Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Freiheit

bekannt gewesen war, daß er die Lehrlinge mißhandelte. Hätte er es nicht
einmal gar zu arg getrieben, so würde das Gericht gar nicht in die Lage ge¬
kommen sein, sich mit ihm zu befassen. Er hatte einen Jungen an den Beinen
aufgehängt und den kopfunter hängenden gehauen. Auf dessen Jammergeschrei
war die ganze Nachbarschaft zusammengelaufen und hatte den Gemarterten,
der schon blau im Gesicht war, befreit.

Das Schlimmste aber ist die häufige Mißhandlung von Kindern durch
ihre eignen Eltern oder ans Veranlassung derselben. Das Elend stumpft viele
Proletarier dermaßen ab, daß sie ihre Kinder entweder lediglich aus Rohheit
und Bosheit mißhandeln, um an ihnen ihre üble Laune auszulassen, oder in
der Trunkenheit, oder um sich ihrer zu entledigen, oder daß sie die armen
Kleinen zu Arbeiten zwingen, die schon teils an sich, teils wegen übermäßiger
Dauer bei mangelnder Kraft eine Marter sind. Auch in diesem Flache der
"Hähern Kultur" ist England allen andern Staaten voran. Wie wenig durch¬
greifend die auf Betreiben Shnftesbnrhs und andrer Philanthropen erlassenen
Gesetze gewirkt haben, beweisen die Prozesse, welche die vor fünf Jahren ge¬
gründete Gesellschaft zum Schutze der Proletarierkinder gegen gransame Eltern
und Vormünder anstrengt. In andern Ländern fehlt es nicht an ähnlichen
Prozessen, und ein wie geringer Teil derartiger Verbrechen kommt zur Kenntnis
des Richters! Es wird viel zu wenig beachtet, daß diese Greuel -- wenn wir
von China absehen -- eine Eigentümlichkeit der modernen christlichen Industrie-
staaten sind. Bei den Naturvölkern hegen die Eltern meistens Affenliebe zu
ihren Kindern, sie züchtigen sie nicht einmal für ihre Unarten. Bei den
Griechen lag gransame Behandlung der Sklavenkinder so sehr außerhalb der
Volkssitte, daß, wenn ein Fall vorgekommen wäre, er gewiß von einem der
redseligen Philosophen als unerhörte Unthat lang und breit besprochen worden
wäre, wie die von dem lebendig geschundenen Widder in Athen (der Tierquäler
wurde bekanntlich zum Tode verurteilt). Die weit härtern Römer verfuhren
doch erst in der Zeit übermütigen Reichtums, als Menschenfleisch billig geworden
war, grausam gegen erwachsene Sklaven. Kinder wurden nicht industriell aus¬
genutzt, und nur die unersättliche Wollust verschuldete manche Greuel. Letzteres
ist auch heute uoch bei den Muhammedanern der Fall. Abgesehen hiervon
werden deren Sklavenkinder wie eigne Kinder behandelt. Ein gleiches gilt von
den brasilianischen Sklaveukiudern, die freilich keine nach unsern Begriffen
vernünftige Erziehung erhalten, deren clolos tar uisnts aber doch wenigstens
das Gegenteil einer schlechten Behandlung ist.

Im Deutschen Reiche steht es ja, dank der väterlichen Fürsorge gewissen¬
hafter Regierungen und dem immer noch tief christlichen Sinne des Volkes,
weit besser als in England und Osterreich, aber schlimme Dinge kommen doch
auch hier vor. In einer schlesischen Cellulosefabrik -- die Arbeit darin ist der
ekelhaften und gesundheitsschädlichen Dünste wegen an sich schon eine Marter -


Grenzboten II 1889 S0
Freiheit

bekannt gewesen war, daß er die Lehrlinge mißhandelte. Hätte er es nicht
einmal gar zu arg getrieben, so würde das Gericht gar nicht in die Lage ge¬
kommen sein, sich mit ihm zu befassen. Er hatte einen Jungen an den Beinen
aufgehängt und den kopfunter hängenden gehauen. Auf dessen Jammergeschrei
war die ganze Nachbarschaft zusammengelaufen und hatte den Gemarterten,
der schon blau im Gesicht war, befreit.

Das Schlimmste aber ist die häufige Mißhandlung von Kindern durch
ihre eignen Eltern oder ans Veranlassung derselben. Das Elend stumpft viele
Proletarier dermaßen ab, daß sie ihre Kinder entweder lediglich aus Rohheit
und Bosheit mißhandeln, um an ihnen ihre üble Laune auszulassen, oder in
der Trunkenheit, oder um sich ihrer zu entledigen, oder daß sie die armen
Kleinen zu Arbeiten zwingen, die schon teils an sich, teils wegen übermäßiger
Dauer bei mangelnder Kraft eine Marter sind. Auch in diesem Flache der
„Hähern Kultur" ist England allen andern Staaten voran. Wie wenig durch¬
greifend die auf Betreiben Shnftesbnrhs und andrer Philanthropen erlassenen
Gesetze gewirkt haben, beweisen die Prozesse, welche die vor fünf Jahren ge¬
gründete Gesellschaft zum Schutze der Proletarierkinder gegen gransame Eltern
und Vormünder anstrengt. In andern Ländern fehlt es nicht an ähnlichen
Prozessen, und ein wie geringer Teil derartiger Verbrechen kommt zur Kenntnis
des Richters! Es wird viel zu wenig beachtet, daß diese Greuel — wenn wir
von China absehen — eine Eigentümlichkeit der modernen christlichen Industrie-
staaten sind. Bei den Naturvölkern hegen die Eltern meistens Affenliebe zu
ihren Kindern, sie züchtigen sie nicht einmal für ihre Unarten. Bei den
Griechen lag gransame Behandlung der Sklavenkinder so sehr außerhalb der
Volkssitte, daß, wenn ein Fall vorgekommen wäre, er gewiß von einem der
redseligen Philosophen als unerhörte Unthat lang und breit besprochen worden
wäre, wie die von dem lebendig geschundenen Widder in Athen (der Tierquäler
wurde bekanntlich zum Tode verurteilt). Die weit härtern Römer verfuhren
doch erst in der Zeit übermütigen Reichtums, als Menschenfleisch billig geworden
war, grausam gegen erwachsene Sklaven. Kinder wurden nicht industriell aus¬
genutzt, und nur die unersättliche Wollust verschuldete manche Greuel. Letzteres
ist auch heute uoch bei den Muhammedanern der Fall. Abgesehen hiervon
werden deren Sklavenkinder wie eigne Kinder behandelt. Ein gleiches gilt von
den brasilianischen Sklaveukiudern, die freilich keine nach unsern Begriffen
vernünftige Erziehung erhalten, deren clolos tar uisnts aber doch wenigstens
das Gegenteil einer schlechten Behandlung ist.

Im Deutschen Reiche steht es ja, dank der väterlichen Fürsorge gewissen¬
hafter Regierungen und dem immer noch tief christlichen Sinne des Volkes,
weit besser als in England und Osterreich, aber schlimme Dinge kommen doch
auch hier vor. In einer schlesischen Cellulosefabrik — die Arbeit darin ist der
ekelhaften und gesundheitsschädlichen Dünste wegen an sich schon eine Marter -


Grenzboten II 1889 S0
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0401" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205132"/>
          <fw type="header" place="top"> Freiheit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1122" prev="#ID_1121"> bekannt gewesen war, daß er die Lehrlinge mißhandelte. Hätte er es nicht<lb/>
einmal gar zu arg getrieben, so würde das Gericht gar nicht in die Lage ge¬<lb/>
kommen sein, sich mit ihm zu befassen. Er hatte einen Jungen an den Beinen<lb/>
aufgehängt und den kopfunter hängenden gehauen. Auf dessen Jammergeschrei<lb/>
war die ganze Nachbarschaft zusammengelaufen und hatte den Gemarterten,<lb/>
der schon blau im Gesicht war, befreit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1123"> Das Schlimmste aber ist die häufige Mißhandlung von Kindern durch<lb/>
ihre eignen Eltern oder ans Veranlassung derselben. Das Elend stumpft viele<lb/>
Proletarier dermaßen ab, daß sie ihre Kinder entweder lediglich aus Rohheit<lb/>
und Bosheit mißhandeln, um an ihnen ihre üble Laune auszulassen, oder in<lb/>
der Trunkenheit, oder um sich ihrer zu entledigen, oder daß sie die armen<lb/>
Kleinen zu Arbeiten zwingen, die schon teils an sich, teils wegen übermäßiger<lb/>
Dauer bei mangelnder Kraft eine Marter sind. Auch in diesem Flache der<lb/>
&#x201E;Hähern Kultur" ist England allen andern Staaten voran. Wie wenig durch¬<lb/>
greifend die auf Betreiben Shnftesbnrhs und andrer Philanthropen erlassenen<lb/>
Gesetze gewirkt haben, beweisen die Prozesse, welche die vor fünf Jahren ge¬<lb/>
gründete Gesellschaft zum Schutze der Proletarierkinder gegen gransame Eltern<lb/>
und Vormünder anstrengt. In andern Ländern fehlt es nicht an ähnlichen<lb/>
Prozessen, und ein wie geringer Teil derartiger Verbrechen kommt zur Kenntnis<lb/>
des Richters! Es wird viel zu wenig beachtet, daß diese Greuel &#x2014; wenn wir<lb/>
von China absehen &#x2014; eine Eigentümlichkeit der modernen christlichen Industrie-<lb/>
staaten sind. Bei den Naturvölkern hegen die Eltern meistens Affenliebe zu<lb/>
ihren Kindern, sie züchtigen sie nicht einmal für ihre Unarten. Bei den<lb/>
Griechen lag gransame Behandlung der Sklavenkinder so sehr außerhalb der<lb/>
Volkssitte, daß, wenn ein Fall vorgekommen wäre, er gewiß von einem der<lb/>
redseligen Philosophen als unerhörte Unthat lang und breit besprochen worden<lb/>
wäre, wie die von dem lebendig geschundenen Widder in Athen (der Tierquäler<lb/>
wurde bekanntlich zum Tode verurteilt). Die weit härtern Römer verfuhren<lb/>
doch erst in der Zeit übermütigen Reichtums, als Menschenfleisch billig geworden<lb/>
war, grausam gegen erwachsene Sklaven. Kinder wurden nicht industriell aus¬<lb/>
genutzt, und nur die unersättliche Wollust verschuldete manche Greuel. Letzteres<lb/>
ist auch heute uoch bei den Muhammedanern der Fall. Abgesehen hiervon<lb/>
werden deren Sklavenkinder wie eigne Kinder behandelt. Ein gleiches gilt von<lb/>
den brasilianischen Sklaveukiudern, die freilich keine nach unsern Begriffen<lb/>
vernünftige Erziehung erhalten, deren clolos tar uisnts aber doch wenigstens<lb/>
das Gegenteil einer schlechten Behandlung ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1124" next="#ID_1125"> Im Deutschen Reiche steht es ja, dank der väterlichen Fürsorge gewissen¬<lb/>
hafter Regierungen und dem immer noch tief christlichen Sinne des Volkes,<lb/>
weit besser als in England und Osterreich, aber schlimme Dinge kommen doch<lb/>
auch hier vor. In einer schlesischen Cellulosefabrik &#x2014; die Arbeit darin ist der<lb/>
ekelhaften und gesundheitsschädlichen Dünste wegen an sich schon eine Marter -</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1889 S0</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0401] Freiheit bekannt gewesen war, daß er die Lehrlinge mißhandelte. Hätte er es nicht einmal gar zu arg getrieben, so würde das Gericht gar nicht in die Lage ge¬ kommen sein, sich mit ihm zu befassen. Er hatte einen Jungen an den Beinen aufgehängt und den kopfunter hängenden gehauen. Auf dessen Jammergeschrei war die ganze Nachbarschaft zusammengelaufen und hatte den Gemarterten, der schon blau im Gesicht war, befreit. Das Schlimmste aber ist die häufige Mißhandlung von Kindern durch ihre eignen Eltern oder ans Veranlassung derselben. Das Elend stumpft viele Proletarier dermaßen ab, daß sie ihre Kinder entweder lediglich aus Rohheit und Bosheit mißhandeln, um an ihnen ihre üble Laune auszulassen, oder in der Trunkenheit, oder um sich ihrer zu entledigen, oder daß sie die armen Kleinen zu Arbeiten zwingen, die schon teils an sich, teils wegen übermäßiger Dauer bei mangelnder Kraft eine Marter sind. Auch in diesem Flache der „Hähern Kultur" ist England allen andern Staaten voran. Wie wenig durch¬ greifend die auf Betreiben Shnftesbnrhs und andrer Philanthropen erlassenen Gesetze gewirkt haben, beweisen die Prozesse, welche die vor fünf Jahren ge¬ gründete Gesellschaft zum Schutze der Proletarierkinder gegen gransame Eltern und Vormünder anstrengt. In andern Ländern fehlt es nicht an ähnlichen Prozessen, und ein wie geringer Teil derartiger Verbrechen kommt zur Kenntnis des Richters! Es wird viel zu wenig beachtet, daß diese Greuel — wenn wir von China absehen — eine Eigentümlichkeit der modernen christlichen Industrie- staaten sind. Bei den Naturvölkern hegen die Eltern meistens Affenliebe zu ihren Kindern, sie züchtigen sie nicht einmal für ihre Unarten. Bei den Griechen lag gransame Behandlung der Sklavenkinder so sehr außerhalb der Volkssitte, daß, wenn ein Fall vorgekommen wäre, er gewiß von einem der redseligen Philosophen als unerhörte Unthat lang und breit besprochen worden wäre, wie die von dem lebendig geschundenen Widder in Athen (der Tierquäler wurde bekanntlich zum Tode verurteilt). Die weit härtern Römer verfuhren doch erst in der Zeit übermütigen Reichtums, als Menschenfleisch billig geworden war, grausam gegen erwachsene Sklaven. Kinder wurden nicht industriell aus¬ genutzt, und nur die unersättliche Wollust verschuldete manche Greuel. Letzteres ist auch heute uoch bei den Muhammedanern der Fall. Abgesehen hiervon werden deren Sklavenkinder wie eigne Kinder behandelt. Ein gleiches gilt von den brasilianischen Sklaveukiudern, die freilich keine nach unsern Begriffen vernünftige Erziehung erhalten, deren clolos tar uisnts aber doch wenigstens das Gegenteil einer schlechten Behandlung ist. Im Deutschen Reiche steht es ja, dank der väterlichen Fürsorge gewissen¬ hafter Regierungen und dem immer noch tief christlichen Sinne des Volkes, weit besser als in England und Osterreich, aber schlimme Dinge kommen doch auch hier vor. In einer schlesischen Cellulosefabrik — die Arbeit darin ist der ekelhaften und gesundheitsschädlichen Dünste wegen an sich schon eine Marter - Grenzboten II 1889 S0

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/401
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/401>, abgerufen am 05.02.2025.