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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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ist wieder zu unterscheiden zwischen der Rede-, Versammlungs-, Vereins- und
Preßfreiheit, die einen allgemeine" Kulturwert Hut und auch unter der absoluten
Monarchie gewährt, in der Republik unterdrückt werden kann, und zwischen
den Freiheiten des konstitutionellen Staates und der Republik, die deu Bürgern
die Teilnahme an der Gesetzgebung oder an der Verwaltung oder an beiden:
sichern. Diese Rechte oder Freiheiten, wenn man sie so nennen will, haben
einen weit höhern Wert in kleinen Staaten als in großen. In einem Frei¬
stante von 100 000 bis 400 000 Einwohnern hat jeder einzelne Bürger Aussicht,
einmal in seinem Leben Mitglied der Regierung zu werdeu, und seine Ab¬
stimmungen fallen ins Gewicht, üben eine" nachweisbaren Einfluß auf die
Gesetzgebung. Im Grvßstaate siud durch das Prüfnngswesen schon alle
Nichtstudirten, und vollends die Armen, von den höhern Staatsämtern aus¬
geschlossen, und jener Zehmnilliontelauteil an der Gesetzgebung, der den
Wählern verfassungsmüßig zusteht, verschwindet für die Wahrnehmung so voll¬
ständig, daß ein hoher Grad von Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue dazu ge¬
hört, wenn im gegebenen Falle ein Armer der Versuchung widerstehen soll,
seine staatsbürgerlichen Rechte um ein Linsengericht zu verkaufen.

Einivirknngen auf ein ungeheures Ganze, die ihrer Geringfügigkeit wegen
nicht wahrgenommen werden, machen dem Einwirkenden keine Freude und
können schon aus dem Grunde nicht segensreich genannt werden, weil sich ihr
Erfolg weder berechnen noch nachweisen läßt. Daher denn eine segensreiche
Thätigkeit für das Gemeinwohl den Bürgern eines Grvßstaates fast nur inner¬
halb jener kleinern Kreise möglich ist, die ein jeder zu überschauen vermag-,
in der politischen und Kirchengemeinde, im Kreise, in der Korporation. Wenn
es wahr wäre, daß Fürst Bismarck auf die Vernichtung der bürgerlichen Frei¬
heit ausgehe, so brauchte er nur deu Liberalismus gewähren zu lassen, der
jeder kirchlichen und korporativen Selbständigkeit abgeneigt ist und die Selbst¬
verwaltung der Provinzen und Gemeinden nur soweit gelten läßt, als sie in
seinem Sinne gehandhabt wird. Es ist vollkommen richtig, daß die Kirchen
zuweilen auf Knechtung ausgehen; aber ein festes Glaubensbekenntnis und
eine stramme Kirchenzucht wird nicht von den Gläubigen, sondern uur von
den Dissentirenden als Joch empfunden, daher denn nach einem Zustande zu
streben ist, wo die Gläubige" eines Bekenntnisses nach ihrem Glauben leben
dürfen, aber keine Macht haben, einen Andersgläubige" z" gleichem Bekenntnis
und Leben zu zwingen. Es ist ferner richtig, daß Korporationen und land¬
schaftliche Stunde zuweilen die Freiheit ihrer Mitglieder unterdrücken; aber es
kommt anderseits mich vor, daß sie gegen eine Regierungsgewalt Schutz ge¬
währen, die alle über einen Kamm scheren und alle Besonderheiten vernichten
will. Zur Freiheit gehört eben doch uuter anderm, daß man mit seinen
Standesgenossen oder Landsleuten den von den Vätern ererbten Bräuchen und
Gewohnheiten treu bleiben darf, die, wen" sie vielleicht auch keinen höhern


ist wieder zu unterscheiden zwischen der Rede-, Versammlungs-, Vereins- und
Preßfreiheit, die einen allgemeine» Kulturwert Hut und auch unter der absoluten
Monarchie gewährt, in der Republik unterdrückt werden kann, und zwischen
den Freiheiten des konstitutionellen Staates und der Republik, die deu Bürgern
die Teilnahme an der Gesetzgebung oder an der Verwaltung oder an beiden:
sichern. Diese Rechte oder Freiheiten, wenn man sie so nennen will, haben
einen weit höhern Wert in kleinen Staaten als in großen. In einem Frei¬
stante von 100 000 bis 400 000 Einwohnern hat jeder einzelne Bürger Aussicht,
einmal in seinem Leben Mitglied der Regierung zu werdeu, und seine Ab¬
stimmungen fallen ins Gewicht, üben eine» nachweisbaren Einfluß auf die
Gesetzgebung. Im Grvßstaate siud durch das Prüfnngswesen schon alle
Nichtstudirten, und vollends die Armen, von den höhern Staatsämtern aus¬
geschlossen, und jener Zehmnilliontelauteil an der Gesetzgebung, der den
Wählern verfassungsmüßig zusteht, verschwindet für die Wahrnehmung so voll¬
ständig, daß ein hoher Grad von Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue dazu ge¬
hört, wenn im gegebenen Falle ein Armer der Versuchung widerstehen soll,
seine staatsbürgerlichen Rechte um ein Linsengericht zu verkaufen.

Einivirknngen auf ein ungeheures Ganze, die ihrer Geringfügigkeit wegen
nicht wahrgenommen werden, machen dem Einwirkenden keine Freude und
können schon aus dem Grunde nicht segensreich genannt werden, weil sich ihr
Erfolg weder berechnen noch nachweisen läßt. Daher denn eine segensreiche
Thätigkeit für das Gemeinwohl den Bürgern eines Grvßstaates fast nur inner¬
halb jener kleinern Kreise möglich ist, die ein jeder zu überschauen vermag-,
in der politischen und Kirchengemeinde, im Kreise, in der Korporation. Wenn
es wahr wäre, daß Fürst Bismarck auf die Vernichtung der bürgerlichen Frei¬
heit ausgehe, so brauchte er nur deu Liberalismus gewähren zu lassen, der
jeder kirchlichen und korporativen Selbständigkeit abgeneigt ist und die Selbst¬
verwaltung der Provinzen und Gemeinden nur soweit gelten läßt, als sie in
seinem Sinne gehandhabt wird. Es ist vollkommen richtig, daß die Kirchen
zuweilen auf Knechtung ausgehen; aber ein festes Glaubensbekenntnis und
eine stramme Kirchenzucht wird nicht von den Gläubigen, sondern uur von
den Dissentirenden als Joch empfunden, daher denn nach einem Zustande zu
streben ist, wo die Gläubige» eines Bekenntnisses nach ihrem Glauben leben
dürfen, aber keine Macht haben, einen Andersgläubige» z» gleichem Bekenntnis
und Leben zu zwingen. Es ist ferner richtig, daß Korporationen und land¬
schaftliche Stunde zuweilen die Freiheit ihrer Mitglieder unterdrücken; aber es
kommt anderseits mich vor, daß sie gegen eine Regierungsgewalt Schutz ge¬
währen, die alle über einen Kamm scheren und alle Besonderheiten vernichten
will. Zur Freiheit gehört eben doch uuter anderm, daß man mit seinen
Standesgenossen oder Landsleuten den von den Vätern ererbten Bräuchen und
Gewohnheiten treu bleiben darf, die, wen» sie vielleicht auch keinen höhern


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[0411] ist wieder zu unterscheiden zwischen der Rede-, Versammlungs-, Vereins- und Preßfreiheit, die einen allgemeine» Kulturwert Hut und auch unter der absoluten Monarchie gewährt, in der Republik unterdrückt werden kann, und zwischen den Freiheiten des konstitutionellen Staates und der Republik, die deu Bürgern die Teilnahme an der Gesetzgebung oder an der Verwaltung oder an beiden: sichern. Diese Rechte oder Freiheiten, wenn man sie so nennen will, haben einen weit höhern Wert in kleinen Staaten als in großen. In einem Frei¬ stante von 100 000 bis 400 000 Einwohnern hat jeder einzelne Bürger Aussicht, einmal in seinem Leben Mitglied der Regierung zu werdeu, und seine Ab¬ stimmungen fallen ins Gewicht, üben eine» nachweisbaren Einfluß auf die Gesetzgebung. Im Grvßstaate siud durch das Prüfnngswesen schon alle Nichtstudirten, und vollends die Armen, von den höhern Staatsämtern aus¬ geschlossen, und jener Zehmnilliontelauteil an der Gesetzgebung, der den Wählern verfassungsmüßig zusteht, verschwindet für die Wahrnehmung so voll¬ ständig, daß ein hoher Grad von Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue dazu ge¬ hört, wenn im gegebenen Falle ein Armer der Versuchung widerstehen soll, seine staatsbürgerlichen Rechte um ein Linsengericht zu verkaufen. Einivirknngen auf ein ungeheures Ganze, die ihrer Geringfügigkeit wegen nicht wahrgenommen werden, machen dem Einwirkenden keine Freude und können schon aus dem Grunde nicht segensreich genannt werden, weil sich ihr Erfolg weder berechnen noch nachweisen läßt. Daher denn eine segensreiche Thätigkeit für das Gemeinwohl den Bürgern eines Grvßstaates fast nur inner¬ halb jener kleinern Kreise möglich ist, die ein jeder zu überschauen vermag-, in der politischen und Kirchengemeinde, im Kreise, in der Korporation. Wenn es wahr wäre, daß Fürst Bismarck auf die Vernichtung der bürgerlichen Frei¬ heit ausgehe, so brauchte er nur deu Liberalismus gewähren zu lassen, der jeder kirchlichen und korporativen Selbständigkeit abgeneigt ist und die Selbst¬ verwaltung der Provinzen und Gemeinden nur soweit gelten läßt, als sie in seinem Sinne gehandhabt wird. Es ist vollkommen richtig, daß die Kirchen zuweilen auf Knechtung ausgehen; aber ein festes Glaubensbekenntnis und eine stramme Kirchenzucht wird nicht von den Gläubigen, sondern uur von den Dissentirenden als Joch empfunden, daher denn nach einem Zustande zu streben ist, wo die Gläubige» eines Bekenntnisses nach ihrem Glauben leben dürfen, aber keine Macht haben, einen Andersgläubige» z» gleichem Bekenntnis und Leben zu zwingen. Es ist ferner richtig, daß Korporationen und land¬ schaftliche Stunde zuweilen die Freiheit ihrer Mitglieder unterdrücken; aber es kommt anderseits mich vor, daß sie gegen eine Regierungsgewalt Schutz ge¬ währen, die alle über einen Kamm scheren und alle Besonderheiten vernichten will. Zur Freiheit gehört eben doch uuter anderm, daß man mit seinen Standesgenossen oder Landsleuten den von den Vätern ererbten Bräuchen und Gewohnheiten treu bleiben darf, die, wen» sie vielleicht auch keinen höhern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/411>, abgerufen am 05.02.2025.