Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.wiener Litteratur eine Spur von tragischen Mitleid erweckt er doch in uns. Der Unglückliche Neben diesen typischen Sittenbildern, zu denen auch die " Steinklopfer, ^ Grenzboten II 1889 29
wiener Litteratur eine Spur von tragischen Mitleid erweckt er doch in uns. Der Unglückliche Neben diesen typischen Sittenbildern, zu denen auch die „ Steinklopfer, ^ Grenzboten II 1889 29
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0233" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204964"/> <fw type="header" place="top"> wiener Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_607" prev="#ID_606"> eine Spur von tragischen Mitleid erweckt er doch in uns. Der Unglückliche<lb/> leidet um den: Schicksal, zu lange zu leben, von seinen eignen Kindern ver¬<lb/> leugnet zu werden, und nicht mit Unrecht erinnert er selbst an König Lear,<lb/> dessen Geschick dem seinigen gleiche. Aber Seligmann ist doch kein König Lear,<lb/> er hat nichts zu verteilen. In rastlosen geschäftlichen Spekulationen hat er<lb/> sein Vermögen öfter an der Börse verloren, und schließlich ist es auch seinein<lb/> reichen Sohne zu bunt geworden, die Kosten seiner Spielwut zu tragen. In<lb/> denselben schmutzigen Geldgeschäften, mit denen er begonnen hat, geht Selig¬<lb/> mann schließlich unter, nachdem jedes Band zwischen ihm und seinen Kindern<lb/> zerrissen wurden ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_608" next="#ID_609"> Neben diesen typischen Sittenbildern, zu denen auch die „ Steinklopfer, ^<lb/> ein Bild des Arbeiterelends, gehören, steht in Saars Novellen eine Reihe der<lb/> merkwürdigen Einzelfälle. Der „Jnnveens," jene Novelle, die den Dichter<lb/> zuerst berühmt gemacht hat, erzählt die Geschichte von einem edeln katholischen<lb/> Geistlichen, der von der Versuchung, ein Mädchen zu lieben, durch den An¬<lb/> blick der maßlosen Liebesleidenschnft eines andern geheilt wird. „Marianne"<lb/> erzählt die innige Geschichte von der unglücklichen Ehe eines ungleichen<lb/> Paares: sie kindlich naiv, er pedantisch und nüchtern. Als Marianne sich<lb/> dann in einen Dichter verliebt, der sie versteht, vernichtet sie ein plötzlicher Tod<lb/> mitten im Keimen der Sünde. Die tragische und unvernünftige Liebesleiden¬<lb/> schaft eines begabten weiblichen Wesens schildert die „Geigerin." Das schon<lb/> erwähnte „Haus Neichegg" erzählt die Geschichte einer Mutter, die ihrer<lb/> Tochter den Mann, den diese liebt, vorwegnimmt; die Tochter geht ins Kloster.<lb/> Höchst merkwürdig ist das feine Charakterbild des „halben Dichters" Faust<lb/> Bacher in „Tumbi." Faust Bacher, von Haus aus Schulmeister, hat plötzlich<lb/> einen großen Dramatiker in sich entdeckt. Mit seinem ersten verheißungsvoller<lb/> Wurfe hat sich aber auch seine ganze dichterische Kraft erschöpft. Vortrefflich<lb/> wird Bacher in dem litterarischen Salon Landes geschildert (es ist der Laubes,<lb/> Porträttreu, wenn auch nicht genannt). Über die Enttäuschung seiner Hoff¬<lb/> nungen, nach voreiliger Niederlegung seines Schulamtes, fortan als Dichter<lb/> leben zu können, wird Bacher ganz unglücklich. Er ist aber ein ehrlicher<lb/> Mensch, sich selbst hat er nie betrogen, er hat es mit der Kunst auch ehrlich<lb/> gemeint, es ist ihm nicht nur äußern Erfolg zu thun gewesen. Als er seiue<lb/> Täuschung erkennt, flieht er aus Wien, wohin er mit seinen unbeholfenen<lb/> Manieren und seiner Treuherzigkeit ohnehin nicht paßt. Saar schildert diesen<lb/> Charakter mit wahrer Meisterschaft und eindringender Seelenkunde von ver¬<lb/> schieden Seiten. Bacher ist ein willensschwacher Mensch; er hat sich niemals<lb/> clous abringen können, er hat sich immer gehen lassen, in träumerischer Un-<lb/> thntigkeit dahinleben müssen. Am liebsten ist er mechanisch thätig. Eine<lb/> Poetische Natur also, aber ein Schwächling, der nur unbewußt, willenlos sich<lb/> Ma Schaffell aufraffen kann. Nur ein wirklicher, wenn auch wohl etwas hypo-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1889 29</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0233]
wiener Litteratur
eine Spur von tragischen Mitleid erweckt er doch in uns. Der Unglückliche
leidet um den: Schicksal, zu lange zu leben, von seinen eignen Kindern ver¬
leugnet zu werden, und nicht mit Unrecht erinnert er selbst an König Lear,
dessen Geschick dem seinigen gleiche. Aber Seligmann ist doch kein König Lear,
er hat nichts zu verteilen. In rastlosen geschäftlichen Spekulationen hat er
sein Vermögen öfter an der Börse verloren, und schließlich ist es auch seinein
reichen Sohne zu bunt geworden, die Kosten seiner Spielwut zu tragen. In
denselben schmutzigen Geldgeschäften, mit denen er begonnen hat, geht Selig¬
mann schließlich unter, nachdem jedes Band zwischen ihm und seinen Kindern
zerrissen wurden ist.
Neben diesen typischen Sittenbildern, zu denen auch die „ Steinklopfer, ^
ein Bild des Arbeiterelends, gehören, steht in Saars Novellen eine Reihe der
merkwürdigen Einzelfälle. Der „Jnnveens," jene Novelle, die den Dichter
zuerst berühmt gemacht hat, erzählt die Geschichte von einem edeln katholischen
Geistlichen, der von der Versuchung, ein Mädchen zu lieben, durch den An¬
blick der maßlosen Liebesleidenschnft eines andern geheilt wird. „Marianne"
erzählt die innige Geschichte von der unglücklichen Ehe eines ungleichen
Paares: sie kindlich naiv, er pedantisch und nüchtern. Als Marianne sich
dann in einen Dichter verliebt, der sie versteht, vernichtet sie ein plötzlicher Tod
mitten im Keimen der Sünde. Die tragische und unvernünftige Liebesleiden¬
schaft eines begabten weiblichen Wesens schildert die „Geigerin." Das schon
erwähnte „Haus Neichegg" erzählt die Geschichte einer Mutter, die ihrer
Tochter den Mann, den diese liebt, vorwegnimmt; die Tochter geht ins Kloster.
Höchst merkwürdig ist das feine Charakterbild des „halben Dichters" Faust
Bacher in „Tumbi." Faust Bacher, von Haus aus Schulmeister, hat plötzlich
einen großen Dramatiker in sich entdeckt. Mit seinem ersten verheißungsvoller
Wurfe hat sich aber auch seine ganze dichterische Kraft erschöpft. Vortrefflich
wird Bacher in dem litterarischen Salon Landes geschildert (es ist der Laubes,
Porträttreu, wenn auch nicht genannt). Über die Enttäuschung seiner Hoff¬
nungen, nach voreiliger Niederlegung seines Schulamtes, fortan als Dichter
leben zu können, wird Bacher ganz unglücklich. Er ist aber ein ehrlicher
Mensch, sich selbst hat er nie betrogen, er hat es mit der Kunst auch ehrlich
gemeint, es ist ihm nicht nur äußern Erfolg zu thun gewesen. Als er seiue
Täuschung erkennt, flieht er aus Wien, wohin er mit seinen unbeholfenen
Manieren und seiner Treuherzigkeit ohnehin nicht paßt. Saar schildert diesen
Charakter mit wahrer Meisterschaft und eindringender Seelenkunde von ver¬
schieden Seiten. Bacher ist ein willensschwacher Mensch; er hat sich niemals
clous abringen können, er hat sich immer gehen lassen, in träumerischer Un-
thntigkeit dahinleben müssen. Am liebsten ist er mechanisch thätig. Eine
Poetische Natur also, aber ein Schwächling, der nur unbewußt, willenlos sich
Ma Schaffell aufraffen kann. Nur ein wirklicher, wenn auch wohl etwas hypo-
Grenzboten II 1889 29
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