Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Die Folgen der Novelle In der Novelle, die den Anlaß zu dieser Betrachtung gegeben hat, "Staub," Die Folgen der Novelle In der Novelle, die den Anlaß zu dieser Betrachtung gegeben hat, „Staub," <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0286" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205017"/> <fw type="header" place="top"> Die Folgen der Novelle</fw><lb/> <p xml:id="ID_735" next="#ID_736"> In der Novelle, die den Anlaß zu dieser Betrachtung gegeben hat, „Staub,"<lb/> von Björnson, die in einer der neuen Zeitschriften steht, „Neuer Kosmos," der<lb/> wohl kein langes Dasein beschieden sein wird — oder gerade; bei unserm un-<lb/> disziplittirten Publikum weiß man nie, wie man phrvphezeien soll, — in dieser<lb/> Novelle beschreibt zunächst Björnson nicht gerade sehr plastisch — aber das<lb/> mag zum Teil Schuld der Übersetzung sein — seiue Fahrt von der Stadt<lb/> aufs Land durch den Schnee zum Schallplatz der Novelle, die nun passiren<lb/> wird. Er ergeht sich des breitern über die Winterlandschaft und den Schnee,<lb/> aber es gelingt ihm nicht, mit dem üblichen Mittel, das er früher sehr<lb/> gut beherrschte, die „Stimmung" zu schaffen. Auch nicht mit der Phrase, die<lb/> dann zur Novelle selbst überleitet, „der Anblick der Natur wirkt ein auf unsre<lb/> Vorstellung von dem, was uns begegnet. Was mußte das Wohl Feines und<lb/> Weißes sein, was ich hier erleben sollte?" „Weiß gekleidet war „Sie" freilich<lb/> nicht, als ich sie zuletzt sah, die Lichtlvckige, die ich nun wiedersehen sollte."<lb/> Mit diesem eleganten Salto schwingt er sich in die Novelle. Sie trug sich<lb/> nämlich immer blau — es war vor nenn Jahren, daß er sie zum letztenmale<lb/> und, soviel ersichtlich ist, auch zum erstenmale gesehen hatte, ans ihrer Hoch¬<lb/> zeitsreise — nicht ein einzigesmal weiß, das würde sie gewiß auch nicht ge¬<lb/> kleidet haben, sagt die Übersetzerin. Gott, wie blau! möchte man auch bei<lb/> allem ausrufen, was sie thut lind sagt. Sie ist also nicht das „feine Weiße,"<lb/> uiid dies kommt auch später überhaupt nicht; es handelt sich, wie die Über¬<lb/> schrift sagt, um Staub, der freilich fortwährend mit dem Stimmnugsschnee<lb/> zusammengerührt wird, wobei schließlich nur ein trübseliges Gran herauskommt.<lb/> Zunächst ist „Sie" auch uicht zu sehen; niemand ist auf dem Gutshöfe, niemand<lb/> in dem Zimmer, in das er tritt, aber er hört singen, eine Frauen- und zwei<lb/> Kinderstimmen — ein Sterbelied. Er tritt in das Zimmer, aus dem der<lb/> besang tönt, und sieht sich einer Frau, die eine leibhaftige Madonna Carlo Doleis<lb/> zu sein scheint, und den beiden Kindern des Hauses gegenüber, von denen<lb/> der eine offenbar nach dein Bater „geschlagen" ist, der andre — „etwas vor¬<lb/> gebeugt, weil der Hals uicht ganz gerade von den Schultern aufstieg. Zufolge<lb/> dessen hält er den Kopf etwas zurückgebogen, um das Gleichgewicht zu halten,<lb/> und wiederum als Folge dessen war der Mund halboffen u. f. w." (wie unsre<lb/> Naturalisten außerordentlich fein zeichnen!) — das Ebenbild der Mutter. Die<lb/> Madonna ist aber nicht „Sie," sondern die Gesellschafterin, die ihn mit den<lb/> Knaben nach einigen Worten allein läßt. „Er," Herr Atluug, ist in der Fabrik und<lb/> wird in einer Stunde zurückkommen, Sie bei einem sterbenden Tagelöhner. Die<lb/> Kinder unterhalten ihn jetzt, wie es Kinder thun, erzählen unter anderm, daß ihr<lb/> kleiner Freund Hans in ein Loch im Eise des Teiches geraten und ertrunken sei,<lb/> und nun bei Gott und ein Engel sei und Flügel habe; daß nun auch dessen<lb/> Vater zu Gott wolle —es ist der sterbende Tagelöhnerund die Kinder be¬<lb/> dauern, daß sie nicht mit der Mutter haben zu ihm gehen und fehen dürfen, wie</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0286]
Die Folgen der Novelle
In der Novelle, die den Anlaß zu dieser Betrachtung gegeben hat, „Staub,"
von Björnson, die in einer der neuen Zeitschriften steht, „Neuer Kosmos," der
wohl kein langes Dasein beschieden sein wird — oder gerade; bei unserm un-
disziplittirten Publikum weiß man nie, wie man phrvphezeien soll, — in dieser
Novelle beschreibt zunächst Björnson nicht gerade sehr plastisch — aber das
mag zum Teil Schuld der Übersetzung sein — seiue Fahrt von der Stadt
aufs Land durch den Schnee zum Schallplatz der Novelle, die nun passiren
wird. Er ergeht sich des breitern über die Winterlandschaft und den Schnee,
aber es gelingt ihm nicht, mit dem üblichen Mittel, das er früher sehr
gut beherrschte, die „Stimmung" zu schaffen. Auch nicht mit der Phrase, die
dann zur Novelle selbst überleitet, „der Anblick der Natur wirkt ein auf unsre
Vorstellung von dem, was uns begegnet. Was mußte das Wohl Feines und
Weißes sein, was ich hier erleben sollte?" „Weiß gekleidet war „Sie" freilich
nicht, als ich sie zuletzt sah, die Lichtlvckige, die ich nun wiedersehen sollte."
Mit diesem eleganten Salto schwingt er sich in die Novelle. Sie trug sich
nämlich immer blau — es war vor nenn Jahren, daß er sie zum letztenmale
und, soviel ersichtlich ist, auch zum erstenmale gesehen hatte, ans ihrer Hoch¬
zeitsreise — nicht ein einzigesmal weiß, das würde sie gewiß auch nicht ge¬
kleidet haben, sagt die Übersetzerin. Gott, wie blau! möchte man auch bei
allem ausrufen, was sie thut lind sagt. Sie ist also nicht das „feine Weiße,"
uiid dies kommt auch später überhaupt nicht; es handelt sich, wie die Über¬
schrift sagt, um Staub, der freilich fortwährend mit dem Stimmnugsschnee
zusammengerührt wird, wobei schließlich nur ein trübseliges Gran herauskommt.
Zunächst ist „Sie" auch uicht zu sehen; niemand ist auf dem Gutshöfe, niemand
in dem Zimmer, in das er tritt, aber er hört singen, eine Frauen- und zwei
Kinderstimmen — ein Sterbelied. Er tritt in das Zimmer, aus dem der
besang tönt, und sieht sich einer Frau, die eine leibhaftige Madonna Carlo Doleis
zu sein scheint, und den beiden Kindern des Hauses gegenüber, von denen
der eine offenbar nach dein Bater „geschlagen" ist, der andre — „etwas vor¬
gebeugt, weil der Hals uicht ganz gerade von den Schultern aufstieg. Zufolge
dessen hält er den Kopf etwas zurückgebogen, um das Gleichgewicht zu halten,
und wiederum als Folge dessen war der Mund halboffen u. f. w." (wie unsre
Naturalisten außerordentlich fein zeichnen!) — das Ebenbild der Mutter. Die
Madonna ist aber nicht „Sie," sondern die Gesellschafterin, die ihn mit den
Knaben nach einigen Worten allein läßt. „Er," Herr Atluug, ist in der Fabrik und
wird in einer Stunde zurückkommen, Sie bei einem sterbenden Tagelöhner. Die
Kinder unterhalten ihn jetzt, wie es Kinder thun, erzählen unter anderm, daß ihr
kleiner Freund Hans in ein Loch im Eise des Teiches geraten und ertrunken sei,
und nun bei Gott und ein Engel sei und Flügel habe; daß nun auch dessen
Vater zu Gott wolle —es ist der sterbende Tagelöhnerund die Kinder be¬
dauern, daß sie nicht mit der Mutter haben zu ihm gehen und fehen dürfen, wie
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