Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.rüttelt sich der Mensch mit der Frage, ob das, was er bittet, gut oder böse rüttelt sich der Mensch mit der Frage, ob das, was er bittet, gut oder böse <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0352" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205083"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_971" prev="#ID_970" next="#ID_972"> rüttelt sich der Mensch mit der Frage, ob das, was er bittet, gut oder böse<lb/> sei; ist es gut, so geht er gestärkt aus dem Gebet hervor; dies gerade verleiht<lb/> ihm Mut und Gewißheit, die Bürgschaften des Erfolges. Ist das Gebet aber<lb/> unrecht, so wird Gewissen und Herz zaghaft, und das Gebet ist verworfen.<lb/> Die überwältigende wirkliche Macht des Gebetes in großen Augenblicken des<lb/> Menschenlebens ist gleichsam das Sinnliche, Thatsächliche, Weltliche des Gebetes;<lb/> der Gedanke dagegen, daß es von Gott selbst erhört oder verworfen sei, das Über¬<lb/> sinnliche, Himmlische in ihm. Die sinnliche Macht des Gebetes verbürgt dem<lb/> Glauben seine Stellung neben Recht und Sitte; es ist die Stelle, wo der<lb/> Glaube zur Erde hernbsteigt. Sie läßt die ungeheuerlichen, aber rasch zu¬<lb/> sammensinkenden Wirkungen des Fanatismus verstehen, der eine alles über¬<lb/> täubende, schwindelnde, gewaltsame Gebetserhebung ist, während das wahre<lb/> Gebet nur kurz und besonnen sein kann. Im Gebete zeigt sich, was allem,<lb/> das zum Glauben gehört oder mit ihm zusammenhängt, vornehmlich eigen ist;<lb/> der sinnliche Bestandteil in ihm steht weit unvermittelter neben dem über¬<lb/> sinnlichen Bestandteil, als bei andern Vorgängen der Gesittung. Die<lb/> Gebetsübung muß aber zuletzt zu Selbsttäuschung und Aberglauben führen,<lb/> wenn sie nicht von Zeit zu Zeit durch gemeinsamen Gottesdienst mehrerer<lb/> gestützt wird. Denn gleichwie die gesamte Gesittung nicht bestehen könnte,<lb/> wenn nur ein Mensch da wäre, sondern allein die Beziehungen zwischen mehreren<lb/> Menschen erst das ausmachen, was man Gesittung nennt, ebenso kann auch<lb/> der Glaube des Einzelnen nur dann bestehen, wenn er von Zeit zu Zeit einen<lb/> ähnlichen Glauben an andern sieht. Diese notwendige Nahrung dem Gebete<lb/> zu gewähren ist der Zweck jedes Gottesdienstes. Ans dem Gebete beruht die<lb/> unsichtbare Kirche, und alle Betenden bilden die unsichtbare Kirche; auf der<lb/> Notwendigkeit des gemeinsamen Gottesdienstes beruht die sichtbare Kirche, und<lb/> jedesmal der Teil der Mettscheu, der ihn, seiner besondern Gesittung entsprechend,<lb/> auf ähnliche Weise begeht, bildet eine sichtbare Kirche. Die unsichtbare Kirche<lb/> ist mir einmal möglich; sichtbare Kirchen aber werden stets mehrere neben<lb/> einander bestehen, weil niemals alle in ihrer Gesittung übereinstimmen können.<lb/> Aus der Notwendigkeit der sichtbaren Kirchen ergiebt sich die notwendige<lb/> Unterscheidung zwischen Priester und Laie. Deal indem mehrere zu geniein¬<lb/> samem Gottesdienste zusammentreten, stellt sich ihre Gemeinsamkeit den Einzelnen,<lb/> ähnlich wie beim Staate, gegenüber. Auch dieses gemeinsame Wesen mich<lb/> Diener haben, die gleich der Obrigkeit die der Gesamtheit obliegenden Geschäfte<lb/> ausführen, nämlich die Gemeinsamkeit des Gebetes, den Gottesdienst, äußerlich<lb/> zur Erscheinung bringen und dadurch das Gebet des einzelnen stärken. Ebenso¬<lb/> wenig wie bei der staatlichen Obrigkeit ist es aber notwendig, daß einer oder<lb/> mehrere der Kirchenangehörigen nnr Priester, die andern nur Laren sind;<lb/> sondern es kann jedermann zum Teil Priester, zum Teil Laie sein. Nur<lb/> wenigstens für die Dauer eines Gottesdienstes oder so lange, als dies die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0352]
rüttelt sich der Mensch mit der Frage, ob das, was er bittet, gut oder böse
sei; ist es gut, so geht er gestärkt aus dem Gebet hervor; dies gerade verleiht
ihm Mut und Gewißheit, die Bürgschaften des Erfolges. Ist das Gebet aber
unrecht, so wird Gewissen und Herz zaghaft, und das Gebet ist verworfen.
Die überwältigende wirkliche Macht des Gebetes in großen Augenblicken des
Menschenlebens ist gleichsam das Sinnliche, Thatsächliche, Weltliche des Gebetes;
der Gedanke dagegen, daß es von Gott selbst erhört oder verworfen sei, das Über¬
sinnliche, Himmlische in ihm. Die sinnliche Macht des Gebetes verbürgt dem
Glauben seine Stellung neben Recht und Sitte; es ist die Stelle, wo der
Glaube zur Erde hernbsteigt. Sie läßt die ungeheuerlichen, aber rasch zu¬
sammensinkenden Wirkungen des Fanatismus verstehen, der eine alles über¬
täubende, schwindelnde, gewaltsame Gebetserhebung ist, während das wahre
Gebet nur kurz und besonnen sein kann. Im Gebete zeigt sich, was allem,
das zum Glauben gehört oder mit ihm zusammenhängt, vornehmlich eigen ist;
der sinnliche Bestandteil in ihm steht weit unvermittelter neben dem über¬
sinnlichen Bestandteil, als bei andern Vorgängen der Gesittung. Die
Gebetsübung muß aber zuletzt zu Selbsttäuschung und Aberglauben führen,
wenn sie nicht von Zeit zu Zeit durch gemeinsamen Gottesdienst mehrerer
gestützt wird. Denn gleichwie die gesamte Gesittung nicht bestehen könnte,
wenn nur ein Mensch da wäre, sondern allein die Beziehungen zwischen mehreren
Menschen erst das ausmachen, was man Gesittung nennt, ebenso kann auch
der Glaube des Einzelnen nur dann bestehen, wenn er von Zeit zu Zeit einen
ähnlichen Glauben an andern sieht. Diese notwendige Nahrung dem Gebete
zu gewähren ist der Zweck jedes Gottesdienstes. Ans dem Gebete beruht die
unsichtbare Kirche, und alle Betenden bilden die unsichtbare Kirche; auf der
Notwendigkeit des gemeinsamen Gottesdienstes beruht die sichtbare Kirche, und
jedesmal der Teil der Mettscheu, der ihn, seiner besondern Gesittung entsprechend,
auf ähnliche Weise begeht, bildet eine sichtbare Kirche. Die unsichtbare Kirche
ist mir einmal möglich; sichtbare Kirchen aber werden stets mehrere neben
einander bestehen, weil niemals alle in ihrer Gesittung übereinstimmen können.
Aus der Notwendigkeit der sichtbaren Kirchen ergiebt sich die notwendige
Unterscheidung zwischen Priester und Laie. Deal indem mehrere zu geniein¬
samem Gottesdienste zusammentreten, stellt sich ihre Gemeinsamkeit den Einzelnen,
ähnlich wie beim Staate, gegenüber. Auch dieses gemeinsame Wesen mich
Diener haben, die gleich der Obrigkeit die der Gesamtheit obliegenden Geschäfte
ausführen, nämlich die Gemeinsamkeit des Gebetes, den Gottesdienst, äußerlich
zur Erscheinung bringen und dadurch das Gebet des einzelnen stärken. Ebenso¬
wenig wie bei der staatlichen Obrigkeit ist es aber notwendig, daß einer oder
mehrere der Kirchenangehörigen nnr Priester, die andern nur Laren sind;
sondern es kann jedermann zum Teil Priester, zum Teil Laie sein. Nur
wenigstens für die Dauer eines Gottesdienstes oder so lange, als dies die
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