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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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seinen Lebensmiterhalt in Dienstbarkeit oder durch Lohnarbeit zu erwerben,
sondern der seinen väterlichen Acker mit seinen eignen Ochsen pflügt. Er ist
um so freier, je weniger er gezwungen ist, das Pflügen eigenhändig zu be¬
sorgen. Kann er sich auf die Leitung seiner Wirtschaft beschränken, den größten
Teil seiner Zeit mit frei gewählten Beschäftigungen ausfüllen: Wissenschaft,
Kunst, Litteratur, Staatsangelegenheiten, so ist er der allerfreieste.Bekanntlich
wurde auch noch die Verwertung der eignen Bodenerzeugnisse im Großhandel
zu den artss libsralLZ gerechnet, denen gegenüber alle gröberen Arbeiten für
den Broterwerb mit Recht oxvrg, servilia hießen. Daß die Zahl solcher glück¬
lichen Freien verhältnismäßig klein blieb, erschien ebenso selbstverständlich, wie
daß sie, und zwar sie allein, den Staat nicht sowohl regierten als ausmachten;
und wenn wir den politischen und sozialen Wirrnissen unsrer Tage auf den
Grund sehen, so finden wir die uralte Frage wieder, ob und wie weit ein
freier Arbeiterstand möglich sei. Daß wir in dieser Hinsicht Fortschritte gemacht
haben, daß namentlich in Deutschland und Frankreich die Zahl der kleinen
Besitzer sich außerordentlich vermehrt hat und hierdurch die Grundlage für die
Freiheit breiter geworden ist, konnten nur verbissene Pessimisten leugnen.

Allein in je kleinere Kreise die Unfreiheit zurückgedrängt, wird, desto ab¬
stoßender erscheint sie dort, und desto leidenschaftlicher entbrennt der Kampf
von beiden Seiten. Denn das darf nicht übersehen werden: je mehr die
Zahl der Unfreien verringert wird, desto empfindlicher fühlen die bisherigen
Freien fich eingeengt. Wie ans dieser Erde jedes Bestehende durch seinen
Gegensatz bedingt wird und die Tugend z. B. nicht ohne Laster gedacht werden
kann, so scheint anch die Freiheit der einen nicht denkbar zu sein ohne die
Knechtschaft der andern. Der allgemeine gleiche Reichtum würde ohne Zweifel
die allgemeine gleiche Armut, und die allgemeine gleiche Freiheit die allgemeine
gleiche Knechtschaft sein. Den positiven Inhalt des an sich negativen Frei¬
heitsbegriffs bildet die Macht: die Macht des Menschen, seine eigne Kraft zu
entfalten, daher denn ein kraftloses Wesen, ein Kind oder ein geistig unkräftiger
Wilder unter Gebildeten, weil abhängig, nicht frei sein kann. Zu solcher Macht
gehört nach oben hin Unabhängigkeit, nach außen Spielraum im materiellen
und geistigen Sinne des Wortes, nach unten hin die Verfügung über leblose



Nur eine sey"' weibliche Logik könnte dagegen einwenden, daß der stramme Dienst
unsrer Beamten und die aufopfernde Arbeit der Familienväter und Mutter in unserm Tage¬
löhnerstande hoher stünde" und wahrere Befriedigung gewährten als das schöngeistige otium
<!>,in äiZ'Ms,to eines Cicero; denn es wird ja hier nicht nach dem sittlichen Werte der ver¬
schiedenen Lebensweisen und nach den Bedingungen der Glückseligkeit gefragt, sondern nach
dem Wesen der äußern Freiheit. Edle und glückliche Menschen findet man auch unter den
Sklaven. "Wie Viele Herren liegen trunken auf dem Ruhebette, die Sklaven aber stehen
nüchtern dabei! Welchen soll ich nun unfrei nennen, den Nüchternen oder den Trunkenen?"
sagt Johannes Chrysostomus in einer Humilie.

seinen Lebensmiterhalt in Dienstbarkeit oder durch Lohnarbeit zu erwerben,
sondern der seinen väterlichen Acker mit seinen eignen Ochsen pflügt. Er ist
um so freier, je weniger er gezwungen ist, das Pflügen eigenhändig zu be¬
sorgen. Kann er sich auf die Leitung seiner Wirtschaft beschränken, den größten
Teil seiner Zeit mit frei gewählten Beschäftigungen ausfüllen: Wissenschaft,
Kunst, Litteratur, Staatsangelegenheiten, so ist er der allerfreieste.Bekanntlich
wurde auch noch die Verwertung der eignen Bodenerzeugnisse im Großhandel
zu den artss libsralLZ gerechnet, denen gegenüber alle gröberen Arbeiten für
den Broterwerb mit Recht oxvrg, servilia hießen. Daß die Zahl solcher glück¬
lichen Freien verhältnismäßig klein blieb, erschien ebenso selbstverständlich, wie
daß sie, und zwar sie allein, den Staat nicht sowohl regierten als ausmachten;
und wenn wir den politischen und sozialen Wirrnissen unsrer Tage auf den
Grund sehen, so finden wir die uralte Frage wieder, ob und wie weit ein
freier Arbeiterstand möglich sei. Daß wir in dieser Hinsicht Fortschritte gemacht
haben, daß namentlich in Deutschland und Frankreich die Zahl der kleinen
Besitzer sich außerordentlich vermehrt hat und hierdurch die Grundlage für die
Freiheit breiter geworden ist, konnten nur verbissene Pessimisten leugnen.

Allein in je kleinere Kreise die Unfreiheit zurückgedrängt, wird, desto ab¬
stoßender erscheint sie dort, und desto leidenschaftlicher entbrennt der Kampf
von beiden Seiten. Denn das darf nicht übersehen werden: je mehr die
Zahl der Unfreien verringert wird, desto empfindlicher fühlen die bisherigen
Freien fich eingeengt. Wie ans dieser Erde jedes Bestehende durch seinen
Gegensatz bedingt wird und die Tugend z. B. nicht ohne Laster gedacht werden
kann, so scheint anch die Freiheit der einen nicht denkbar zu sein ohne die
Knechtschaft der andern. Der allgemeine gleiche Reichtum würde ohne Zweifel
die allgemeine gleiche Armut, und die allgemeine gleiche Freiheit die allgemeine
gleiche Knechtschaft sein. Den positiven Inhalt des an sich negativen Frei¬
heitsbegriffs bildet die Macht: die Macht des Menschen, seine eigne Kraft zu
entfalten, daher denn ein kraftloses Wesen, ein Kind oder ein geistig unkräftiger
Wilder unter Gebildeten, weil abhängig, nicht frei sein kann. Zu solcher Macht
gehört nach oben hin Unabhängigkeit, nach außen Spielraum im materiellen
und geistigen Sinne des Wortes, nach unten hin die Verfügung über leblose



Nur eine sey»' weibliche Logik könnte dagegen einwenden, daß der stramme Dienst
unsrer Beamten und die aufopfernde Arbeit der Familienväter und Mutter in unserm Tage¬
löhnerstande hoher stünde» und wahrere Befriedigung gewährten als das schöngeistige otium
<!>,in äiZ'Ms,to eines Cicero; denn es wird ja hier nicht nach dem sittlichen Werte der ver¬
schiedenen Lebensweisen und nach den Bedingungen der Glückseligkeit gefragt, sondern nach
dem Wesen der äußern Freiheit. Edle und glückliche Menschen findet man auch unter den
Sklaven. „Wie Viele Herren liegen trunken auf dem Ruhebette, die Sklaven aber stehen
nüchtern dabei! Welchen soll ich nun unfrei nennen, den Nüchternen oder den Trunkenen?"
sagt Johannes Chrysostomus in einer Humilie.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/408>, abgerufen am 05.02.2025.