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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde

liegenden und sie durchdringenden Strebungen und Strömungen zu ihrer vollen
Entfaltung eine gewisse Zeit brauchen, und zu ihrer Verwirklichung einen voll¬
ständigen Neubau der Dörfer voraussetzen, wie er immerhin noch mindestens
ein Jahrhundert erfordern kann.

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Werfen wir einen Blick auf die Ursachen, die dem alten Dorf aus
Leben gehen, so finden wir, daß es größtenteils dieselben sind, denen der
Bauernstand seine außerordentliche Entwicklung verdankt. Wie der ganze Stand
aus seinen alten Verhältnissen herausgewachsen ist, so will ihm der altväter¬
liche Rock nicht mehr passen und stehen, und er wirst ihn und damit die ganze
alte Bauerntracht ab. Wir nennen zuerst die Aufhebung der Gutsunter-
thänigkeit, die Ablösung der bäuerlichen Lasten und die Lösung des ganzen
gutsherrlichen Verbandes, wie sie sich in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr-
hunderts vollzogen hat. Sie befreite den Bauer von dem Grundherrn und
machte ihn zum unbeschränkten Eigentümer seines Bodens. Daran schloß sich
die Verkoppelung, die allerdings, wie schon erwähnt, nur im nördlichen Deutsch¬
land so ziemlich zum Abschluß gelangt ist. Sie befreite den Bauer vom Dorfe
und machte ihn durch Aufhebung des Flurzwanges zum unbeschränkten Wirt
seines Grundstücks. Und nun fiel gerade in diese Zeit das immer mächtigere
Erblühen einer landwirtschaftlichen Wissenschaft, die den Landmann erst zum
eigentlichen Herrn über seinen Boden im vollsten Sinne macht, dein Bauer
besonders da zu Statten kam, wo er, wie in Norddeutschland, größern Besitz und
Wohlhabenheit besaß und durch das Beispiel und den Vorgang der benach¬
barten Großgrundbesitzer stete Anregung und Aufmunterung erhielt. Drainage,
künstliche Düngemittel, fremde Viehrasseu, ein rationeller Fruchtwechsel und
ausgedehnter Futterbau, alle diese Errungenschaften der Wissenschaft verschafften
sich auch beim Bauer in immer weiter" Kreisen Eingang und setzten ihn
erst in den Stand, von seinen verbesserten Verhältnissen rechten Nutzen zu
ziehen. Diese drei Vorgänge, ein jeder in seiner Art umwälzender Natur,
mußten, wie sie zeitlich zusammentrafen und sich gegenseitig unterstützten,
zusammenwirken, um den Bauer mit einem Schlage von denk Banne zu be¬
freien, der bisher auf seiner Wirtschaft gelastet und jeden Aufschwung des
Standes hintangehalten hatte. Aber damit nicht genug, das Erlebnis solcher
Umwälzungen, eine immer eingreifender als die andre, in dem Zeitraum
einer einzigen Geschlechtsfolge, mußte den Bauer allein zu einem andern Manne
machen, als es seine Väter gewesen waren: dieser ungeheure und unerhörte
Bruch mit dem überkommenen, dnrch Jahrhunderte geheiligten mußte in ihm
Gleichgiltigkeit und Mißtrauen gegen alles Überlieferte erzeugen. Die Zeche
aber für deu Bestattungsschmaus, den man dem Bauer aufgetischt hatte, mußte
in erster Linie das alte Haus tragen.


Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde

liegenden und sie durchdringenden Strebungen und Strömungen zu ihrer vollen
Entfaltung eine gewisse Zeit brauchen, und zu ihrer Verwirklichung einen voll¬
ständigen Neubau der Dörfer voraussetzen, wie er immerhin noch mindestens
ein Jahrhundert erfordern kann.

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Werfen wir einen Blick auf die Ursachen, die dem alten Dorf aus
Leben gehen, so finden wir, daß es größtenteils dieselben sind, denen der
Bauernstand seine außerordentliche Entwicklung verdankt. Wie der ganze Stand
aus seinen alten Verhältnissen herausgewachsen ist, so will ihm der altväter¬
liche Rock nicht mehr passen und stehen, und er wirst ihn und damit die ganze
alte Bauerntracht ab. Wir nennen zuerst die Aufhebung der Gutsunter-
thänigkeit, die Ablösung der bäuerlichen Lasten und die Lösung des ganzen
gutsherrlichen Verbandes, wie sie sich in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr-
hunderts vollzogen hat. Sie befreite den Bauer von dem Grundherrn und
machte ihn zum unbeschränkten Eigentümer seines Bodens. Daran schloß sich
die Verkoppelung, die allerdings, wie schon erwähnt, nur im nördlichen Deutsch¬
land so ziemlich zum Abschluß gelangt ist. Sie befreite den Bauer vom Dorfe
und machte ihn durch Aufhebung des Flurzwanges zum unbeschränkten Wirt
seines Grundstücks. Und nun fiel gerade in diese Zeit das immer mächtigere
Erblühen einer landwirtschaftlichen Wissenschaft, die den Landmann erst zum
eigentlichen Herrn über seinen Boden im vollsten Sinne macht, dein Bauer
besonders da zu Statten kam, wo er, wie in Norddeutschland, größern Besitz und
Wohlhabenheit besaß und durch das Beispiel und den Vorgang der benach¬
barten Großgrundbesitzer stete Anregung und Aufmunterung erhielt. Drainage,
künstliche Düngemittel, fremde Viehrasseu, ein rationeller Fruchtwechsel und
ausgedehnter Futterbau, alle diese Errungenschaften der Wissenschaft verschafften
sich auch beim Bauer in immer weiter» Kreisen Eingang und setzten ihn
erst in den Stand, von seinen verbesserten Verhältnissen rechten Nutzen zu
ziehen. Diese drei Vorgänge, ein jeder in seiner Art umwälzender Natur,
mußten, wie sie zeitlich zusammentrafen und sich gegenseitig unterstützten,
zusammenwirken, um den Bauer mit einem Schlage von denk Banne zu be¬
freien, der bisher auf seiner Wirtschaft gelastet und jeden Aufschwung des
Standes hintangehalten hatte. Aber damit nicht genug, das Erlebnis solcher
Umwälzungen, eine immer eingreifender als die andre, in dem Zeitraum
einer einzigen Geschlechtsfolge, mußte den Bauer allein zu einem andern Manne
machen, als es seine Väter gewesen waren: dieser ungeheure und unerhörte
Bruch mit dem überkommenen, dnrch Jahrhunderte geheiligten mußte in ihm
Gleichgiltigkeit und Mißtrauen gegen alles Überlieferte erzeugen. Die Zeche
aber für deu Bestattungsschmaus, den man dem Bauer aufgetischt hatte, mußte
in erster Linie das alte Haus tragen.


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[0460] Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde liegenden und sie durchdringenden Strebungen und Strömungen zu ihrer vollen Entfaltung eine gewisse Zeit brauchen, und zu ihrer Verwirklichung einen voll¬ ständigen Neubau der Dörfer voraussetzen, wie er immerhin noch mindestens ein Jahrhundert erfordern kann. 1 Werfen wir einen Blick auf die Ursachen, die dem alten Dorf aus Leben gehen, so finden wir, daß es größtenteils dieselben sind, denen der Bauernstand seine außerordentliche Entwicklung verdankt. Wie der ganze Stand aus seinen alten Verhältnissen herausgewachsen ist, so will ihm der altväter¬ liche Rock nicht mehr passen und stehen, und er wirst ihn und damit die ganze alte Bauerntracht ab. Wir nennen zuerst die Aufhebung der Gutsunter- thänigkeit, die Ablösung der bäuerlichen Lasten und die Lösung des ganzen gutsherrlichen Verbandes, wie sie sich in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr- hunderts vollzogen hat. Sie befreite den Bauer von dem Grundherrn und machte ihn zum unbeschränkten Eigentümer seines Bodens. Daran schloß sich die Verkoppelung, die allerdings, wie schon erwähnt, nur im nördlichen Deutsch¬ land so ziemlich zum Abschluß gelangt ist. Sie befreite den Bauer vom Dorfe und machte ihn durch Aufhebung des Flurzwanges zum unbeschränkten Wirt seines Grundstücks. Und nun fiel gerade in diese Zeit das immer mächtigere Erblühen einer landwirtschaftlichen Wissenschaft, die den Landmann erst zum eigentlichen Herrn über seinen Boden im vollsten Sinne macht, dein Bauer besonders da zu Statten kam, wo er, wie in Norddeutschland, größern Besitz und Wohlhabenheit besaß und durch das Beispiel und den Vorgang der benach¬ barten Großgrundbesitzer stete Anregung und Aufmunterung erhielt. Drainage, künstliche Düngemittel, fremde Viehrasseu, ein rationeller Fruchtwechsel und ausgedehnter Futterbau, alle diese Errungenschaften der Wissenschaft verschafften sich auch beim Bauer in immer weiter» Kreisen Eingang und setzten ihn erst in den Stand, von seinen verbesserten Verhältnissen rechten Nutzen zu ziehen. Diese drei Vorgänge, ein jeder in seiner Art umwälzender Natur, mußten, wie sie zeitlich zusammentrafen und sich gegenseitig unterstützten, zusammenwirken, um den Bauer mit einem Schlage von denk Banne zu be¬ freien, der bisher auf seiner Wirtschaft gelastet und jeden Aufschwung des Standes hintangehalten hatte. Aber damit nicht genug, das Erlebnis solcher Umwälzungen, eine immer eingreifender als die andre, in dem Zeitraum einer einzigen Geschlechtsfolge, mußte den Bauer allein zu einem andern Manne machen, als es seine Väter gewesen waren: dieser ungeheure und unerhörte Bruch mit dem überkommenen, dnrch Jahrhunderte geheiligten mußte in ihm Gleichgiltigkeit und Mißtrauen gegen alles Überlieferte erzeugen. Die Zeche aber für deu Bestattungsschmaus, den man dem Bauer aufgetischt hatte, mußte in erster Linie das alte Haus tragen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/460>, abgerufen am 05.02.2025.