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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Wiener Litteratur

Würde, daß die Menschen nur als Sklaven glücklich sein können, und wie
alle kleine und große Tyrannen dieses furchtbare Geständnis nutzen würden,
um sich für das Schrecken zu rächen, das ihnen das Erwachen der fran¬
zösischen Nation eingejagt hatte." Ganz im ähnlichen Sinne äußerte sich
uoch während der ersten Hälfte des Jahres 1792 eine Stimme im Neuen
Teutschen Merkur: "Würde die neue Konstitution in Frankreich vernichtet,
so würden manche Despoten der Erde kein Bedenken tragen, Europens
Völker soweit als es möglich ist, in die Unwissenheit und Barbarei hinein¬
zustürzen, worin der Despotismus viele ehemals so kultivirte Länder von
Asien, Afrika und Europa, und besonders das schöne Griechenland hinein¬
gestürzt hat."

Alle Schrecken einer Krisis nach Art der französischen, alle Gefahren, die
für andre Länder daraus erwuchsen, mußten gegen eine solche Gefahr in den
Hintergrund treten.




Wiener Litteratur.

arie voll Ebner-Eschenbach läßt in ihrem "Gemeindekind"
den Schulmeister zu Pavel in der Eile des Abschieds auf dem
Bahnhofe sagen: "Meine letzten Worte, lieber Mensch, merk sie
dir! präge sie dir in die Seele, ins Hirn. Gieb acht: wir
leben in einer vorzugsweise lehrreichen Zeit. Nie ist den Men¬
schen deutlicher gepredigt worden: seid selbstlos, wenn aus keinem edleren, so
doch aus Selbsterhaltungstrieb, aber ich sehe, das ist dir wieder zu hoch --
anders also! In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinein vollen Teller
sitzen und sichs schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, daß der Teller
des Nachbars leer war. Das geht jetzt nicht mehr, anßer bei den geistig völlig
blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbars den Appetit ver¬
derben -- dem Braven aus Rechtsgefühl, dem. Feigen aus Angst. Darum
sorge dafür, wenn du deinen Teller sullst, daß es in deiner Nachbarschaft so
wenig leere als möglich giebt." Diese Worte, die ganz zweifellos nicht bloß die
Gesinnung des Schulmeisters, sondern auch die der Dichterin selbst aussprechen,
find sehr merkwürdig, nicht etwa bloß deshalb, weil sie auch sozialistisch an¬
gehaucht sind und den Bestrebungen aus dein Gebiete sozialer Reformen bei¬
stimmen, sondern weil sie ein Lob unsrer Zeit enthalten. Ja, ein Lob, und


Wiener Litteratur

Würde, daß die Menschen nur als Sklaven glücklich sein können, und wie
alle kleine und große Tyrannen dieses furchtbare Geständnis nutzen würden,
um sich für das Schrecken zu rächen, das ihnen das Erwachen der fran¬
zösischen Nation eingejagt hatte." Ganz im ähnlichen Sinne äußerte sich
uoch während der ersten Hälfte des Jahres 1792 eine Stimme im Neuen
Teutschen Merkur: „Würde die neue Konstitution in Frankreich vernichtet,
so würden manche Despoten der Erde kein Bedenken tragen, Europens
Völker soweit als es möglich ist, in die Unwissenheit und Barbarei hinein¬
zustürzen, worin der Despotismus viele ehemals so kultivirte Länder von
Asien, Afrika und Europa, und besonders das schöne Griechenland hinein¬
gestürzt hat."

Alle Schrecken einer Krisis nach Art der französischen, alle Gefahren, die
für andre Länder daraus erwuchsen, mußten gegen eine solche Gefahr in den
Hintergrund treten.




Wiener Litteratur.

arie voll Ebner-Eschenbach läßt in ihrem „Gemeindekind"
den Schulmeister zu Pavel in der Eile des Abschieds auf dem
Bahnhofe sagen: „Meine letzten Worte, lieber Mensch, merk sie
dir! präge sie dir in die Seele, ins Hirn. Gieb acht: wir
leben in einer vorzugsweise lehrreichen Zeit. Nie ist den Men¬
schen deutlicher gepredigt worden: seid selbstlos, wenn aus keinem edleren, so
doch aus Selbsterhaltungstrieb, aber ich sehe, das ist dir wieder zu hoch —
anders also! In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinein vollen Teller
sitzen und sichs schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, daß der Teller
des Nachbars leer war. Das geht jetzt nicht mehr, anßer bei den geistig völlig
blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbars den Appetit ver¬
derben — dem Braven aus Rechtsgefühl, dem. Feigen aus Angst. Darum
sorge dafür, wenn du deinen Teller sullst, daß es in deiner Nachbarschaft so
wenig leere als möglich giebt." Diese Worte, die ganz zweifellos nicht bloß die
Gesinnung des Schulmeisters, sondern auch die der Dichterin selbst aussprechen,
find sehr merkwürdig, nicht etwa bloß deshalb, weil sie auch sozialistisch an¬
gehaucht sind und den Bestrebungen aus dein Gebiete sozialer Reformen bei¬
stimmen, sondern weil sie ein Lob unsrer Zeit enthalten. Ja, ein Lob, und


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[0180] Wiener Litteratur Würde, daß die Menschen nur als Sklaven glücklich sein können, und wie alle kleine und große Tyrannen dieses furchtbare Geständnis nutzen würden, um sich für das Schrecken zu rächen, das ihnen das Erwachen der fran¬ zösischen Nation eingejagt hatte." Ganz im ähnlichen Sinne äußerte sich uoch während der ersten Hälfte des Jahres 1792 eine Stimme im Neuen Teutschen Merkur: „Würde die neue Konstitution in Frankreich vernichtet, so würden manche Despoten der Erde kein Bedenken tragen, Europens Völker soweit als es möglich ist, in die Unwissenheit und Barbarei hinein¬ zustürzen, worin der Despotismus viele ehemals so kultivirte Länder von Asien, Afrika und Europa, und besonders das schöne Griechenland hinein¬ gestürzt hat." Alle Schrecken einer Krisis nach Art der französischen, alle Gefahren, die für andre Länder daraus erwuchsen, mußten gegen eine solche Gefahr in den Hintergrund treten. Wiener Litteratur. arie voll Ebner-Eschenbach läßt in ihrem „Gemeindekind" den Schulmeister zu Pavel in der Eile des Abschieds auf dem Bahnhofe sagen: „Meine letzten Worte, lieber Mensch, merk sie dir! präge sie dir in die Seele, ins Hirn. Gieb acht: wir leben in einer vorzugsweise lehrreichen Zeit. Nie ist den Men¬ schen deutlicher gepredigt worden: seid selbstlos, wenn aus keinem edleren, so doch aus Selbsterhaltungstrieb, aber ich sehe, das ist dir wieder zu hoch — anders also! In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinein vollen Teller sitzen und sichs schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, daß der Teller des Nachbars leer war. Das geht jetzt nicht mehr, anßer bei den geistig völlig blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbars den Appetit ver¬ derben — dem Braven aus Rechtsgefühl, dem. Feigen aus Angst. Darum sorge dafür, wenn du deinen Teller sullst, daß es in deiner Nachbarschaft so wenig leere als möglich giebt." Diese Worte, die ganz zweifellos nicht bloß die Gesinnung des Schulmeisters, sondern auch die der Dichterin selbst aussprechen, find sehr merkwürdig, nicht etwa bloß deshalb, weil sie auch sozialistisch an¬ gehaucht sind und den Bestrebungen aus dein Gebiete sozialer Reformen bei¬ stimmen, sondern weil sie ein Lob unsrer Zeit enthalten. Ja, ein Lob, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/180>, abgerufen am 05.02.2025.