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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Zur italienischen Krisis

der Aristokratie Toskanas zu sagen, sono boUe-Mse, sind aus dem Laden her¬
vorgegangen. Vom bürgerlichen Stndpunkte aus ist das ja ein hohes Lob,
aber es beweist zugleich, daß dieses Volk beider natürlichen Grundlagen unsers
Wehrsystems entbehrt; denn wie die Mannschaft aus dem Bauernstande, so
muß sich das Offizierkorps aus einem soldatischen Adel ergänzen. Also:
zuerst allermindestens ein kräftiger Bauernstand, dann das Volksheer. Je hart¬
näckiger man das letztere unter den jetzigen Verhältnissen zu erzwingen ver¬
sucht, desto mehr wird durch Steuerdruck jener Stand heruntergebracht, ans
dem es doch hervorgehen müßte. Was man als Sozialreform Crispis preist,
die Verstaatlichung der milden Stiftungen, das berührt im besten Falle die
Wurzel des sozialen Übels nicht. Der Häuserkrach in Rom, die Störung der
Handelsbeziehungen zu Frankreich, das Übermaß bureaukratischer Einrichtungen
(in allen Verwaltungszweigen zu viel bezahlte Beamte, zu viel Schreiberei) ver¬
schlimmern die Lage, sind aber doch nur Übel untergeordneter Art,

Das Naturell der Italiener ist im Vorstehenden nach der einen Seite
hin schal flüchtig gezeichnet worden; allein es kommt hier noch eine andre
Seite in Betracht.

Die Italiener, gewissermaßen die geistigen Nachkommen der Athener, sind
die gebornen Vertreter des Jndividualismus in Europa. Heinrich Leo hat in
seiner Geschichte der italienischen Staaten klar gemacht, wie sie das geworden
sind. Nirgends hat die Völkerwanderung so durchgreifend und nachhaltig
gewirkt wie in Italien. Mehr als einmal wurde alles Bestehende über den
Haufen geworfen, das ganze Volk vom Grunde aufgewühlt. Begann irgendwo
eine gesellschaftliche Ordnung sich zu befestigen, flugs wurden die Glieder
wieder auseinander gerissen. Germanen von mindestens zehn verschiednen
Stämmen, Slawen, Avaren, Ungarn, Normannen, Sarazenen, schichteten sich
über einander, durchsetzten die latinische Urbevölkerung und einander gegenseitig.
Alle diese Stämme zogen ein als verwilderte, an ein zügelloses Lagerleben
gewöhnte Horden, und die Mannen der deutschen Kaiser auf den Römerzügen,
die sie ablösten, die Landsknechte der Condottieri in den letzten Zeiten des
Mittelalters waren auch keine Lämmer. In diesem steten Kampfe aller gegen
alle galt es, jeden Nerv und jede Sehne anzuspannen, die individuelle Kraft
wurde aufs höchste gesteigert, doch, weil man sich gewöhnlich einer physischen
Übermacht gegenüber befand, die Geisteskraft mehr als die Körperkraft: Er¬
findungsgabe und List erwiesen sich als die wertvollsten Waffen. Nur dann
vermochte sich der einzelne zu behaupten, wenn er entweder der stärkere war,
oder als schwächerer die starken Nachbarn, die ihn einklemmten, gegen einander
hetzte. Lange vor Maechiavelli hatten die Italiener den Maechinvellismus zu
einer Kunst ausgebildet, die sie mit Virtuosität übten. Von den Päpsten sagt
Maechiavelli, da sie zu schwach gewesen seien, ganz Italien zu unterjochen,
so Hütten sie immer einen Ausländer nach dein andern hereingerufen, um


Zur italienischen Krisis

der Aristokratie Toskanas zu sagen, sono boUe-Mse, sind aus dem Laden her¬
vorgegangen. Vom bürgerlichen Stndpunkte aus ist das ja ein hohes Lob,
aber es beweist zugleich, daß dieses Volk beider natürlichen Grundlagen unsers
Wehrsystems entbehrt; denn wie die Mannschaft aus dem Bauernstande, so
muß sich das Offizierkorps aus einem soldatischen Adel ergänzen. Also:
zuerst allermindestens ein kräftiger Bauernstand, dann das Volksheer. Je hart¬
näckiger man das letztere unter den jetzigen Verhältnissen zu erzwingen ver¬
sucht, desto mehr wird durch Steuerdruck jener Stand heruntergebracht, ans
dem es doch hervorgehen müßte. Was man als Sozialreform Crispis preist,
die Verstaatlichung der milden Stiftungen, das berührt im besten Falle die
Wurzel des sozialen Übels nicht. Der Häuserkrach in Rom, die Störung der
Handelsbeziehungen zu Frankreich, das Übermaß bureaukratischer Einrichtungen
(in allen Verwaltungszweigen zu viel bezahlte Beamte, zu viel Schreiberei) ver¬
schlimmern die Lage, sind aber doch nur Übel untergeordneter Art,

Das Naturell der Italiener ist im Vorstehenden nach der einen Seite
hin schal flüchtig gezeichnet worden; allein es kommt hier noch eine andre
Seite in Betracht.

Die Italiener, gewissermaßen die geistigen Nachkommen der Athener, sind
die gebornen Vertreter des Jndividualismus in Europa. Heinrich Leo hat in
seiner Geschichte der italienischen Staaten klar gemacht, wie sie das geworden
sind. Nirgends hat die Völkerwanderung so durchgreifend und nachhaltig
gewirkt wie in Italien. Mehr als einmal wurde alles Bestehende über den
Haufen geworfen, das ganze Volk vom Grunde aufgewühlt. Begann irgendwo
eine gesellschaftliche Ordnung sich zu befestigen, flugs wurden die Glieder
wieder auseinander gerissen. Germanen von mindestens zehn verschiednen
Stämmen, Slawen, Avaren, Ungarn, Normannen, Sarazenen, schichteten sich
über einander, durchsetzten die latinische Urbevölkerung und einander gegenseitig.
Alle diese Stämme zogen ein als verwilderte, an ein zügelloses Lagerleben
gewöhnte Horden, und die Mannen der deutschen Kaiser auf den Römerzügen,
die sie ablösten, die Landsknechte der Condottieri in den letzten Zeiten des
Mittelalters waren auch keine Lämmer. In diesem steten Kampfe aller gegen
alle galt es, jeden Nerv und jede Sehne anzuspannen, die individuelle Kraft
wurde aufs höchste gesteigert, doch, weil man sich gewöhnlich einer physischen
Übermacht gegenüber befand, die Geisteskraft mehr als die Körperkraft: Er¬
findungsgabe und List erwiesen sich als die wertvollsten Waffen. Nur dann
vermochte sich der einzelne zu behaupten, wenn er entweder der stärkere war,
oder als schwächerer die starken Nachbarn, die ihn einklemmten, gegen einander
hetzte. Lange vor Maechiavelli hatten die Italiener den Maechinvellismus zu
einer Kunst ausgebildet, die sie mit Virtuosität übten. Von den Päpsten sagt
Maechiavelli, da sie zu schwach gewesen seien, ganz Italien zu unterjochen,
so Hütten sie immer einen Ausländer nach dein andern hereingerufen, um


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[0013] Zur italienischen Krisis der Aristokratie Toskanas zu sagen, sono boUe-Mse, sind aus dem Laden her¬ vorgegangen. Vom bürgerlichen Stndpunkte aus ist das ja ein hohes Lob, aber es beweist zugleich, daß dieses Volk beider natürlichen Grundlagen unsers Wehrsystems entbehrt; denn wie die Mannschaft aus dem Bauernstande, so muß sich das Offizierkorps aus einem soldatischen Adel ergänzen. Also: zuerst allermindestens ein kräftiger Bauernstand, dann das Volksheer. Je hart¬ näckiger man das letztere unter den jetzigen Verhältnissen zu erzwingen ver¬ sucht, desto mehr wird durch Steuerdruck jener Stand heruntergebracht, ans dem es doch hervorgehen müßte. Was man als Sozialreform Crispis preist, die Verstaatlichung der milden Stiftungen, das berührt im besten Falle die Wurzel des sozialen Übels nicht. Der Häuserkrach in Rom, die Störung der Handelsbeziehungen zu Frankreich, das Übermaß bureaukratischer Einrichtungen (in allen Verwaltungszweigen zu viel bezahlte Beamte, zu viel Schreiberei) ver¬ schlimmern die Lage, sind aber doch nur Übel untergeordneter Art, Das Naturell der Italiener ist im Vorstehenden nach der einen Seite hin schal flüchtig gezeichnet worden; allein es kommt hier noch eine andre Seite in Betracht. Die Italiener, gewissermaßen die geistigen Nachkommen der Athener, sind die gebornen Vertreter des Jndividualismus in Europa. Heinrich Leo hat in seiner Geschichte der italienischen Staaten klar gemacht, wie sie das geworden sind. Nirgends hat die Völkerwanderung so durchgreifend und nachhaltig gewirkt wie in Italien. Mehr als einmal wurde alles Bestehende über den Haufen geworfen, das ganze Volk vom Grunde aufgewühlt. Begann irgendwo eine gesellschaftliche Ordnung sich zu befestigen, flugs wurden die Glieder wieder auseinander gerissen. Germanen von mindestens zehn verschiednen Stämmen, Slawen, Avaren, Ungarn, Normannen, Sarazenen, schichteten sich über einander, durchsetzten die latinische Urbevölkerung und einander gegenseitig. Alle diese Stämme zogen ein als verwilderte, an ein zügelloses Lagerleben gewöhnte Horden, und die Mannen der deutschen Kaiser auf den Römerzügen, die sie ablösten, die Landsknechte der Condottieri in den letzten Zeiten des Mittelalters waren auch keine Lämmer. In diesem steten Kampfe aller gegen alle galt es, jeden Nerv und jede Sehne anzuspannen, die individuelle Kraft wurde aufs höchste gesteigert, doch, weil man sich gewöhnlich einer physischen Übermacht gegenüber befand, die Geisteskraft mehr als die Körperkraft: Er¬ findungsgabe und List erwiesen sich als die wertvollsten Waffen. Nur dann vermochte sich der einzelne zu behaupten, wenn er entweder der stärkere war, oder als schwächerer die starken Nachbarn, die ihn einklemmten, gegen einander hetzte. Lange vor Maechiavelli hatten die Italiener den Maechinvellismus zu einer Kunst ausgebildet, die sie mit Virtuosität übten. Von den Päpsten sagt Maechiavelli, da sie zu schwach gewesen seien, ganz Italien zu unterjochen, so Hütten sie immer einen Ausländer nach dein andern hereingerufen, um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/13>, abgerufen am 05.02.2025.