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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Freiheit

und lebende Werkzeuge zur Vollstreckung des eignen Willens. Wer nie in
seinem Leben jemand etwas zu befehlen hat, der fühlt sich schon darum un¬
frei; wogegen dem verheirateten Tagelöhner, der seinen Kindern und wohl anch
seiner Frau gebietet, diesen Personen gegenüber die eigue Freiheit zum Be¬
wußtsein kommt. Je kräftiger und großer ein Geist ist, desto zahlreicherer
lebender Werkzeuge bedarf er, um seine Pläne zu verwirklichen; fehlen ihm
jene, so empfindet er dieses Hemmnis seiner Wirksamkeit als Freihcitsbeschrünknng.
Könnte jene allgemeine gleiche Freiheit, die jeden auf den Wirkungskreis seiner
eigne" zwei Hände einengen würde, einen Augenblick hergestellt werden, so
würden die Stärkeren diesen Gleichgewichtszustand sofort wieder zu Ungunsten
der Schwächeren stören. Längere Zeit erhält sich ein solcher Gleichgewichts¬
zustand zuweilen in abgelegenen bäuerlichen Gemeinwesen, wo es weder Reiche
noch Proletarier giebt, und wo die Söhne, bis sie den Vater beerben oder
in ein Gut eiuhciraten, bei andern Bauern als Knechte dienen, ohne daß
zwischen Herr und Knecht sich ein Standesunterschied bemerkbar macht. Bei
jeder neuen Besiedelung eines Gebietes in Amerika tritt dieser Zustand von
neuem ein: jeder ist dort so lange sein eigner Schuhputzer und Ochsenknecht,
bis sich Vermögensunterschiede ausgebildet haben. Daher deun die Engländer,
die sich auf Freiheit einigermaßen verstehen, libvrtv und xropört,^ gern zu¬
sammen nennen. (Noscher a. a. O. I, 153). Ist demnach das Aufhören aller
Knechtschaft kaum denkbar, so wird doch die soziale und Stantstnust vor¬
zubeugen haben, daß sich die Knechtschaft und Freiheit nicht wieder zu Ständen
und Kasten verhärten, sondern im Flusse bleiben, so daß ein stetiger Übergang
ans eiuer Klasse in die andre stattfindet, und das härtere wie das angenehmere
Los wechselsweise bald diesen bald jenen trifft, nicht ohne alle Mitwirkung von
Verdienst und Verschuldung. Weit weniger innig als mit dem Besitz, hängen
alle die Freiheiten, nach denen sich des Menschen Herz sehnt, mit der Staats-
verfassung zusammen. Jene bäuerliche Unabhängigkeit und Gleichheit kommt
uicht blos in Uri und Appenzell, sondern mit der angenehmen Zugabe gänz¬
licher Freiheit vou allem Polizeizwauge auch im Immer" Rußlands und in
Sibirien hie und da vor, während die polizeilich geordnete Svnntcigsfcier der
fromme" Stadt Basel i" der freie" Schweiz dem stramm monarchisch regierten
Berliner als die höllische Ausgeburt des finstersten Despotismus erscheinen
würde.

Damit wären wir denn bei den sogenannten bürgerlichen Freiheiten an¬
gelangt. Man kann zwei Gruppen derselben unterscheiden. Die erste ist mehr
juristischer Natur und umfaßt die mancherlei Befreiungen von dinglichen und
persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Was die dingliche Abhängigkeit an¬
langt, so ist bereits hervorgehoben worden, wie die Gebundenheit des Besitzes
und die Gebundenheit an ein Pachtgut vou den Gutsbesitzern und Arbeitern
je uach der Lage bald mehr als Zwang, bald mehr als Schutz und Sicherung


Grenzboten II 1389 51
Freiheit

und lebende Werkzeuge zur Vollstreckung des eignen Willens. Wer nie in
seinem Leben jemand etwas zu befehlen hat, der fühlt sich schon darum un¬
frei; wogegen dem verheirateten Tagelöhner, der seinen Kindern und wohl anch
seiner Frau gebietet, diesen Personen gegenüber die eigue Freiheit zum Be¬
wußtsein kommt. Je kräftiger und großer ein Geist ist, desto zahlreicherer
lebender Werkzeuge bedarf er, um seine Pläne zu verwirklichen; fehlen ihm
jene, so empfindet er dieses Hemmnis seiner Wirksamkeit als Freihcitsbeschrünknng.
Könnte jene allgemeine gleiche Freiheit, die jeden auf den Wirkungskreis seiner
eigne» zwei Hände einengen würde, einen Augenblick hergestellt werden, so
würden die Stärkeren diesen Gleichgewichtszustand sofort wieder zu Ungunsten
der Schwächeren stören. Längere Zeit erhält sich ein solcher Gleichgewichts¬
zustand zuweilen in abgelegenen bäuerlichen Gemeinwesen, wo es weder Reiche
noch Proletarier giebt, und wo die Söhne, bis sie den Vater beerben oder
in ein Gut eiuhciraten, bei andern Bauern als Knechte dienen, ohne daß
zwischen Herr und Knecht sich ein Standesunterschied bemerkbar macht. Bei
jeder neuen Besiedelung eines Gebietes in Amerika tritt dieser Zustand von
neuem ein: jeder ist dort so lange sein eigner Schuhputzer und Ochsenknecht,
bis sich Vermögensunterschiede ausgebildet haben. Daher deun die Engländer,
die sich auf Freiheit einigermaßen verstehen, libvrtv und xropört,^ gern zu¬
sammen nennen. (Noscher a. a. O. I, 153). Ist demnach das Aufhören aller
Knechtschaft kaum denkbar, so wird doch die soziale und Stantstnust vor¬
zubeugen haben, daß sich die Knechtschaft und Freiheit nicht wieder zu Ständen
und Kasten verhärten, sondern im Flusse bleiben, so daß ein stetiger Übergang
ans eiuer Klasse in die andre stattfindet, und das härtere wie das angenehmere
Los wechselsweise bald diesen bald jenen trifft, nicht ohne alle Mitwirkung von
Verdienst und Verschuldung. Weit weniger innig als mit dem Besitz, hängen
alle die Freiheiten, nach denen sich des Menschen Herz sehnt, mit der Staats-
verfassung zusammen. Jene bäuerliche Unabhängigkeit und Gleichheit kommt
uicht blos in Uri und Appenzell, sondern mit der angenehmen Zugabe gänz¬
licher Freiheit vou allem Polizeizwauge auch im Immer» Rußlands und in
Sibirien hie und da vor, während die polizeilich geordnete Svnntcigsfcier der
fromme» Stadt Basel i» der freie» Schweiz dem stramm monarchisch regierten
Berliner als die höllische Ausgeburt des finstersten Despotismus erscheinen
würde.

Damit wären wir denn bei den sogenannten bürgerlichen Freiheiten an¬
gelangt. Man kann zwei Gruppen derselben unterscheiden. Die erste ist mehr
juristischer Natur und umfaßt die mancherlei Befreiungen von dinglichen und
persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Was die dingliche Abhängigkeit an¬
langt, so ist bereits hervorgehoben worden, wie die Gebundenheit des Besitzes
und die Gebundenheit an ein Pachtgut vou den Gutsbesitzern und Arbeitern
je uach der Lage bald mehr als Zwang, bald mehr als Schutz und Sicherung


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[0409] Freiheit und lebende Werkzeuge zur Vollstreckung des eignen Willens. Wer nie in seinem Leben jemand etwas zu befehlen hat, der fühlt sich schon darum un¬ frei; wogegen dem verheirateten Tagelöhner, der seinen Kindern und wohl anch seiner Frau gebietet, diesen Personen gegenüber die eigue Freiheit zum Be¬ wußtsein kommt. Je kräftiger und großer ein Geist ist, desto zahlreicherer lebender Werkzeuge bedarf er, um seine Pläne zu verwirklichen; fehlen ihm jene, so empfindet er dieses Hemmnis seiner Wirksamkeit als Freihcitsbeschrünknng. Könnte jene allgemeine gleiche Freiheit, die jeden auf den Wirkungskreis seiner eigne» zwei Hände einengen würde, einen Augenblick hergestellt werden, so würden die Stärkeren diesen Gleichgewichtszustand sofort wieder zu Ungunsten der Schwächeren stören. Längere Zeit erhält sich ein solcher Gleichgewichts¬ zustand zuweilen in abgelegenen bäuerlichen Gemeinwesen, wo es weder Reiche noch Proletarier giebt, und wo die Söhne, bis sie den Vater beerben oder in ein Gut eiuhciraten, bei andern Bauern als Knechte dienen, ohne daß zwischen Herr und Knecht sich ein Standesunterschied bemerkbar macht. Bei jeder neuen Besiedelung eines Gebietes in Amerika tritt dieser Zustand von neuem ein: jeder ist dort so lange sein eigner Schuhputzer und Ochsenknecht, bis sich Vermögensunterschiede ausgebildet haben. Daher deun die Engländer, die sich auf Freiheit einigermaßen verstehen, libvrtv und xropört,^ gern zu¬ sammen nennen. (Noscher a. a. O. I, 153). Ist demnach das Aufhören aller Knechtschaft kaum denkbar, so wird doch die soziale und Stantstnust vor¬ zubeugen haben, daß sich die Knechtschaft und Freiheit nicht wieder zu Ständen und Kasten verhärten, sondern im Flusse bleiben, so daß ein stetiger Übergang ans eiuer Klasse in die andre stattfindet, und das härtere wie das angenehmere Los wechselsweise bald diesen bald jenen trifft, nicht ohne alle Mitwirkung von Verdienst und Verschuldung. Weit weniger innig als mit dem Besitz, hängen alle die Freiheiten, nach denen sich des Menschen Herz sehnt, mit der Staats- verfassung zusammen. Jene bäuerliche Unabhängigkeit und Gleichheit kommt uicht blos in Uri und Appenzell, sondern mit der angenehmen Zugabe gänz¬ licher Freiheit vou allem Polizeizwauge auch im Immer» Rußlands und in Sibirien hie und da vor, während die polizeilich geordnete Svnntcigsfcier der fromme» Stadt Basel i» der freie» Schweiz dem stramm monarchisch regierten Berliner als die höllische Ausgeburt des finstersten Despotismus erscheinen würde. Damit wären wir denn bei den sogenannten bürgerlichen Freiheiten an¬ gelangt. Man kann zwei Gruppen derselben unterscheiden. Die erste ist mehr juristischer Natur und umfaßt die mancherlei Befreiungen von dinglichen und persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Was die dingliche Abhängigkeit an¬ langt, so ist bereits hervorgehoben worden, wie die Gebundenheit des Besitzes und die Gebundenheit an ein Pachtgut vou den Gutsbesitzern und Arbeitern je uach der Lage bald mehr als Zwang, bald mehr als Schutz und Sicherung Grenzboten II 1389 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/409>, abgerufen am 05.02.2025.