Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Der Aufgabe, die Gegenwart zu behandeln, war aber der Sammler durchaus uicht Hierzu möchte ich mir einige Bemerkungen erlauben. Vorausgeschickt sei, Ohne wcitres gebe ich zu, daß die Anthologie uoch verbessert und uoch be¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches Der Aufgabe, die Gegenwart zu behandeln, war aber der Sammler durchaus uicht Hierzu möchte ich mir einige Bemerkungen erlauben. Vorausgeschickt sei, Ohne wcitres gebe ich zu, daß die Anthologie uoch verbessert und uoch be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0246" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204977"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_636" prev="#ID_635"> Der Aufgabe, die Gegenwart zu behandeln, war aber der Sammler durchaus uicht<lb/> gewachsen — hier zeugt vielmehr auch er davon, wie selten selbst feinere Geister<lb/> sich von der Mode freimachen können. Gottfried Keller, vielleicht der bedeutendste<lb/> deutsche Dichter, der jetzt lebt, ist mit drei, H, Liugg mit ebensovielen Gedichten,<lb/> Hamerliug ist mit einem und Greif gar mit keinem vertreten, Baumbach, der<lb/> »Butzenscheibenlyriker,« hingegen mit achtzehn Poemen, also mit so vielen, wie<lb/> Keller, Lingg, Hamerling, Fitger, Heyse, Schuck und Bodenstedt zusammen. Das<lb/> ist unverständlich, denu selber die Rücksicht aufs Backsischpublikum würde es uicht<lb/> erklären, wenn man diese selber auch als berechtigt anerkennen wollte. Trotzdem:<lb/> wer für den kritischen Standpunkt uicht reif ist, den Theodor Storm in seinem<lb/> vorzüglichen »Haushund aus deutscher Lyrik seit Claudius« geltend macht, wird im<lb/> vorliegenden Buch immer noch einen bessern Führer finden, als in hundert andern,<lb/> denn es ist kaum zu glauben, wie jämmerlich unsre Durchschuittsautholvgicu beschaffen<lb/> find. Zudem zeugt die Ausstattung mit Ausnahme des Titelbildes von einem guten<lb/> Geschmack, wie er leider bei solchen Bänden ungewöhnlich ist."</p><lb/> <p xml:id="ID_637"> Hierzu möchte ich mir einige Bemerkungen erlauben. Vorausgeschickt sei,<lb/> daß nicht der Herausgeber der Sammlung „Als der Großvater u. s. w." auch<lb/> dieses Buch gemacht hat, wie der Verfasser der Besprechung, wohl Herr Avenarius<lb/> selbst, anzunehmen scheint und wie vielfach angenommen worden ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_638" next="#ID_639"> Ohne wcitres gebe ich zu, daß die Anthologie uoch verbessert und uoch be¬<lb/> reichert werden kann, und das wird auch geschehen; wenn ich uicht irre, hat auch<lb/> Herr Avenarius seiue eigne Anthologie „Deutsche Lyrik der Gegenwart" in<lb/> spätern Auflagen zu verbessern gesucht oder zu verbessern die Absicht. Aber keines¬<lb/> wegs gebe ich zu, daß „Sang und Klang" der Gegenwart nicht gerecht werde;<lb/> ihr Zweck war sogar ganz besonders, im Gegensatz zu den jämmerlichen Durch-<lb/> schuittsauthvlogieu wieder einmal das Echte und Gute der ältern deutschen Lyrik,<lb/> d. h. der klassischen, heraus- und hervorzuheben, für das allerdings das Werturteil<lb/> abgeschlossen ist, das aber von den flachen Erzengnissen der Gegenwart völlig erstickt<lb/> zu werden droht. Das Alte ist wieder einmal gesammelt worden, und das Neue<lb/> ist nur so weit aufgenommen worden, als ihm uach Form und Inhalt Wert neben<lb/> dem klassische» Alten zugesprochen werde» kann, und als es in eine rein lyrische<lb/> Sammlung, deren Charakter im Titel ausgedrückt ist, sich einfügte. Wenn dieser<lb/> Titel „Sang und Klang" und „Ein Hnusschatz deutscher Dichtung" lautet, so ist<lb/> damit sowohl eine Begrenzung im Ton wie in der Form ausgesprochen. Freilich<lb/> wird man immer behaupten können: v<z NNLlidus sro. Ich null auch Herrn<lb/> Avenarius gar nicht die Berechtigung, seinen eignen Geschmack zu haben, bestreiten,<lb/> aber ich erlaube mir, ihm gegenüber seiner vorlauten Kritik zu sagen, daß mir<lb/> seine „Deutsche Lyrik der Gegenwart seit 1850" — obwohl sie auch in diesen<lb/> Blättern einmal von andrer Seite gelobt worden ist —, sehr wenig als ein Werk<lb/> reifer Kritik, sondern sogar fast als ein Wegweiser für nachfolgende Authologifleu<lb/> erschiene» ist, was mau zu vermeiden habe, die eignen Gedichte des Herrn<lb/> Avenarius mit eingeschlossen, wenn man Anspruch auf Geschmack macheu will.<lb/> Vor allem wegen der kuriosen Grenze, die Herr Avenarius sich gesteckt hat.<lb/> Er sammelt eben nur das, was seit 1850 gedichtet worden ist, und zwar nicht<lb/> etwa nur die Blüten und Perlen der Dichter, die seit 1350 zum erstenmale das<lb/> Glück der Druckerschwärze genossen haben, sondern auch die Nachlese solcher Dichter,<lb/> deren Anfänge und eigentliche Schaffenszeit weit vor 1350 liegen. Daß das einen<lb/> Salat von seltsamem Geschmack geben mußte, war offenbar nur Herrn Avenarius<lb/> nicht klar; über den Geschmack, den er bei seiner Auswahl selbst bekundet hat, will</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0246]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Aufgabe, die Gegenwart zu behandeln, war aber der Sammler durchaus uicht
gewachsen — hier zeugt vielmehr auch er davon, wie selten selbst feinere Geister
sich von der Mode freimachen können. Gottfried Keller, vielleicht der bedeutendste
deutsche Dichter, der jetzt lebt, ist mit drei, H, Liugg mit ebensovielen Gedichten,
Hamerliug ist mit einem und Greif gar mit keinem vertreten, Baumbach, der
»Butzenscheibenlyriker,« hingegen mit achtzehn Poemen, also mit so vielen, wie
Keller, Lingg, Hamerling, Fitger, Heyse, Schuck und Bodenstedt zusammen. Das
ist unverständlich, denu selber die Rücksicht aufs Backsischpublikum würde es uicht
erklären, wenn man diese selber auch als berechtigt anerkennen wollte. Trotzdem:
wer für den kritischen Standpunkt uicht reif ist, den Theodor Storm in seinem
vorzüglichen »Haushund aus deutscher Lyrik seit Claudius« geltend macht, wird im
vorliegenden Buch immer noch einen bessern Führer finden, als in hundert andern,
denn es ist kaum zu glauben, wie jämmerlich unsre Durchschuittsautholvgicu beschaffen
find. Zudem zeugt die Ausstattung mit Ausnahme des Titelbildes von einem guten
Geschmack, wie er leider bei solchen Bänden ungewöhnlich ist."
Hierzu möchte ich mir einige Bemerkungen erlauben. Vorausgeschickt sei,
daß nicht der Herausgeber der Sammlung „Als der Großvater u. s. w." auch
dieses Buch gemacht hat, wie der Verfasser der Besprechung, wohl Herr Avenarius
selbst, anzunehmen scheint und wie vielfach angenommen worden ist.
Ohne wcitres gebe ich zu, daß die Anthologie uoch verbessert und uoch be¬
reichert werden kann, und das wird auch geschehen; wenn ich uicht irre, hat auch
Herr Avenarius seiue eigne Anthologie „Deutsche Lyrik der Gegenwart" in
spätern Auflagen zu verbessern gesucht oder zu verbessern die Absicht. Aber keines¬
wegs gebe ich zu, daß „Sang und Klang" der Gegenwart nicht gerecht werde;
ihr Zweck war sogar ganz besonders, im Gegensatz zu den jämmerlichen Durch-
schuittsauthvlogieu wieder einmal das Echte und Gute der ältern deutschen Lyrik,
d. h. der klassischen, heraus- und hervorzuheben, für das allerdings das Werturteil
abgeschlossen ist, das aber von den flachen Erzengnissen der Gegenwart völlig erstickt
zu werden droht. Das Alte ist wieder einmal gesammelt worden, und das Neue
ist nur so weit aufgenommen worden, als ihm uach Form und Inhalt Wert neben
dem klassische» Alten zugesprochen werde» kann, und als es in eine rein lyrische
Sammlung, deren Charakter im Titel ausgedrückt ist, sich einfügte. Wenn dieser
Titel „Sang und Klang" und „Ein Hnusschatz deutscher Dichtung" lautet, so ist
damit sowohl eine Begrenzung im Ton wie in der Form ausgesprochen. Freilich
wird man immer behaupten können: v<z NNLlidus sro. Ich null auch Herrn
Avenarius gar nicht die Berechtigung, seinen eignen Geschmack zu haben, bestreiten,
aber ich erlaube mir, ihm gegenüber seiner vorlauten Kritik zu sagen, daß mir
seine „Deutsche Lyrik der Gegenwart seit 1850" — obwohl sie auch in diesen
Blättern einmal von andrer Seite gelobt worden ist —, sehr wenig als ein Werk
reifer Kritik, sondern sogar fast als ein Wegweiser für nachfolgende Authologifleu
erschiene» ist, was mau zu vermeiden habe, die eignen Gedichte des Herrn
Avenarius mit eingeschlossen, wenn man Anspruch auf Geschmack macheu will.
Vor allem wegen der kuriosen Grenze, die Herr Avenarius sich gesteckt hat.
Er sammelt eben nur das, was seit 1850 gedichtet worden ist, und zwar nicht
etwa nur die Blüten und Perlen der Dichter, die seit 1350 zum erstenmale das
Glück der Druckerschwärze genossen haben, sondern auch die Nachlese solcher Dichter,
deren Anfänge und eigentliche Schaffenszeit weit vor 1350 liegen. Daß das einen
Salat von seltsamem Geschmack geben mußte, war offenbar nur Herrn Avenarius
nicht klar; über den Geschmack, den er bei seiner Auswahl selbst bekundet hat, will
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |