao" nicht als eine<lb/>
Dichtung, sondern als eine glänzende Rede oder Abhandlung betrachten, die<lb/>
sich über tausend und noch etliche andre Dinge ergeht. Niemals dürfte es<lb/>
Spielhagen weniger gelungen sein, die vielgepriesene epische Objektivität fest¬<lb/>
zuhalten, als diesesmal. Niemals ist er so persönlich in allen Teilen der<lb/>
Erzählung hervorgetreten, niemals hat er so wenig Rücksicht auf die Natur¬<lb/>
wahrheit der Gespräche (die sich zu Abhandlungen ausdehnen) genommen, nie¬<lb/>
mals hat er seine Figuren so wenig charakteristisch ausgestaltet, sie fo wenig<lb/>
selbst reden und handeln lassen, damit sie uns durch das ihnen innewohnende<lb/>
eigne Leben fesseln, als diesesmal. Auf einen besondern Grad von Originalität<lb/>
kann die Erfindung der Handlung auch nicht Anspruch erheben. Wenn<lb/>
uns das Buch trotz alledem nicht geradezu langweilt, so geschieht es nur<lb/>
darum, weil der alternde Meister sich noch immer vortrefflich auf die Künste</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1889 59</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0473] Neue Erzählungen Augen. Je ängstlicher unserm guten Belling zu Mute ist, um so steiler stehen ihm die schwarzen Haare in die Höhe, um so grimmiger wird der Ausdruck seines Gesichts. Es ist, als ob die Natur dieses schwache Herz mit einem Schutzwall hätte umgeben wollen. Dieser seiner Eigenschaft ist sich Belling völlig bewußt, im Ernst und im Humor, in Leid und in Genugthuung, und hinter seinem grimmigen Gesicht findet er Schutz vor der wilden Jugend seines Gymnasiums, deren Ungebcrdigkeit weithin bekannt ist. Diesen Verkehr Bellings mit seinen Rangen hat Hoffmann aufs köstlichste geschildert. Den Spitznamen „Iwan der Schreckliche" hat die witzige Jugend ihrem unverhofften Meister gegeben. Köstlich ist auch die Wirkung des grimmigen Gesichtes auf die klein¬ städtische Gesellschaft, die den Besieger der wilden Tertia hoch in Ehren hält. Der wahre Sachverhalt bleibt ihr aber ein Geheimnis, bis für den armen Mathematikus auch die Stunde schlägt. Hoffmann hat ihn in eine hübsche Liebesgeschichte verwickelt, die leider bei aller Anmut doch über die konventio¬ nellen Figuren nicht hinausgekommen ist: dies ist die Schwäche der sonst so geistvollen Erfindung. Der Hund Iwans des Schrecklichen, der eine feinere Nase hat als alle Menschen und die Gutmütigkeit seines Herrn verhängnisvoll durch seinen gänzlichen Mangel an Disziplin an den Tag bringt, reiht sich mit Ehren den vielen poetischen Hunden der modernen Novellistik an, ins¬ besondre um „Tambi" in der gleichnamigen Novelle Ferdinands von Saar, der dasselbe Schicksal erleidet: er wird auch von einem Fremden niedergeschossen, weil sein Herr nicht imstande war, bei Zeiten seine natürliche Ungeberdigkeit zu zähmen. Wollte man den neuesten Roman Friedrich Spielhagens, Ein neuer Pharao (Leipzig, Staackmann, 1889) uur von rein ästhetischen Gesichtspunkten betrachten, so würde man dem Verfasser einigermaßen Unrecht thun. Wenn man ein Buch uach dem vorwiegenden Eindruck beurteilen soll, den es hinterläßt und den es doch auch Wohl hervorzurufen bestimmt war, wenn der Verfasser ein rechter Künstler ist, so muß man Spielhagens „Neuen Pharao" nicht als eine Dichtung, sondern als eine glänzende Rede oder Abhandlung betrachten, die sich über tausend und noch etliche andre Dinge ergeht. Niemals dürfte es Spielhagen weniger gelungen sein, die vielgepriesene epische Objektivität fest¬ zuhalten, als diesesmal. Niemals ist er so persönlich in allen Teilen der Erzählung hervorgetreten, niemals hat er so wenig Rücksicht auf die Natur¬ wahrheit der Gespräche (die sich zu Abhandlungen ausdehnen) genommen, nie¬ mals hat er seine Figuren so wenig charakteristisch ausgestaltet, sie fo wenig selbst reden und handeln lassen, damit sie uns durch das ihnen innewohnende eigne Leben fesseln, als diesesmal. Auf einen besondern Grad von Originalität kann die Erfindung der Handlung auch nicht Anspruch erheben. Wenn uns das Buch trotz alledem nicht geradezu langweilt, so geschieht es nur darum, weil der alternde Meister sich noch immer vortrefflich auf die Künste Grenzboten II 1889 59

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/473
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/473>, abgerufen am 05.02.2025.