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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Nationalzcit, örtliche oder Weltzeit?

Protestanten endlich, endlich annahmen, blieben doch der mannichfnltigsten
Unsicherheiten noch immer genug übrig. Die Jahresanfange z. B. (am l. Januar,
oder zu Weihnacht, oder zu Maria Verkündigung, oder zu Ostern) haben ge¬
schwankt bis ins vorige Jahrhundert hinein, ein wahres Kreuz für den
Geschichtsforscher, Und vollends die Stundenteilnng ist erst in unserm Jahr¬
hundert in Ordnung gekommen. Unser Geschlecht lebt rasch, und kein Mensch
würde es heute glauben, wenn es nicht der berühmte Physiker Arago berichtete,
daß man noch bis 1816 in Paris, der Weltstadt, eine volle halbe Stunde hinter
einander von den verschiednen Türmen der Stadt dieselbe Stunde konnte schlagen
hören. In dein schön geordneten System unsers Kalender- und Uhrenwesens
haben wir die reife Frucht eiues Jahrtausende langen Wachstums, eines mühe¬
vollen Ringens vieler bedeutenden Männer dankbar zu verehren.

Wollen wir nun fragen, ob Änderungen an diesem System noch weiter
zulässig oder wünschenswert seien, so müssen wir untersuchen, ob dieses System
mehr oder weniger zufällig, oder ob es mit Notwendigkeit geworden und
gewachsen ist.

Im Anbeginn aller Kultur giebt es überhaupt kein Zeitmaß. Wenn im
Urzustande der Böller der Jäger, der Hirt abends schlafen konnte und früh
etwas zu essen fand, so war er zufrieden. Und doch prägt sich schon in
diesem Wechsel von Schlafen und Wachen der ewige Rhythmus aus, den das
Tagesgestirn, die Sonne, in das Leben und Weben der Menschen immer gebracht
hat und immer bringen wird.

Frühzeitig sind sich denn auch die Menschen dieses Rhythmus bewußt
geworden und damit übergetreten ans der zeitlosen Periode in die Periode
der wahren Sonnenzeit. Aus dem ehrwürdigen Anfangskapitel der Genesis klingt
es zu uns herüber: So ward Abend und ward Morgen, der erste Tag --
und weiter: Gott machte zwei große Lichter, ein großes Licht, das den Tag
regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne, lind
das kleine Licht, der Mond, regierte nicht bloß die Nacht, sondern gab durch
den Wechsel seiner Sichelgestalt die erste Taggruppe, den Monat (der ja in
unsrer Sprache auch selber geradezu Mond genannt wird), und das Viertel
der Mondperivde: die siebentägige Woche. Später kam dazu die Einsicht in
den Wechsel der Jahreszeiten und die Einführung des Sonnenjahres. Auch
griechische Weise nennen darum Sonne, Mond und die Sterne die "Organe"
der Zeit.

Bei dieser wahren Sonnenzeit ist es geblieben Jahrtausende lang. Denn
ob die Juden ihren Tag mit Sonnenuntergang begannen, die Römer und wir
nur Mitternacht (die Astronomen und Seefahrer, wie ich hier einschalten null,
um Mittag), ob man die Nacht in Nachtwachen, Vigilien, oder sonstwie ein¬
teilte, immer waren doch Ans- und Untergang und der Gipfelstand der Sonne
maßgebend. Schattenlängen, Schattenrichtnngen an Sonnenuhren, zu denen


Grenzboten II 1889 41
Nationalzcit, örtliche oder Weltzeit?

Protestanten endlich, endlich annahmen, blieben doch der mannichfnltigsten
Unsicherheiten noch immer genug übrig. Die Jahresanfange z. B. (am l. Januar,
oder zu Weihnacht, oder zu Maria Verkündigung, oder zu Ostern) haben ge¬
schwankt bis ins vorige Jahrhundert hinein, ein wahres Kreuz für den
Geschichtsforscher, Und vollends die Stundenteilnng ist erst in unserm Jahr¬
hundert in Ordnung gekommen. Unser Geschlecht lebt rasch, und kein Mensch
würde es heute glauben, wenn es nicht der berühmte Physiker Arago berichtete,
daß man noch bis 1816 in Paris, der Weltstadt, eine volle halbe Stunde hinter
einander von den verschiednen Türmen der Stadt dieselbe Stunde konnte schlagen
hören. In dein schön geordneten System unsers Kalender- und Uhrenwesens
haben wir die reife Frucht eiues Jahrtausende langen Wachstums, eines mühe¬
vollen Ringens vieler bedeutenden Männer dankbar zu verehren.

Wollen wir nun fragen, ob Änderungen an diesem System noch weiter
zulässig oder wünschenswert seien, so müssen wir untersuchen, ob dieses System
mehr oder weniger zufällig, oder ob es mit Notwendigkeit geworden und
gewachsen ist.

Im Anbeginn aller Kultur giebt es überhaupt kein Zeitmaß. Wenn im
Urzustande der Böller der Jäger, der Hirt abends schlafen konnte und früh
etwas zu essen fand, so war er zufrieden. Und doch prägt sich schon in
diesem Wechsel von Schlafen und Wachen der ewige Rhythmus aus, den das
Tagesgestirn, die Sonne, in das Leben und Weben der Menschen immer gebracht
hat und immer bringen wird.

Frühzeitig sind sich denn auch die Menschen dieses Rhythmus bewußt
geworden und damit übergetreten ans der zeitlosen Periode in die Periode
der wahren Sonnenzeit. Aus dem ehrwürdigen Anfangskapitel der Genesis klingt
es zu uns herüber: So ward Abend und ward Morgen, der erste Tag —
und weiter: Gott machte zwei große Lichter, ein großes Licht, das den Tag
regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne, lind
das kleine Licht, der Mond, regierte nicht bloß die Nacht, sondern gab durch
den Wechsel seiner Sichelgestalt die erste Taggruppe, den Monat (der ja in
unsrer Sprache auch selber geradezu Mond genannt wird), und das Viertel
der Mondperivde: die siebentägige Woche. Später kam dazu die Einsicht in
den Wechsel der Jahreszeiten und die Einführung des Sonnenjahres. Auch
griechische Weise nennen darum Sonne, Mond und die Sterne die „Organe"
der Zeit.

Bei dieser wahren Sonnenzeit ist es geblieben Jahrtausende lang. Denn
ob die Juden ihren Tag mit Sonnenuntergang begannen, die Römer und wir
nur Mitternacht (die Astronomen und Seefahrer, wie ich hier einschalten null,
um Mittag), ob man die Nacht in Nachtwachen, Vigilien, oder sonstwie ein¬
teilte, immer waren doch Ans- und Untergang und der Gipfelstand der Sonne
maßgebend. Schattenlängen, Schattenrichtnngen an Sonnenuhren, zu denen


Grenzboten II 1889 41
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[0329] Nationalzcit, örtliche oder Weltzeit? Protestanten endlich, endlich annahmen, blieben doch der mannichfnltigsten Unsicherheiten noch immer genug übrig. Die Jahresanfange z. B. (am l. Januar, oder zu Weihnacht, oder zu Maria Verkündigung, oder zu Ostern) haben ge¬ schwankt bis ins vorige Jahrhundert hinein, ein wahres Kreuz für den Geschichtsforscher, Und vollends die Stundenteilnng ist erst in unserm Jahr¬ hundert in Ordnung gekommen. Unser Geschlecht lebt rasch, und kein Mensch würde es heute glauben, wenn es nicht der berühmte Physiker Arago berichtete, daß man noch bis 1816 in Paris, der Weltstadt, eine volle halbe Stunde hinter einander von den verschiednen Türmen der Stadt dieselbe Stunde konnte schlagen hören. In dein schön geordneten System unsers Kalender- und Uhrenwesens haben wir die reife Frucht eiues Jahrtausende langen Wachstums, eines mühe¬ vollen Ringens vieler bedeutenden Männer dankbar zu verehren. Wollen wir nun fragen, ob Änderungen an diesem System noch weiter zulässig oder wünschenswert seien, so müssen wir untersuchen, ob dieses System mehr oder weniger zufällig, oder ob es mit Notwendigkeit geworden und gewachsen ist. Im Anbeginn aller Kultur giebt es überhaupt kein Zeitmaß. Wenn im Urzustande der Böller der Jäger, der Hirt abends schlafen konnte und früh etwas zu essen fand, so war er zufrieden. Und doch prägt sich schon in diesem Wechsel von Schlafen und Wachen der ewige Rhythmus aus, den das Tagesgestirn, die Sonne, in das Leben und Weben der Menschen immer gebracht hat und immer bringen wird. Frühzeitig sind sich denn auch die Menschen dieses Rhythmus bewußt geworden und damit übergetreten ans der zeitlosen Periode in die Periode der wahren Sonnenzeit. Aus dem ehrwürdigen Anfangskapitel der Genesis klingt es zu uns herüber: So ward Abend und ward Morgen, der erste Tag — und weiter: Gott machte zwei große Lichter, ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne, lind das kleine Licht, der Mond, regierte nicht bloß die Nacht, sondern gab durch den Wechsel seiner Sichelgestalt die erste Taggruppe, den Monat (der ja in unsrer Sprache auch selber geradezu Mond genannt wird), und das Viertel der Mondperivde: die siebentägige Woche. Später kam dazu die Einsicht in den Wechsel der Jahreszeiten und die Einführung des Sonnenjahres. Auch griechische Weise nennen darum Sonne, Mond und die Sterne die „Organe" der Zeit. Bei dieser wahren Sonnenzeit ist es geblieben Jahrtausende lang. Denn ob die Juden ihren Tag mit Sonnenuntergang begannen, die Römer und wir nur Mitternacht (die Astronomen und Seefahrer, wie ich hier einschalten null, um Mittag), ob man die Nacht in Nachtwachen, Vigilien, oder sonstwie ein¬ teilte, immer waren doch Ans- und Untergang und der Gipfelstand der Sonne maßgebend. Schattenlängen, Schattenrichtnngen an Sonnenuhren, zu denen Grenzboten II 1889 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/329>, abgerufen am 05.02.2025.