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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Line Mobilmachung des deutschen Reiches vor 200 Jahren

in Ungarn gegen die Türke" einige Regimenter stehen, waren aber daheim ohne
jede Kriegsmacht, Württemberg unterhielt eine Art Miliz, aber diese focht
teilweise in Morea, teils waren die Truppen nu die Generalstaaten "verkauft,"
der oberrheinische Kreis war vollständig zerrissen; die geistlichen Fürsten des
knrrheinischen Kreises standen zum Teil sogar auf Seiten Frankreichs; Hannover
hatte ein Verteidigungsbündnis mit Frankreich geschlossen; Brandenburg und
Kursachsen hatten sich zur Neutralität verpflichtet, und auf Baierns Hilfe
glaubte Ludwig XIV. bestimmt rechnen zu können. So überschritten denn die
Heere Frankreichs ungehindert am 24. September die Grenze, während um
3. Oktober erst in Regensburg das französische Kriegsmanifest überreicht wurde.
Die Pfalz, der fränkische und der schwäbische Kreis wurde verwüstet, Frank¬
furt, Nürnberg, Ulm u. a. Städte mehr durch Kontributionsbillete in Schrecken
gesetzt, ungeheure Geldsummen (2 061216 Franken bis Ende 16L8) fortge¬
schleppt, und schon am 11. Oktober öffnete Mainz, ohne daß ein Schuß gefallen
war, dein Feinde die Thore. Als hierauf das zunächst bedrohte Frankfurt
beim Reichstag in Regensburg den Schutz des Reiches anrief, da hatte der
Mainzer Gesandte die Stirn, zu fragen, ob matt denn auch gewiß sei, daß
Frankreich den Frieden gebrochen habe.

Über die grausame Kriegsführung der französischen Generale, die aller¬
dings auf Geheiß des Kriegsministers Louvois handelten, hallte ein Schrei
der Entrüstung durch das geplagte deutsche Land. Es war, als ob sich das
alte Reich aus tiefen Schlummer cmporrütteln wollte. "Philister über dir,
Teutscher!" rief eine Flugschrift. Die erbitterten Bailern griffen zu den Waffen,
um die Nachzügler oder Marodeurs der französischen Heere niederzuschlagen. Die
Weiber voll Schorndorf belagerten die württembergischen Kommissare auf dem
Rathause, weil die braven Frauen sich an die Franzosen verraten glaubten. Ein
Gefühl der Zusammengehörigkeit ging durch das deutsche Land, und noch nach
Jahresfrist gedenkt der venetianischeGesandte in Wien nicht ohne Bewunderung "der
ungewohnten Harmonie, mit der sich der schwerfällige Körper des Reichs, gleich¬
sam von einem Willen beseelt, gegen die drohende Knechtschaft erhob.". Es
wäre den Regierungen ein leichtes gewesen, den Volkskrieg zu entfesseln, aber
sie zahlten lieber Kontributionen und stellten Geiseln, als daß sie die Leitung
der nationalen Verteidigung in die Hand genommen Hütten. In Wien und
in Regensburg kamen die endlosen Verhandlungen uicht vom Fleck; man konnte
sich nicht einigen, ob ein Friedensbruch vorliege und ob demnach der Neichs-
krieg zu erklären sei. Inzwischen brachte aber der drohende Ruin der vorder"
Reichskreise wenigstens einige Stände zur Besinnung, und da man vom Reich
keine Hilfe zu erwarten hatte, so wandte man sich an die "armirten Stände."
Unter andern nahm Frankfurt eine dessen-kasselische Garnison von 1800 Mann
in Sold und Pflege. Die norddeutschen Stunde Brandenburg, Hannover,
Braunschweig, Celle, Kursachsen und Hessen-Kassel traten auf Antrieb des


Line Mobilmachung des deutschen Reiches vor 200 Jahren

in Ungarn gegen die Türke» einige Regimenter stehen, waren aber daheim ohne
jede Kriegsmacht, Württemberg unterhielt eine Art Miliz, aber diese focht
teilweise in Morea, teils waren die Truppen nu die Generalstaaten „verkauft,"
der oberrheinische Kreis war vollständig zerrissen; die geistlichen Fürsten des
knrrheinischen Kreises standen zum Teil sogar auf Seiten Frankreichs; Hannover
hatte ein Verteidigungsbündnis mit Frankreich geschlossen; Brandenburg und
Kursachsen hatten sich zur Neutralität verpflichtet, und auf Baierns Hilfe
glaubte Ludwig XIV. bestimmt rechnen zu können. So überschritten denn die
Heere Frankreichs ungehindert am 24. September die Grenze, während um
3. Oktober erst in Regensburg das französische Kriegsmanifest überreicht wurde.
Die Pfalz, der fränkische und der schwäbische Kreis wurde verwüstet, Frank¬
furt, Nürnberg, Ulm u. a. Städte mehr durch Kontributionsbillete in Schrecken
gesetzt, ungeheure Geldsummen (2 061216 Franken bis Ende 16L8) fortge¬
schleppt, und schon am 11. Oktober öffnete Mainz, ohne daß ein Schuß gefallen
war, dein Feinde die Thore. Als hierauf das zunächst bedrohte Frankfurt
beim Reichstag in Regensburg den Schutz des Reiches anrief, da hatte der
Mainzer Gesandte die Stirn, zu fragen, ob matt denn auch gewiß sei, daß
Frankreich den Frieden gebrochen habe.

Über die grausame Kriegsführung der französischen Generale, die aller¬
dings auf Geheiß des Kriegsministers Louvois handelten, hallte ein Schrei
der Entrüstung durch das geplagte deutsche Land. Es war, als ob sich das
alte Reich aus tiefen Schlummer cmporrütteln wollte. „Philister über dir,
Teutscher!" rief eine Flugschrift. Die erbitterten Bailern griffen zu den Waffen,
um die Nachzügler oder Marodeurs der französischen Heere niederzuschlagen. Die
Weiber voll Schorndorf belagerten die württembergischen Kommissare auf dem
Rathause, weil die braven Frauen sich an die Franzosen verraten glaubten. Ein
Gefühl der Zusammengehörigkeit ging durch das deutsche Land, und noch nach
Jahresfrist gedenkt der venetianischeGesandte in Wien nicht ohne Bewunderung „der
ungewohnten Harmonie, mit der sich der schwerfällige Körper des Reichs, gleich¬
sam von einem Willen beseelt, gegen die drohende Knechtschaft erhob.". Es
wäre den Regierungen ein leichtes gewesen, den Volkskrieg zu entfesseln, aber
sie zahlten lieber Kontributionen und stellten Geiseln, als daß sie die Leitung
der nationalen Verteidigung in die Hand genommen Hütten. In Wien und
in Regensburg kamen die endlosen Verhandlungen uicht vom Fleck; man konnte
sich nicht einigen, ob ein Friedensbruch vorliege und ob demnach der Neichs-
krieg zu erklären sei. Inzwischen brachte aber der drohende Ruin der vorder»
Reichskreise wenigstens einige Stände zur Besinnung, und da man vom Reich
keine Hilfe zu erwarten hatte, so wandte man sich an die „armirten Stände."
Unter andern nahm Frankfurt eine dessen-kasselische Garnison von 1800 Mann
in Sold und Pflege. Die norddeutschen Stunde Brandenburg, Hannover,
Braunschweig, Celle, Kursachsen und Hessen-Kassel traten auf Antrieb des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/421>, abgerufen am 05.02.2025.