Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.hundert sind auch in Deutschland die Städter bedeutungslose Spießbürger, und Wenn man die politische Freiheit für die Krone aller Freiheiten und die schlimme Lage der Pfarrer sind bekannt, Röscher (n, n. O. 1, 309--311) meint, hente sei
das anders; schon die "materiell und moralisch so ungemein erleichterte Auswanderung" be¬ wirke, daß mit jeder Preiserhöhung der Tagelohn steige. Als Röscher das schrieb, war es ohne Zweifel richtig; ob aber auch heute noch, wo Amerika keine Paupers mehr aufnimmt, die russische Grenze hermetisch gesperrt ist, und die hoffentlich in Afrika vorhandenen Bcsiedlnngs- gcbiete noch nicht zugänglich gemacht sind? hundert sind auch in Deutschland die Städter bedeutungslose Spießbürger, und Wenn man die politische Freiheit für die Krone aller Freiheiten und die schlimme Lage der Pfarrer sind bekannt, Röscher (n, n. O. 1, 309—311) meint, hente sei
das anders; schon die „materiell und moralisch so ungemein erleichterte Auswanderung" be¬ wirke, daß mit jeder Preiserhöhung der Tagelohn steige. Als Röscher das schrieb, war es ohne Zweifel richtig; ob aber auch heute noch, wo Amerika keine Paupers mehr aufnimmt, die russische Grenze hermetisch gesperrt ist, und die hoffentlich in Afrika vorhandenen Bcsiedlnngs- gcbiete noch nicht zugänglich gemacht sind? <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0398" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205129"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1115" prev="#ID_1114"> hundert sind auch in Deutschland die Städter bedeutungslose Spießbürger, und<lb/> der Bauer fürchtet wieder den Stock des gnädigen Herrn wie Anno 900. Die<lb/> nach Beendigung der Religionskriege neu erwachte Regsamkeit der gebildeten<lb/> Geister, die Maßregeln aufgeklärter Despoten und Bürennkraten, die Bedrohung<lb/> der Fürsten dnrch Napoleon, die die Fürsten veranlaßt, zur Rettung des Vater¬<lb/> landes die Volkskraft zu entfesseln, das alles wirkt zusammen, jene liberale<lb/> Periode herbeizuführen, deren gesetzgeberische Leistungen durch den Namen des<lb/> Freiherrn vom Stein gekennzeichnet werden. Die von Preußen ausgehenden<lb/> Einrichtungen des allgemeinen Schulzwanges und der allgemeinen Wehrpflicht<lb/> bilden für die Wiederaufrichtung einer gesetzlichen Abhängigkeit der untern<lb/> Stände von den obern ein fast unübersteigliches Hindernis. Denn gleiche<lb/> Wehrpflicht fordert als Ergänzung gleiche politische Rechte, und der Schul-<lb/> zwang nötigt allen ohne Ausnahme die Waffe der Bildung auf, die noch<lb/> stärker ist als das Geld; die Presse giebt den Armen das Mittel an die Hand,<lb/> sich sogar ohne eine besondre Organisation unter einander zu verständigen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1116" next="#ID_1117"> Wenn man die politische Freiheit für die Krone aller Freiheiten und<lb/> Gleichberechtigung für das Wesen der politischen Freiheit hält, dann hat mit<lb/> der Verleihung des allgemeinen, gleichen und geheimen aktiven und passiven<lb/> Wahlrechts in Deutschland die weltgeschichtliche Entwicklung mit Rücksicht auf<lb/> die Freiheit ihren Höhepunkt erreicht; denn daß allen mündigen Männern das<lb/> gleiche Recht der Mitwirkung an der Gesetzgebung eingeräumt worden wäre,<lb/> war vor 1871, in der alten Welt und in einem Reiche von beinahe fünfzig<lb/> Millionen wenigstens, noch nicht dagewesen. Freilich hatte der Reichskanzler<lb/> den großen Wurf nicht in der Meinung gewagt, damit das Ideal überspannter<lb/> Freiheitsschwärmer zu verwirklichen. Durch die Tatenlosigkeit wie durch die<lb/> natürliche Abhängigkeit der Armen von den Reichen, der Ungebildeten von den<lb/> Gebildeten, namentlich in einem Staatswesen von unübersehbarer Größe und<lb/> Künstlichkeit, ist schon dafür gesorgt, daß nicht etwa eines schönen Tages die<lb/> Großgrundbesitzer und die Tagelöhner im geraden Verhältnis ihrer Kopfzahl<lb/> dnrch Reichstagsabgeordnete vertreten seien. Obwohl also die Möglichkeit einer<lb/> demokratischen Znsammensetzung des Reichstages ausgeschlossen erscheint, hören<lb/> doch die Ängstlichern uuter den obern Zehn- oder Hunderttausend nicht ans,<lb/> sich über eine völlig feuersichere Einrichtung des Wnhlapparates den Kopf zu<lb/> zerbrechen. Bis eine solche erfunden wird, dürften die Arbeitgeber auf die<lb/> Ausübung ihres vielleicht nicht streng „legalen," aber nach Ansicht des Herrn</p><lb/> <note xml:id="FID_54" prev="#FID_53" place="foot"> die schlimme Lage der Pfarrer sind bekannt, Röscher (n, n. O. 1, 309—311) meint, hente sei<lb/> das anders; schon die „materiell und moralisch so ungemein erleichterte Auswanderung" be¬<lb/> wirke, daß mit jeder Preiserhöhung der Tagelohn steige. Als Röscher das schrieb, war es<lb/> ohne Zweifel richtig; ob aber auch heute noch, wo Amerika keine Paupers mehr aufnimmt,<lb/> die russische Grenze hermetisch gesperrt ist, und die hoffentlich in Afrika vorhandenen Bcsiedlnngs-<lb/> gcbiete noch nicht zugänglich gemacht sind?</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0398]
hundert sind auch in Deutschland die Städter bedeutungslose Spießbürger, und
der Bauer fürchtet wieder den Stock des gnädigen Herrn wie Anno 900. Die
nach Beendigung der Religionskriege neu erwachte Regsamkeit der gebildeten
Geister, die Maßregeln aufgeklärter Despoten und Bürennkraten, die Bedrohung
der Fürsten dnrch Napoleon, die die Fürsten veranlaßt, zur Rettung des Vater¬
landes die Volkskraft zu entfesseln, das alles wirkt zusammen, jene liberale
Periode herbeizuführen, deren gesetzgeberische Leistungen durch den Namen des
Freiherrn vom Stein gekennzeichnet werden. Die von Preußen ausgehenden
Einrichtungen des allgemeinen Schulzwanges und der allgemeinen Wehrpflicht
bilden für die Wiederaufrichtung einer gesetzlichen Abhängigkeit der untern
Stände von den obern ein fast unübersteigliches Hindernis. Denn gleiche
Wehrpflicht fordert als Ergänzung gleiche politische Rechte, und der Schul-
zwang nötigt allen ohne Ausnahme die Waffe der Bildung auf, die noch
stärker ist als das Geld; die Presse giebt den Armen das Mittel an die Hand,
sich sogar ohne eine besondre Organisation unter einander zu verständigen.
Wenn man die politische Freiheit für die Krone aller Freiheiten und
Gleichberechtigung für das Wesen der politischen Freiheit hält, dann hat mit
der Verleihung des allgemeinen, gleichen und geheimen aktiven und passiven
Wahlrechts in Deutschland die weltgeschichtliche Entwicklung mit Rücksicht auf
die Freiheit ihren Höhepunkt erreicht; denn daß allen mündigen Männern das
gleiche Recht der Mitwirkung an der Gesetzgebung eingeräumt worden wäre,
war vor 1871, in der alten Welt und in einem Reiche von beinahe fünfzig
Millionen wenigstens, noch nicht dagewesen. Freilich hatte der Reichskanzler
den großen Wurf nicht in der Meinung gewagt, damit das Ideal überspannter
Freiheitsschwärmer zu verwirklichen. Durch die Tatenlosigkeit wie durch die
natürliche Abhängigkeit der Armen von den Reichen, der Ungebildeten von den
Gebildeten, namentlich in einem Staatswesen von unübersehbarer Größe und
Künstlichkeit, ist schon dafür gesorgt, daß nicht etwa eines schönen Tages die
Großgrundbesitzer und die Tagelöhner im geraden Verhältnis ihrer Kopfzahl
dnrch Reichstagsabgeordnete vertreten seien. Obwohl also die Möglichkeit einer
demokratischen Znsammensetzung des Reichstages ausgeschlossen erscheint, hören
doch die Ängstlichern uuter den obern Zehn- oder Hunderttausend nicht ans,
sich über eine völlig feuersichere Einrichtung des Wnhlapparates den Kopf zu
zerbrechen. Bis eine solche erfunden wird, dürften die Arbeitgeber auf die
Ausübung ihres vielleicht nicht streng „legalen," aber nach Ansicht des Herrn
die schlimme Lage der Pfarrer sind bekannt, Röscher (n, n. O. 1, 309—311) meint, hente sei
das anders; schon die „materiell und moralisch so ungemein erleichterte Auswanderung" be¬
wirke, daß mit jeder Preiserhöhung der Tagelohn steige. Als Röscher das schrieb, war es
ohne Zweifel richtig; ob aber auch heute noch, wo Amerika keine Paupers mehr aufnimmt,
die russische Grenze hermetisch gesperrt ist, und die hoffentlich in Afrika vorhandenen Bcsiedlnngs-
gcbiete noch nicht zugänglich gemacht sind?
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