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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Manzoni und Goethe

in Bezug auf das geschichtliche Element der Tragödie, indem der letztere noch
immer daran festhält, daß seine Personen nicht nur, worauf es nach Goethe
allein ankommt, innere Wahrheit haben, sondern, so weit eS sich um geschicht¬
liche Persönlichkeiten handelt, auch bis ins einzelnste der geschichtliche"? Wahr¬
heit entsprechen sollen. Goethe verzichtet schließlich auf den Streit. "Hätte
Manzoni sich früher von diesem unveräußerlichen Rechte des Dichters, die
Mythologie nach Belieben umzubilden, die Geschichte in Mythologie zu ver¬
wandeln, überzeugt gehabt, so hätte er sich die große Mühe nicht gegeben,
wodurch er seiner Dichtung unwidersprechliche historische Denkmale bis ins einzelne
unterzulegen getrachtet hat. Da er aber dies zu thun durch seinen eignen
Geist und heilt bestimmtes Naturell geführt und genötigt worden, so entspringt
daraus eine Dichtart, in der er wohl einzig genannt werden kaun; es entstehen
Werke, die ihm niemand nachmachen wird." Diese genaue historische Nergegen-
würtigung, heißt es weiter, komme dem Dichter besonders in den lyrische"
Stellen, "seinem eigentlichen Erbteil" zu gute, denn die höchste Lyrik (mit
einer Hinweisung auf Pindar) sei entschieden historisch. Goethe scheint mit
diesen Worten die beiden Chöre, die im "Adelchi" den Gang der Handlung
unterbrechen und von denen er den zweiten, der den Tod Ermingardas zum
Gegenstande hat, genau analysirt, rechtfertigen zu Wollen. Wenn er auch
ausdrücklich betont, daß "das Geschäft der dramatischen Poesie von dem der
epischen und lyrischen völlig verschieden" sei, so deutet doch eine Stelle in
seiner Abhandlung über die Nntnrformen der Dichtkunst") um, daß er epische
und lyrische Stellen auch im Drama für statthaft halt. Jedenfalls wünschte
er dem. Leser Glück zum Genusse dieser Chöre wie der ganzen Dichtung; "denn
hier tritt der seltene Fall ein, wo sittliche und ästhetische Bildung in gleiche",
Maße gefördert wird."

In seine"? Bericht über den "Grasen von Carmagnola" erwähnt Goethe, daß
er den Versuch gemacht habe, einiges aus diesem Stück als Probe für den deutschen
Leser zu übersetzen, aber unzufrieden mit dem Ergebnis, ihn aufgegeben habe.
Aus dein "Adelchi" hat er dagegen die Übertragung eines kurzen Abschnittes
veröffentlicht, den Monolog Svartos, worin dieser tapfere und ehrgeizige
Plebejer seiner Unzufriedenheit mit seinen? Lose und seinem Verhältnisse zu
den laugobardischeu Edeln, die sein Haus zu einer Verschwörung gegen ihre
Fürsten auserwühlt haben, Luft macht.*") Die Handschrift jenes gescheiterte??
Versuches einer Übersetzung aus den? "Grafen von Carmagnola" hat sich in seineu
Papieren gesunde?,, und Loeper teilt uns eine Probe davon mit.""") Wir





") Zum bessern Verständnis des Westöstlicheu Divans, Werke, Hempelsche Ausgabe IV,292.
"*) Goethes Werke III, 387 f,; aus der oben erwähnten Vorrede zu der Manzoni-
Ausgabe von 1827.
Ebenda, S. 388.
Manzoni und Goethe

in Bezug auf das geschichtliche Element der Tragödie, indem der letztere noch
immer daran festhält, daß seine Personen nicht nur, worauf es nach Goethe
allein ankommt, innere Wahrheit haben, sondern, so weit eS sich um geschicht¬
liche Persönlichkeiten handelt, auch bis ins einzelnste der geschichtliche«? Wahr¬
heit entsprechen sollen. Goethe verzichtet schließlich auf den Streit. „Hätte
Manzoni sich früher von diesem unveräußerlichen Rechte des Dichters, die
Mythologie nach Belieben umzubilden, die Geschichte in Mythologie zu ver¬
wandeln, überzeugt gehabt, so hätte er sich die große Mühe nicht gegeben,
wodurch er seiner Dichtung unwidersprechliche historische Denkmale bis ins einzelne
unterzulegen getrachtet hat. Da er aber dies zu thun durch seinen eignen
Geist und heilt bestimmtes Naturell geführt und genötigt worden, so entspringt
daraus eine Dichtart, in der er wohl einzig genannt werden kaun; es entstehen
Werke, die ihm niemand nachmachen wird." Diese genaue historische Nergegen-
würtigung, heißt es weiter, komme dem Dichter besonders in den lyrische»
Stellen, „seinem eigentlichen Erbteil" zu gute, denn die höchste Lyrik (mit
einer Hinweisung auf Pindar) sei entschieden historisch. Goethe scheint mit
diesen Worten die beiden Chöre, die im „Adelchi" den Gang der Handlung
unterbrechen und von denen er den zweiten, der den Tod Ermingardas zum
Gegenstande hat, genau analysirt, rechtfertigen zu Wollen. Wenn er auch
ausdrücklich betont, daß „das Geschäft der dramatischen Poesie von dem der
epischen und lyrischen völlig verschieden" sei, so deutet doch eine Stelle in
seiner Abhandlung über die Nntnrformen der Dichtkunst") um, daß er epische
und lyrische Stellen auch im Drama für statthaft halt. Jedenfalls wünschte
er dem. Leser Glück zum Genusse dieser Chöre wie der ganzen Dichtung; „denn
hier tritt der seltene Fall ein, wo sittliche und ästhetische Bildung in gleiche»,
Maße gefördert wird."

In seine»? Bericht über den „Grasen von Carmagnola" erwähnt Goethe, daß
er den Versuch gemacht habe, einiges aus diesem Stück als Probe für den deutschen
Leser zu übersetzen, aber unzufrieden mit dem Ergebnis, ihn aufgegeben habe.
Aus dein „Adelchi" hat er dagegen die Übertragung eines kurzen Abschnittes
veröffentlicht, den Monolog Svartos, worin dieser tapfere und ehrgeizige
Plebejer seiner Unzufriedenheit mit seinen? Lose und seinem Verhältnisse zu
den laugobardischeu Edeln, die sein Haus zu einer Verschwörung gegen ihre
Fürsten auserwühlt haben, Luft macht.*") Die Handschrift jenes gescheiterte??
Versuches einer Übersetzung aus den? „Grafen von Carmagnola" hat sich in seineu
Papieren gesunde?,, und Loeper teilt uns eine Probe davon mit.""") Wir





») Zum bessern Verständnis des Westöstlicheu Divans, Werke, Hempelsche Ausgabe IV,292.
"*) Goethes Werke III, 387 f,; aus der oben erwähnten Vorrede zu der Manzoni-
Ausgabe von 1827.
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[0126] Manzoni und Goethe in Bezug auf das geschichtliche Element der Tragödie, indem der letztere noch immer daran festhält, daß seine Personen nicht nur, worauf es nach Goethe allein ankommt, innere Wahrheit haben, sondern, so weit eS sich um geschicht¬ liche Persönlichkeiten handelt, auch bis ins einzelnste der geschichtliche«? Wahr¬ heit entsprechen sollen. Goethe verzichtet schließlich auf den Streit. „Hätte Manzoni sich früher von diesem unveräußerlichen Rechte des Dichters, die Mythologie nach Belieben umzubilden, die Geschichte in Mythologie zu ver¬ wandeln, überzeugt gehabt, so hätte er sich die große Mühe nicht gegeben, wodurch er seiner Dichtung unwidersprechliche historische Denkmale bis ins einzelne unterzulegen getrachtet hat. Da er aber dies zu thun durch seinen eignen Geist und heilt bestimmtes Naturell geführt und genötigt worden, so entspringt daraus eine Dichtart, in der er wohl einzig genannt werden kaun; es entstehen Werke, die ihm niemand nachmachen wird." Diese genaue historische Nergegen- würtigung, heißt es weiter, komme dem Dichter besonders in den lyrische» Stellen, „seinem eigentlichen Erbteil" zu gute, denn die höchste Lyrik (mit einer Hinweisung auf Pindar) sei entschieden historisch. Goethe scheint mit diesen Worten die beiden Chöre, die im „Adelchi" den Gang der Handlung unterbrechen und von denen er den zweiten, der den Tod Ermingardas zum Gegenstande hat, genau analysirt, rechtfertigen zu Wollen. Wenn er auch ausdrücklich betont, daß „das Geschäft der dramatischen Poesie von dem der epischen und lyrischen völlig verschieden" sei, so deutet doch eine Stelle in seiner Abhandlung über die Nntnrformen der Dichtkunst") um, daß er epische und lyrische Stellen auch im Drama für statthaft halt. Jedenfalls wünschte er dem. Leser Glück zum Genusse dieser Chöre wie der ganzen Dichtung; „denn hier tritt der seltene Fall ein, wo sittliche und ästhetische Bildung in gleiche», Maße gefördert wird." In seine»? Bericht über den „Grasen von Carmagnola" erwähnt Goethe, daß er den Versuch gemacht habe, einiges aus diesem Stück als Probe für den deutschen Leser zu übersetzen, aber unzufrieden mit dem Ergebnis, ihn aufgegeben habe. Aus dein „Adelchi" hat er dagegen die Übertragung eines kurzen Abschnittes veröffentlicht, den Monolog Svartos, worin dieser tapfere und ehrgeizige Plebejer seiner Unzufriedenheit mit seinen? Lose und seinem Verhältnisse zu den laugobardischeu Edeln, die sein Haus zu einer Verschwörung gegen ihre Fürsten auserwühlt haben, Luft macht.*") Die Handschrift jenes gescheiterte?? Versuches einer Übersetzung aus den? „Grafen von Carmagnola" hat sich in seineu Papieren gesunde?,, und Loeper teilt uns eine Probe davon mit.""") Wir ») Zum bessern Verständnis des Westöstlicheu Divans, Werke, Hempelsche Ausgabe IV,292. "*) Goethes Werke III, 387 f,; aus der oben erwähnten Vorrede zu der Manzoni- Ausgabe von 1827. Ebenda, S. 388.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/126>, abgerufen am 05.02.2025.