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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Verwundet, fällt als tot hin, aber schließlich nimmt selbst die grimmige Marriot
Rücksicht auf ihr Publikum, sie läßt Sergei mit dieser Strafe davonkommen,
er erwacht zu neuem Leben mit der trostlosen Elsa.

Den Inhalt des Romans haben wir freilich damit noch lange nicht erschöpft,
aber das Mitgeteilte wird zu seiner Charakteristik genüge". Wie zersetzend
auch die Darstellungsweise der Marriot anmuten mag, in der reinen und
keuschen Zeichnung des tragischen Geschöpfes Ilona, des Opfers des Don Juans
Sergei, hat sie gezeigt, daß sie sich zu vornehmer, wahrhaft poetischer Erzählung
erheben kann, und man darf die Hoffnung nicht aufgeben, daß sie mit der
Ruhe der reiferen Jahre die Muse der Schönheit dem Pathos des Hasses
vorziehen wird. Ob sympathisch oder nicht: eine ehrliche Schriftstellerin ist
Emil Marriot. Sie hascht nicht nach Wirkungen, die sich nicht aus der
Sache ergeben, sie kokettirt nicht mit ihrer Kunst, es ist immer so, als schriebe
sie sich den Roman vom Leibe, vom Herzen, nur um sich selbst zu genügen.
Darum, bei allen Schwäche", seine unmittelbare Wirkung.

Spröde und herb ist die Muse Ferdinands von Saar. Sie erscheint
selten auf dem Plan, es sind ihr auch bisher nnr wenig Kränze geflochten
worden, nicht zum wenigsten wohl deshalb, weil sie die Wahrheit über alles
liebt. Sie mengt sich nicht nnter den großen Troß der ästhetisirenden Schön¬
geister oder der emsig in den Tag hinein schaffenden Schriftsteller. Thätige
Einsamkeit ist das Element, in dein sie sich wohl fühlt. Sie ist zu empfindsam,
um das Gewühl der Menschen und deren durch einander schwirrende Meinungen
zu vertragen, zu weich, um ohne große innere Ergriffenheit an den nuausge-
glichcueu Schäden der öffentlichen Zustände vorüberzugehen, zu schwach, um
auch nur litterarisch in die wirkliche Welt kämpfend einzugreifen, darin" be¬
gnügt sie sich, vo" Zeit zu Zeit ein halb satirisches, mehr aber noch elegisches
Sittenbild hiuauszuschicke". Nur in der Lyrik erhebt sich Saars Muse zu
leidenschaftlichem Pathos; aber feine Lyrik ist, wie die fast aller modernen
Dichter, wenig angehört worden. Als Novellist ist Saar bisher noch am
erfolgreichsten gewesen. Er beobachtet sehr gut. Er keunt die Welt, die man
vorzugsweise die "Gesellschaft" zu nennen Pflegt, er keimt insbesondre die
Wiener Gesellschaft, den hohen Adel, die jüdische Geldaristakratie, die Beamten-
und Offizierskreise, die litterarische Welt. Auch sein kürzlich erschienenes drittes
Bändchen der "Novellen aus Osterreich": Schicksale (Heidelberg, Georg Weiß,
1889) legt Zeugnis dafür ab. Es hat seinen guten Sinn, wenn Saar seinen
Novellen die nähere Bestimmung "aus Österreich" giebt. Es ist ganz eigent¬
lich österreichische Luft, die man in ihne" atmet. Sie führen uns meist nach
Wien, seltner ins mährische Flachland, einmal nach Prag, ein andermal an
die nordsteirische Grenze, niemals aber über Österreich hinaus. Oft genug
wird die österreichische Geschichte, die Snar seit vierzig Jahre" n"d länger
mit erlebt hat, berührt, Saar .erzählt nur Miterlebtes. Er ist ein strenger


Verwundet, fällt als tot hin, aber schließlich nimmt selbst die grimmige Marriot
Rücksicht auf ihr Publikum, sie läßt Sergei mit dieser Strafe davonkommen,
er erwacht zu neuem Leben mit der trostlosen Elsa.

Den Inhalt des Romans haben wir freilich damit noch lange nicht erschöpft,
aber das Mitgeteilte wird zu seiner Charakteristik genüge». Wie zersetzend
auch die Darstellungsweise der Marriot anmuten mag, in der reinen und
keuschen Zeichnung des tragischen Geschöpfes Ilona, des Opfers des Don Juans
Sergei, hat sie gezeigt, daß sie sich zu vornehmer, wahrhaft poetischer Erzählung
erheben kann, und man darf die Hoffnung nicht aufgeben, daß sie mit der
Ruhe der reiferen Jahre die Muse der Schönheit dem Pathos des Hasses
vorziehen wird. Ob sympathisch oder nicht: eine ehrliche Schriftstellerin ist
Emil Marriot. Sie hascht nicht nach Wirkungen, die sich nicht aus der
Sache ergeben, sie kokettirt nicht mit ihrer Kunst, es ist immer so, als schriebe
sie sich den Roman vom Leibe, vom Herzen, nur um sich selbst zu genügen.
Darum, bei allen Schwäche», seine unmittelbare Wirkung.

Spröde und herb ist die Muse Ferdinands von Saar. Sie erscheint
selten auf dem Plan, es sind ihr auch bisher nnr wenig Kränze geflochten
worden, nicht zum wenigsten wohl deshalb, weil sie die Wahrheit über alles
liebt. Sie mengt sich nicht nnter den großen Troß der ästhetisirenden Schön¬
geister oder der emsig in den Tag hinein schaffenden Schriftsteller. Thätige
Einsamkeit ist das Element, in dein sie sich wohl fühlt. Sie ist zu empfindsam,
um das Gewühl der Menschen und deren durch einander schwirrende Meinungen
zu vertragen, zu weich, um ohne große innere Ergriffenheit an den nuausge-
glichcueu Schäden der öffentlichen Zustände vorüberzugehen, zu schwach, um
auch nur litterarisch in die wirkliche Welt kämpfend einzugreifen, darin» be¬
gnügt sie sich, vo» Zeit zu Zeit ein halb satirisches, mehr aber noch elegisches
Sittenbild hiuauszuschicke». Nur in der Lyrik erhebt sich Saars Muse zu
leidenschaftlichem Pathos; aber feine Lyrik ist, wie die fast aller modernen
Dichter, wenig angehört worden. Als Novellist ist Saar bisher noch am
erfolgreichsten gewesen. Er beobachtet sehr gut. Er keunt die Welt, die man
vorzugsweise die „Gesellschaft" zu nennen Pflegt, er keimt insbesondre die
Wiener Gesellschaft, den hohen Adel, die jüdische Geldaristakratie, die Beamten-
und Offizierskreise, die litterarische Welt. Auch sein kürzlich erschienenes drittes
Bändchen der „Novellen aus Osterreich": Schicksale (Heidelberg, Georg Weiß,
1889) legt Zeugnis dafür ab. Es hat seinen guten Sinn, wenn Saar seinen
Novellen die nähere Bestimmung „aus Österreich" giebt. Es ist ganz eigent¬
lich österreichische Luft, die man in ihne» atmet. Sie führen uns meist nach
Wien, seltner ins mährische Flachland, einmal nach Prag, ein andermal an
die nordsteirische Grenze, niemals aber über Österreich hinaus. Oft genug
wird die österreichische Geschichte, die Snar seit vierzig Jahre» n»d länger
mit erlebt hat, berührt, Saar .erzählt nur Miterlebtes. Er ist ein strenger


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/190>, abgerufen am 05.02.2025.