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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Freiheit

Sklave" mehr brauche". Vorläufig aber liegt die Sache so. Zuvörderst er¬
fordert die Herstellung der Maschinen, die Gewinnung der Rohstoffe und die
Beschaffung des Heizmaterials für die Dampfmaschinen eine gewaltige, zum
Teil sehr mühselige, gefährliche und unerfreuliche Arbeit. Sodann hat die
Vermehrung der gewerblichen Erzeugnisse zur Vermehrung der Bedürfnisse nicht
sowohl verlockt als gezwungen. Während im frühern Mittelalter auch die
vornehmeren Frauen nur ein einziges großes Stück feinen Tuches besaßen, das
sie bei Festen trugen und dein sie dnrch verschiedene Vefestigungswcise und
verschiednen Faltenwurf, Anbringung von Verzierungen u. s. w. immer wieder
ein neues Aussehen gaben, müssen heute schon die Männer und Frauen des
Handwerkerstandes jährlich zwei "Saison"-Anziige kaufen. Während noch vor
dreißig Jahren die Sommerkleidung für Knaben der ärmeren Klasse sich auf
Hemd und Hose, für Mädchen auf das Hemd und ein Kittelchen beschränkte,
dürfen in vielen Städten die Kinder nicht mehr barfuß zur Schule kommen,
tragen die Mädchen ganz allgemein Beinkleider und ist an Sonn- und Feier¬
tagen wenigstens alles bis auf die kleinsten Kinder herunter mit Handschuhen
versehen. So werden die Allsgaben für Kleidung, Gerätschaften, Anstands-
pflichten beständig vermehrt, was entweder vermehrte Arbeit zur Erzielung eiues
größeren Verdienstes oder Verminderung der Ausgaben auf Nahrung und
Feuerung bedingt. Außerdem ist durch den Maschinenbetrieb die persöliche"
Arbeit entwertet worden, sodaß man für eme größere Arbeitsleistung eine
geringere Summe Geld und namentlich eine geringere Menge von Nahrungs¬
mitteln erhält. Als die Industrie noch in den Windeln lag, da galt eine Elle
Tuch so viel wie ein Ochs, und hente! Vor vierhundert Jahren konnte man
durch Abschreiben von Büchern wohlhabend werden, noch vor vierzig Jahren
sich mit Abschreiben von Noten seinen Lebensunterhalt verdienen. Auch die
Schmucksachen, verzierten Metallgeräte, farbigen Bilder, die heute gekauft werden,
find meistens nicht Originalarbeiten des Künstlers, sondern mechanische Ver¬
vielfältigungen eines Modells. Noch dazu ist die Fabrikarbeit häufig geist¬
tötend, und darum an sich schon Sklavenarbeit. Schleiermacher erklärt, nach
Noschers Ansicht mit Recht, jede rein mechanische Thätigkeit, durch die der
Mensch ein lebendiges Werkzeug wird, für unsittlich. Die arbeitsparende Wirkung
der Maschinen bleibt trotz alledem nicht aus; aber sie äußert sich nicht in der
Verkürzung der Arbeitszeit für die Arbeitenden, sondern in der Vermindern"",
der Arbeitsgelegenheit für die Arbeitsucheuden, und mich das vielbeklagte
Gelehrtenprvletariat wird zum Teil durch den Umstand erzeugt, daß bei der
geringen Aussicht auf Versorgung im Gewerbe und Handel die Väter wie die
Söhne ihre letzte Hoffnung auf den Staat und sein Beamtenheer setzen. In
der Landwirtschaft endlich haben die Einführung der mechanischen Spinnerei
und der Dreschmaschine den größten Teil der Winterarbeit weggenommen. Da
nun in den ärmeren Gegenden die Tagelöhner im Sommer nicht so viel ver-


Freiheit

Sklave» mehr brauche». Vorläufig aber liegt die Sache so. Zuvörderst er¬
fordert die Herstellung der Maschinen, die Gewinnung der Rohstoffe und die
Beschaffung des Heizmaterials für die Dampfmaschinen eine gewaltige, zum
Teil sehr mühselige, gefährliche und unerfreuliche Arbeit. Sodann hat die
Vermehrung der gewerblichen Erzeugnisse zur Vermehrung der Bedürfnisse nicht
sowohl verlockt als gezwungen. Während im frühern Mittelalter auch die
vornehmeren Frauen nur ein einziges großes Stück feinen Tuches besaßen, das
sie bei Festen trugen und dein sie dnrch verschiedene Vefestigungswcise und
verschiednen Faltenwurf, Anbringung von Verzierungen u. s. w. immer wieder
ein neues Aussehen gaben, müssen heute schon die Männer und Frauen des
Handwerkerstandes jährlich zwei „Saison"-Anziige kaufen. Während noch vor
dreißig Jahren die Sommerkleidung für Knaben der ärmeren Klasse sich auf
Hemd und Hose, für Mädchen auf das Hemd und ein Kittelchen beschränkte,
dürfen in vielen Städten die Kinder nicht mehr barfuß zur Schule kommen,
tragen die Mädchen ganz allgemein Beinkleider und ist an Sonn- und Feier¬
tagen wenigstens alles bis auf die kleinsten Kinder herunter mit Handschuhen
versehen. So werden die Allsgaben für Kleidung, Gerätschaften, Anstands-
pflichten beständig vermehrt, was entweder vermehrte Arbeit zur Erzielung eiues
größeren Verdienstes oder Verminderung der Ausgaben auf Nahrung und
Feuerung bedingt. Außerdem ist durch den Maschinenbetrieb die persöliche»
Arbeit entwertet worden, sodaß man für eme größere Arbeitsleistung eine
geringere Summe Geld und namentlich eine geringere Menge von Nahrungs¬
mitteln erhält. Als die Industrie noch in den Windeln lag, da galt eine Elle
Tuch so viel wie ein Ochs, und hente! Vor vierhundert Jahren konnte man
durch Abschreiben von Büchern wohlhabend werden, noch vor vierzig Jahren
sich mit Abschreiben von Noten seinen Lebensunterhalt verdienen. Auch die
Schmucksachen, verzierten Metallgeräte, farbigen Bilder, die heute gekauft werden,
find meistens nicht Originalarbeiten des Künstlers, sondern mechanische Ver¬
vielfältigungen eines Modells. Noch dazu ist die Fabrikarbeit häufig geist¬
tötend, und darum an sich schon Sklavenarbeit. Schleiermacher erklärt, nach
Noschers Ansicht mit Recht, jede rein mechanische Thätigkeit, durch die der
Mensch ein lebendiges Werkzeug wird, für unsittlich. Die arbeitsparende Wirkung
der Maschinen bleibt trotz alledem nicht aus; aber sie äußert sich nicht in der
Verkürzung der Arbeitszeit für die Arbeitenden, sondern in der Vermindern»«,
der Arbeitsgelegenheit für die Arbeitsucheuden, und mich das vielbeklagte
Gelehrtenprvletariat wird zum Teil durch den Umstand erzeugt, daß bei der
geringen Aussicht auf Versorgung im Gewerbe und Handel die Väter wie die
Söhne ihre letzte Hoffnung auf den Staat und sein Beamtenheer setzen. In
der Landwirtschaft endlich haben die Einführung der mechanischen Spinnerei
und der Dreschmaschine den größten Teil der Winterarbeit weggenommen. Da
nun in den ärmeren Gegenden die Tagelöhner im Sommer nicht so viel ver-


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[0404] Freiheit Sklave» mehr brauche». Vorläufig aber liegt die Sache so. Zuvörderst er¬ fordert die Herstellung der Maschinen, die Gewinnung der Rohstoffe und die Beschaffung des Heizmaterials für die Dampfmaschinen eine gewaltige, zum Teil sehr mühselige, gefährliche und unerfreuliche Arbeit. Sodann hat die Vermehrung der gewerblichen Erzeugnisse zur Vermehrung der Bedürfnisse nicht sowohl verlockt als gezwungen. Während im frühern Mittelalter auch die vornehmeren Frauen nur ein einziges großes Stück feinen Tuches besaßen, das sie bei Festen trugen und dein sie dnrch verschiedene Vefestigungswcise und verschiednen Faltenwurf, Anbringung von Verzierungen u. s. w. immer wieder ein neues Aussehen gaben, müssen heute schon die Männer und Frauen des Handwerkerstandes jährlich zwei „Saison"-Anziige kaufen. Während noch vor dreißig Jahren die Sommerkleidung für Knaben der ärmeren Klasse sich auf Hemd und Hose, für Mädchen auf das Hemd und ein Kittelchen beschränkte, dürfen in vielen Städten die Kinder nicht mehr barfuß zur Schule kommen, tragen die Mädchen ganz allgemein Beinkleider und ist an Sonn- und Feier¬ tagen wenigstens alles bis auf die kleinsten Kinder herunter mit Handschuhen versehen. So werden die Allsgaben für Kleidung, Gerätschaften, Anstands- pflichten beständig vermehrt, was entweder vermehrte Arbeit zur Erzielung eiues größeren Verdienstes oder Verminderung der Ausgaben auf Nahrung und Feuerung bedingt. Außerdem ist durch den Maschinenbetrieb die persöliche» Arbeit entwertet worden, sodaß man für eme größere Arbeitsleistung eine geringere Summe Geld und namentlich eine geringere Menge von Nahrungs¬ mitteln erhält. Als die Industrie noch in den Windeln lag, da galt eine Elle Tuch so viel wie ein Ochs, und hente! Vor vierhundert Jahren konnte man durch Abschreiben von Büchern wohlhabend werden, noch vor vierzig Jahren sich mit Abschreiben von Noten seinen Lebensunterhalt verdienen. Auch die Schmucksachen, verzierten Metallgeräte, farbigen Bilder, die heute gekauft werden, find meistens nicht Originalarbeiten des Künstlers, sondern mechanische Ver¬ vielfältigungen eines Modells. Noch dazu ist die Fabrikarbeit häufig geist¬ tötend, und darum an sich schon Sklavenarbeit. Schleiermacher erklärt, nach Noschers Ansicht mit Recht, jede rein mechanische Thätigkeit, durch die der Mensch ein lebendiges Werkzeug wird, für unsittlich. Die arbeitsparende Wirkung der Maschinen bleibt trotz alledem nicht aus; aber sie äußert sich nicht in der Verkürzung der Arbeitszeit für die Arbeitenden, sondern in der Vermindern»«, der Arbeitsgelegenheit für die Arbeitsucheuden, und mich das vielbeklagte Gelehrtenprvletariat wird zum Teil durch den Umstand erzeugt, daß bei der geringen Aussicht auf Versorgung im Gewerbe und Handel die Väter wie die Söhne ihre letzte Hoffnung auf den Staat und sein Beamtenheer setzen. In der Landwirtschaft endlich haben die Einführung der mechanischen Spinnerei und der Dreschmaschine den größten Teil der Winterarbeit weggenommen. Da nun in den ärmeren Gegenden die Tagelöhner im Sommer nicht so viel ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/404>, abgerufen am 05.02.2025.