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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Nationalzeit, örtliche oder tveltzeit?

so, denn fahren wir über den Bodensee heim, so genießen wir in Friedrichs¬
hafen die Stuttgarter Zeit, und beim Austritt aus Württemberg, ohne das;
eine Zollabfertigung oder sonst etwas den Reisenden aufmerksam machte, kommt
plötzlich wieder baierische Zeit u. s. w.

Daß diese Mißstnude auf die Datier nicht erträglich sind, wird von allen
gefühlt. Es haben denn auch nicht bloß Eisenbahn- und Telegraphen-Ver¬
waltungen in ihrem innern Dienste schon manche Erleichterungen eingeführt,
sondern es sind auch bereits durchgreifendere Maßregeln geplant worden.

Die Frage gehörte zu allererst vor das Forum der europäischen Grad¬
messung. Dieses von unserm General von Bacher gestiftete Niesenunternehmeu
der europäischen Völkerfamilie, mit dessen Großartigkeit sich die sieben Wunder¬
werke des Altertums nicht entfernt messen können, wenn auch von ihm nichts
weiter ins Auge fällt, als einige schlichte Steinpfeiler, in Leipzig die beiden
auf dem Rundgänge der Pleißenburg -- diese europäische Gradmessung
hatte schou 1870 für ihren Antwerpener Kongreß die Frage der Zeitmessung
und die eng damit verbundene nach dem Nullmeridian sür die geographischen
Längen aus ihrem Programm. Der französische Krieg vereitelte die gute Absicht.
Dann erwarb sich im Jahre 1883 der Senat der freien Stadt Hamburg
das Verdienst, die Frage für den Gradmessungskougreß in Rom im Herbst
1883 wieder anzuregen. Die dort versammelten Astronomen, Geodäten und
Nautiker machten die Sache im wesentlichen spruchreif, und nun waren die
Regierungen imstande, auf diplomatischem Wege vorzugehen. 1884 folgten
sie der Einladung der Vereinigten Staaten zur großen Meridiankonferenz von
Washington.

Amtlich vertreten waren die folgenden 2<i Staaten"): Brasilien, Chile,
Columbia, Costarieci, Dänemark, das Deutsche Reich, Frankreich, Guatemala,
Großbritannien, Hawai, Italien, Japan, Liberia, Mexiko, die Niederlande,
Österreich-Ungarn, Paraguai, Rußland, Salvador, San Domingo, Schweden,
die Schweiz, Spanien, die Türkei, Venezuela, die Vereinigten Staaten von
Nordamerika. Es wurden folgenschwere Beschlüsse in Washington gefaßt, und
zwar fast einstimmig. Und so steht denn den Bewohnern der Erde, vermutlich
mit der Wende des Jahrhunderts, eine tief einschneidende Neuregelung unsers
Ze i trechenwesens bevor.

Um aber dieser zukünftigen Ordnung gegenüber einen klaren und festen
Standpunkt zu gewinnen, ist es unerläßlich, daß wir zunächst einen Blick werfen
aus den gegenwärtigen Gesamtzustaud unsrer Zeitrechnung, ja auch auf ihre
geschichtliche Entwicklung und das Wesen alles Zeitmessers überhaupt. Wir
wollen die Zeitrechnung prüfen einerseits auf ihre Sicherheit und Einfachheit
anderseits ans ihre Einheitlichkeit oder auf deu Bereich ihrer Geltung.



") Th. v. Oppvlzer, Über Weltzeit. Ein Vortrag, 1835.
Nationalzeit, örtliche oder tveltzeit?

so, denn fahren wir über den Bodensee heim, so genießen wir in Friedrichs¬
hafen die Stuttgarter Zeit, und beim Austritt aus Württemberg, ohne das;
eine Zollabfertigung oder sonst etwas den Reisenden aufmerksam machte, kommt
plötzlich wieder baierische Zeit u. s. w.

Daß diese Mißstnude auf die Datier nicht erträglich sind, wird von allen
gefühlt. Es haben denn auch nicht bloß Eisenbahn- und Telegraphen-Ver¬
waltungen in ihrem innern Dienste schon manche Erleichterungen eingeführt,
sondern es sind auch bereits durchgreifendere Maßregeln geplant worden.

Die Frage gehörte zu allererst vor das Forum der europäischen Grad¬
messung. Dieses von unserm General von Bacher gestiftete Niesenunternehmeu
der europäischen Völkerfamilie, mit dessen Großartigkeit sich die sieben Wunder¬
werke des Altertums nicht entfernt messen können, wenn auch von ihm nichts
weiter ins Auge fällt, als einige schlichte Steinpfeiler, in Leipzig die beiden
auf dem Rundgänge der Pleißenburg — diese europäische Gradmessung
hatte schou 1870 für ihren Antwerpener Kongreß die Frage der Zeitmessung
und die eng damit verbundene nach dem Nullmeridian sür die geographischen
Längen aus ihrem Programm. Der französische Krieg vereitelte die gute Absicht.
Dann erwarb sich im Jahre 1883 der Senat der freien Stadt Hamburg
das Verdienst, die Frage für den Gradmessungskougreß in Rom im Herbst
1883 wieder anzuregen. Die dort versammelten Astronomen, Geodäten und
Nautiker machten die Sache im wesentlichen spruchreif, und nun waren die
Regierungen imstande, auf diplomatischem Wege vorzugehen. 1884 folgten
sie der Einladung der Vereinigten Staaten zur großen Meridiankonferenz von
Washington.

Amtlich vertreten waren die folgenden 2<i Staaten"): Brasilien, Chile,
Columbia, Costarieci, Dänemark, das Deutsche Reich, Frankreich, Guatemala,
Großbritannien, Hawai, Italien, Japan, Liberia, Mexiko, die Niederlande,
Österreich-Ungarn, Paraguai, Rußland, Salvador, San Domingo, Schweden,
die Schweiz, Spanien, die Türkei, Venezuela, die Vereinigten Staaten von
Nordamerika. Es wurden folgenschwere Beschlüsse in Washington gefaßt, und
zwar fast einstimmig. Und so steht denn den Bewohnern der Erde, vermutlich
mit der Wende des Jahrhunderts, eine tief einschneidende Neuregelung unsers
Ze i trechenwesens bevor.

Um aber dieser zukünftigen Ordnung gegenüber einen klaren und festen
Standpunkt zu gewinnen, ist es unerläßlich, daß wir zunächst einen Blick werfen
aus den gegenwärtigen Gesamtzustaud unsrer Zeitrechnung, ja auch auf ihre
geschichtliche Entwicklung und das Wesen alles Zeitmessers überhaupt. Wir
wollen die Zeitrechnung prüfen einerseits auf ihre Sicherheit und Einfachheit
anderseits ans ihre Einheitlichkeit oder auf deu Bereich ihrer Geltung.



») Th. v. Oppvlzer, Über Weltzeit. Ein Vortrag, 1835.
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[0327] Nationalzeit, örtliche oder tveltzeit? so, denn fahren wir über den Bodensee heim, so genießen wir in Friedrichs¬ hafen die Stuttgarter Zeit, und beim Austritt aus Württemberg, ohne das; eine Zollabfertigung oder sonst etwas den Reisenden aufmerksam machte, kommt plötzlich wieder baierische Zeit u. s. w. Daß diese Mißstnude auf die Datier nicht erträglich sind, wird von allen gefühlt. Es haben denn auch nicht bloß Eisenbahn- und Telegraphen-Ver¬ waltungen in ihrem innern Dienste schon manche Erleichterungen eingeführt, sondern es sind auch bereits durchgreifendere Maßregeln geplant worden. Die Frage gehörte zu allererst vor das Forum der europäischen Grad¬ messung. Dieses von unserm General von Bacher gestiftete Niesenunternehmeu der europäischen Völkerfamilie, mit dessen Großartigkeit sich die sieben Wunder¬ werke des Altertums nicht entfernt messen können, wenn auch von ihm nichts weiter ins Auge fällt, als einige schlichte Steinpfeiler, in Leipzig die beiden auf dem Rundgänge der Pleißenburg — diese europäische Gradmessung hatte schou 1870 für ihren Antwerpener Kongreß die Frage der Zeitmessung und die eng damit verbundene nach dem Nullmeridian sür die geographischen Längen aus ihrem Programm. Der französische Krieg vereitelte die gute Absicht. Dann erwarb sich im Jahre 1883 der Senat der freien Stadt Hamburg das Verdienst, die Frage für den Gradmessungskougreß in Rom im Herbst 1883 wieder anzuregen. Die dort versammelten Astronomen, Geodäten und Nautiker machten die Sache im wesentlichen spruchreif, und nun waren die Regierungen imstande, auf diplomatischem Wege vorzugehen. 1884 folgten sie der Einladung der Vereinigten Staaten zur großen Meridiankonferenz von Washington. Amtlich vertreten waren die folgenden 2<i Staaten"): Brasilien, Chile, Columbia, Costarieci, Dänemark, das Deutsche Reich, Frankreich, Guatemala, Großbritannien, Hawai, Italien, Japan, Liberia, Mexiko, die Niederlande, Österreich-Ungarn, Paraguai, Rußland, Salvador, San Domingo, Schweden, die Schweiz, Spanien, die Türkei, Venezuela, die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Es wurden folgenschwere Beschlüsse in Washington gefaßt, und zwar fast einstimmig. Und so steht denn den Bewohnern der Erde, vermutlich mit der Wende des Jahrhunderts, eine tief einschneidende Neuregelung unsers Ze i trechenwesens bevor. Um aber dieser zukünftigen Ordnung gegenüber einen klaren und festen Standpunkt zu gewinnen, ist es unerläßlich, daß wir zunächst einen Blick werfen aus den gegenwärtigen Gesamtzustaud unsrer Zeitrechnung, ja auch auf ihre geschichtliche Entwicklung und das Wesen alles Zeitmessers überhaupt. Wir wollen die Zeitrechnung prüfen einerseits auf ihre Sicherheit und Einfachheit anderseits ans ihre Einheitlichkeit oder auf deu Bereich ihrer Geltung. ») Th. v. Oppvlzer, Über Weltzeit. Ein Vortrag, 1835.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/327>, abgerufen am 05.02.2025.