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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Meister" und der ^Wahlverwandtschaften" nicht Ansagte", ist natürlich. Ihm
war der Roman ein Kunstwerk, das philosophische Probleme dichterisch lösen
oder die Ausbildung und Erziehung eines Charakters durch das Leben bis
zur vollen Reife darstellen soll. Die äußern Ereignisse erscheinen da nur als
Beiwerk, als Mittel zum Zweck. Ganz anders faßt Mnnzoni seine Aufgabe
auf. Ihm war es vor allen Dingen daran zu thun, seinem Volke dessen
eigne Vergangenheit wieder lebendig zu machen. Der historische Roman in
Walter Seotts Sinn erschien ihm als die seiner eignen Persönlichkeit, in der
sich der Dichter mit dem Geschichtsforscher vereinte, kongenialste und zugleich
die geeignetste Form, um seinen Landsleuten das Stück Kulturgeschichte, das
er thuen vorzuführen gedachte, mitsamt den Lehren, die es nach seiner Ansicht
enthielt, schmackhaft zu macheu.

Wenn aber somit in Manzvnis Sinne das geschichtliche Element im
Vordergründe steht, so ist darum die Fabel nicht minder folgerichtig durch¬
dacht, nicht minder sorgfältig durchgeführt, und die nur der Phantasie des
Dichters entsprungenen Hauptfiguren des Romans mit nicht minderer Liebe
und Anfmerksamkeit behandelt als die geschichtlichen Personen. Sind die zahl¬
reichen Einzelgestnlteu, die in dem bunten Gewebe nach einander und mit
einander an unsern Augen vorüberziehen, vielleicht alle mehr oder weniger
typisch gedacht, so tragen sie doch recht individuelle Züge und sind in so
lebendigen Farben ausgeführt, daß wir sie leibhaftig vor uns sehen. Von
dem ländlichen Liebespaar, dessen dornen- und thränenreicher Vrantstnnd den
Mittelpunkt der Erzählung bildet, und von dem Landpfarrer und seiner Haus¬
hälterin, zwei köstlichen Menschenkindern, die niemand wieder vergessen wird,
der sie einmal kennen gelernt hat, bis zu dem geheimnisvollen Ungenannten
nud der ,,Signora" mit ihrer wilden, mühsam unterdrückten Leidenschaft, sind
es lauter Gestalten von Fleisch und Blut, mit echter Orts- und Zeitfarbe,
mit genauester .Kenntnis der Volkssitte wie der Standesbesvnderheiteu und
Vorurteile gemalt. Wir fühlen uns in ihren Zauberkreis gebannt, wir können
nicht umhin, den lebendigsten Anteil an ihrem Thun und Lassen wie an ihren
Schicksalen zu nehmen. Auch scheint uns der dem Werke öfters gemachte
Borwurf, daß es an der psychologischem Entwicklung der einzelnen Charaktere
fehle, wenigstens nicht durchgehend gerechtfertigt. Die Heldin Lucia selbst ist
ein Beweis des Gegenteils. Allerdings tritt in der Art und Weise der
Charakterentwickeluiig ein Mangel und eine Einseitigkeit zu Tage, die in der
religiösen Richtung und Weltauffassung des Dichters selbst begründet sind.
Manzoni war ein gläubiger, orthodoxer Katholik, ein treuer Anhänger der
römischen Kirche. So mußte ihm der Ungehorsam gegen die Vorschriften und
Organe der Kirche als das Böse, die unbedingte Unterwerfung unter ihre
Ordnungen als das Gute erscheinen. Die notwendige Folge ist der Mangel
an freier Selbstbestimmung in den handelnden Personen und eine gewisse Ein-


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Meister" und der ^Wahlverwandtschaften" nicht Ansagte», ist natürlich. Ihm
war der Roman ein Kunstwerk, das philosophische Probleme dichterisch lösen
oder die Ausbildung und Erziehung eines Charakters durch das Leben bis
zur vollen Reife darstellen soll. Die äußern Ereignisse erscheinen da nur als
Beiwerk, als Mittel zum Zweck. Ganz anders faßt Mnnzoni seine Aufgabe
auf. Ihm war es vor allen Dingen daran zu thun, seinem Volke dessen
eigne Vergangenheit wieder lebendig zu machen. Der historische Roman in
Walter Seotts Sinn erschien ihm als die seiner eignen Persönlichkeit, in der
sich der Dichter mit dem Geschichtsforscher vereinte, kongenialste und zugleich
die geeignetste Form, um seinen Landsleuten das Stück Kulturgeschichte, das
er thuen vorzuführen gedachte, mitsamt den Lehren, die es nach seiner Ansicht
enthielt, schmackhaft zu macheu.

Wenn aber somit in Manzvnis Sinne das geschichtliche Element im
Vordergründe steht, so ist darum die Fabel nicht minder folgerichtig durch¬
dacht, nicht minder sorgfältig durchgeführt, und die nur der Phantasie des
Dichters entsprungenen Hauptfiguren des Romans mit nicht minderer Liebe
und Anfmerksamkeit behandelt als die geschichtlichen Personen. Sind die zahl¬
reichen Einzelgestnlteu, die in dem bunten Gewebe nach einander und mit
einander an unsern Augen vorüberziehen, vielleicht alle mehr oder weniger
typisch gedacht, so tragen sie doch recht individuelle Züge und sind in so
lebendigen Farben ausgeführt, daß wir sie leibhaftig vor uns sehen. Von
dem ländlichen Liebespaar, dessen dornen- und thränenreicher Vrantstnnd den
Mittelpunkt der Erzählung bildet, und von dem Landpfarrer und seiner Haus¬
hälterin, zwei köstlichen Menschenkindern, die niemand wieder vergessen wird,
der sie einmal kennen gelernt hat, bis zu dem geheimnisvollen Ungenannten
nud der ,,Signora" mit ihrer wilden, mühsam unterdrückten Leidenschaft, sind
es lauter Gestalten von Fleisch und Blut, mit echter Orts- und Zeitfarbe,
mit genauester .Kenntnis der Volkssitte wie der Standesbesvnderheiteu und
Vorurteile gemalt. Wir fühlen uns in ihren Zauberkreis gebannt, wir können
nicht umhin, den lebendigsten Anteil an ihrem Thun und Lassen wie an ihren
Schicksalen zu nehmen. Auch scheint uns der dem Werke öfters gemachte
Borwurf, daß es an der psychologischem Entwicklung der einzelnen Charaktere
fehle, wenigstens nicht durchgehend gerechtfertigt. Die Heldin Lucia selbst ist
ein Beweis des Gegenteils. Allerdings tritt in der Art und Weise der
Charakterentwickeluiig ein Mangel und eine Einseitigkeit zu Tage, die in der
religiösen Richtung und Weltauffassung des Dichters selbst begründet sind.
Manzoni war ein gläubiger, orthodoxer Katholik, ein treuer Anhänger der
römischen Kirche. So mußte ihm der Ungehorsam gegen die Vorschriften und
Organe der Kirche als das Böse, die unbedingte Unterwerfung unter ihre
Ordnungen als das Gute erscheinen. Die notwendige Folge ist der Mangel
an freier Selbstbestimmung in den handelnden Personen und eine gewisse Ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/129>, abgerufen am 05.02.2025.