Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Freiheit fast jeder Meister ein Original, nirgends Schablone bemerkbar. Man konnte Sodann: die Gewährung der Freizügigkeit war ein Akt wirklicher Befreiung Freiheit fast jeder Meister ein Original, nirgends Schablone bemerkbar. Man konnte Sodann: die Gewährung der Freizügigkeit war ein Akt wirklicher Befreiung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0400" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205131"/> <fw type="header" place="top"> Freiheit</fw><lb/> <p xml:id="ID_1120" prev="#ID_1119"> fast jeder Meister ein Original, nirgends Schablone bemerkbar. Man konnte<lb/> in der Zunft ein Dante oder ein Boccaccio werden, ein verzückter Madonnen¬<lb/> maler, ein gesunder Realist oder ein Zvtenmaler. Wie bei gebundener Indivi¬<lb/> dualität die Schöpfungen der Künstler und Handwerker ausfallen, daS zeigen<lb/> deutlich genug Ägypten, Byzanz und China. Der moderne Individualismus<lb/> aber besteht mehr aus einer Vielheit kirchlicher Sekten, philosophischer Schulen,<lb/> politischer Parteien und ästhetischer Geschmacksrichtungen; innerhalb einer jeden<lb/> solchen Gruppe zeigen die Personen eine starke Familienähnlichkeit. Und so<lb/> gedankenlos und zerstreut ist unser dnrch eine Überfülle vou Eindrücken und<lb/> Ansprüchen müde gehetztes Geschlecht, daß man in Büchern und Zeitschriften<lb/> den Preis der modernen individuellen Freiheit und die Klage über die nivel-<lb/> lirende Wirkung der Schuldressur, des Weltverkehrs, der Mode hart neben<lb/> einander findet. Ja noch mehr: unsre Zeit fängt an, sich zu rühmen, daß<lb/> sie den Individualismus dnrch den Sozialismus, das Nationalgefühl und den<lb/> Staatsgedanken überwunden habe! In einer Zeitschrift, die dem gemäßigten<lb/> Liberalismus huldigt und die vor allein modern sein will, las man kürzlich<lb/> den Ausruf: „Die Zeit der Individualitäten ist — Gott sei Dank! — vorüber;<lb/> hente wissen nur, daß el» jeder nur als »Atom« seines Volkes etwas bedeuten<lb/> kann!" Da wären wir denn auf dem Wege der Rückbildung wieder ans der<lb/> Daseinsstufe der Kvrallentiere angelangt! Glücklicherweise giebt es aber noch<lb/> Leute genug, die, Nieniger bescheiden und selbstlos, nicht daran denken, ans<lb/> ihre Persönlichkeit zu verzichten; wen» wir auch nicht mehr, gleich den „Welt¬<lb/> bürgern" einer vergangenen Periode, über unsrer Persönlichkeit die Pflichten<lb/> gegen Staat und Vaterland vergessen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1121" next="#ID_1122"> Sodann: die Gewährung der Freizügigkeit war ein Akt wirklicher Befreiung<lb/> in jener Zeit, da die sich mächtig entfaltende Industrie nach Arbeitskräften<lb/> hungerte und die Lage der ihr zuströmenden Kleinhandwerker, Gesellen und<lb/> Tagelöhner zu verbessern vermochte. Sobald aber das Bedürfnis gedeckt war,<lb/> verfielen die Arbeiter der kläglichsten Abhängigkeit. Die Redensart von den<lb/> „weißen Sklaven" ist zwar schon verbraucht, aber trotzdem dürfen wir uns<lb/> der Verpflichtung uicht entziehen, immer wieder vou neuem an die traurige<lb/> Wahrheit zu erinnern, daß das „freie Spiel der Kräfte" Abhängigkeitsverhältnisse<lb/> erzeugt, die sich von der Sklaverei nur rechtlich, aber nicht thatsächlich unter¬<lb/> scheiden. Jene Zustände des englischen Arbeiterstnndes, die seinerzeit Lord<lb/> Shaftesbury, in unsern Tagen die Untersuchung des Schwitzsystems an den<lb/> Tag gebracht hat, was die österreichischen Gewerbeinspektoren in Fabriken und<lb/> noch mehr in kleinen Werkstätten gesehen haben, das alles ist über die Maßen<lb/> traurig. Gesetzlich steht es in keinem Staate Europas den Arbeitgebern zu,<lb/> ihre Arbeiter zu mißhandeln. Gerade die kleinen Arbeitgeber aber, sowie die<lb/> Gehilfen und Werkführer der größer» thun es oft genug. In Wien wurde<lb/> neulich ein Geselle zu acht Tagen Gefängnis verurteilt, vou dem es längst</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0400]
Freiheit
fast jeder Meister ein Original, nirgends Schablone bemerkbar. Man konnte
in der Zunft ein Dante oder ein Boccaccio werden, ein verzückter Madonnen¬
maler, ein gesunder Realist oder ein Zvtenmaler. Wie bei gebundener Indivi¬
dualität die Schöpfungen der Künstler und Handwerker ausfallen, daS zeigen
deutlich genug Ägypten, Byzanz und China. Der moderne Individualismus
aber besteht mehr aus einer Vielheit kirchlicher Sekten, philosophischer Schulen,
politischer Parteien und ästhetischer Geschmacksrichtungen; innerhalb einer jeden
solchen Gruppe zeigen die Personen eine starke Familienähnlichkeit. Und so
gedankenlos und zerstreut ist unser dnrch eine Überfülle vou Eindrücken und
Ansprüchen müde gehetztes Geschlecht, daß man in Büchern und Zeitschriften
den Preis der modernen individuellen Freiheit und die Klage über die nivel-
lirende Wirkung der Schuldressur, des Weltverkehrs, der Mode hart neben
einander findet. Ja noch mehr: unsre Zeit fängt an, sich zu rühmen, daß
sie den Individualismus dnrch den Sozialismus, das Nationalgefühl und den
Staatsgedanken überwunden habe! In einer Zeitschrift, die dem gemäßigten
Liberalismus huldigt und die vor allein modern sein will, las man kürzlich
den Ausruf: „Die Zeit der Individualitäten ist — Gott sei Dank! — vorüber;
hente wissen nur, daß el» jeder nur als »Atom« seines Volkes etwas bedeuten
kann!" Da wären wir denn auf dem Wege der Rückbildung wieder ans der
Daseinsstufe der Kvrallentiere angelangt! Glücklicherweise giebt es aber noch
Leute genug, die, Nieniger bescheiden und selbstlos, nicht daran denken, ans
ihre Persönlichkeit zu verzichten; wen» wir auch nicht mehr, gleich den „Welt¬
bürgern" einer vergangenen Periode, über unsrer Persönlichkeit die Pflichten
gegen Staat und Vaterland vergessen.
Sodann: die Gewährung der Freizügigkeit war ein Akt wirklicher Befreiung
in jener Zeit, da die sich mächtig entfaltende Industrie nach Arbeitskräften
hungerte und die Lage der ihr zuströmenden Kleinhandwerker, Gesellen und
Tagelöhner zu verbessern vermochte. Sobald aber das Bedürfnis gedeckt war,
verfielen die Arbeiter der kläglichsten Abhängigkeit. Die Redensart von den
„weißen Sklaven" ist zwar schon verbraucht, aber trotzdem dürfen wir uns
der Verpflichtung uicht entziehen, immer wieder vou neuem an die traurige
Wahrheit zu erinnern, daß das „freie Spiel der Kräfte" Abhängigkeitsverhältnisse
erzeugt, die sich von der Sklaverei nur rechtlich, aber nicht thatsächlich unter¬
scheiden. Jene Zustände des englischen Arbeiterstnndes, die seinerzeit Lord
Shaftesbury, in unsern Tagen die Untersuchung des Schwitzsystems an den
Tag gebracht hat, was die österreichischen Gewerbeinspektoren in Fabriken und
noch mehr in kleinen Werkstätten gesehen haben, das alles ist über die Maßen
traurig. Gesetzlich steht es in keinem Staate Europas den Arbeitgebern zu,
ihre Arbeiter zu mißhandeln. Gerade die kleinen Arbeitgeber aber, sowie die
Gehilfen und Werkführer der größer» thun es oft genug. In Wien wurde
neulich ein Geselle zu acht Tagen Gefängnis verurteilt, vou dem es längst
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