Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.Litteratur nach beiden Seiten hin beurteilt werden will. Nach einem solchen Buche greift in Litteratur nach beiden Seiten hin beurteilt werden will. Nach einem solchen Buche greift in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204151"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_226" prev="#ID_225"> nach beiden Seiten hin beurteilt werden will. Nach einem solchen Buche greift in<lb/> Deutschland, dem Lande der gelehrten Bildung, jedermann, meist um so zu ur¬<lb/> teilen, wie da geurteilt ist, und das zu kennen, was ihm da vorgestellt wird. Für<lb/> das heranwachsende Geschlecht pflegt ein solches Buch von unermeßlicher Bedeutung<lb/> zu sein, namentlich gegenwärtig, wo die Kreise der Volksbildung sich immer mehr<lb/> ins Unbegrenzte ausdehnen und sich der Bestimmung durch eine führende litterarische<lb/> Gesellschaft, wie es noch nach dem klassischen Zeitalter einige Zeit möglich war,<lb/> völlig entziehen. Der gute oder schlechte Same eines solchen Buches trägt daher<lb/> nach beiden Seiten tausendfältige Frucht: es kann die litterarische Bildung, ja<lb/> Anlage — man halte das für keine Uebertreibung! — eines ganzen Geschlechts<lb/> geradezu verseuchen, wie wir das an mehreren „gangbaren" Produkten des litterar-<lb/> historischen Büchermarkts, besonders an ihrem Musterbilde, dem hoffentlich auch<lb/> litterarisch begrabenen Scherr, mit Schrecken bemerken können; oder es kann es<lb/> fördern, heben, Unberufene abschrecken, Berufene auf den rechten Weg lenken, wie<lb/> wir es im Gegensatze zu jenen Büchern von dem vorliegenden erwarten. Gemein¬<lb/> plätze der Halbbildung, Parteischlagworte, lächerliche und billige Paradoxien, Zoten<lb/> und faber Ulk, der die seichtesten Köpfe zum Mitsprechen anregt, ernstern Naturen<lb/> die Litteratur als eine Beschäftigung von und für Narren erscheinen läßt, bilden<lb/> hier nicht die Würze für einen sonst inhaltleeren, wissensarmen und gedankenlosen<lb/> Kvuversationslexikonsauszug. Der Verfasser ist ein ebenso allseitig unterrichteter<lb/> wie feinsinniger Gelehrter, der in Darstellung und Auswahl durch schöpferisches<lb/> Talent aufs glücklichste unterstützt wird. selbständig steht er seinem Stoffe gegen¬<lb/> über, kurze, treffende Auszüge aus den Ergebnissen der Einzelforscher auf allen<lb/> Gebieten zeigen sein Werk auf der Höhe der Wissenschaft. Was gleichwohl sein<lb/> hervorstechender Charakter ist und uns am wohlthuendsten an ihm berührt, ist sein<lb/> künstlerisches Gepräge. Die Dichtung, der Grundstock der Litteraturen, erscheint<lb/> hier wieder einmal als das, wofür man sie nachgerade anzusehen verlernt hat, als<lb/> Kunst. Im ganzen erinnert es uns daher in seinem Fache an eine Erscheinung<lb/> der Geschichtschreibung auf einem andern künstlerischen Gebiete, an Lübkes Kunst¬<lb/> geschichte, deren Erfolg wir ihm daher wohl zusprechen dürfen und aufrichtig<lb/> wünschen. Die Ausnutzung des gegebenen Umfangs ist namentlich in der neuern<lb/> Litteratur musterhaft. Ju Litteratur- und Kunstgeschichte sind die dutzendbändigen<lb/> Werke in Deutschland wenigstens nicht eingeführt. Franzosen und Italiener lieben<lb/> sie gerade auf diesen Gebieten, nehmen aber viel Tiraden und Geschwätz mit in<lb/> den Kauf. Stern befleißigt sich trotz der notwendigen Kürze anregender Darstellung.<lb/> Trockne Aufzählung wird nur in besondern Fällen — des Nachschlagcns halber —<lb/> für nötig gehalten. Auswahl und Urteil zeigen gleichermaßen die objektive, künst¬<lb/> lerisch aufnehmende Natur des Verfassers. Mitunter wäre der Kritiker und der<lb/> richtende und gruppireude Historiker anders zu Werke gegangen. Das Urteil derer,<lb/> die z. B. in der allerneuesten Litteratur etwa noch mehr „Objektivität", d. h.<lb/> hier in ihrem Sinne Urteilslosigkeit fordern mögen, braucht Stern wahrlich nicht zu<lb/> fürchten. Sie Pflegen sich bekanntlich aus den Reihen der in diesem Falle nicht Ob¬<lb/> jektiven, der Schriftsteller der Kürschnerschen und Hinrichsenschen „Weltlitteratur" zu¬<lb/> sammenzusetzen. Sonntagsfeuilletonisten mag es z. B. ärgern, daß der Einfluß Heines<lb/> kein segensreicher genannt wird und unter den von Platen und Immermann gesetzt<lb/> wird, obwohl jener bös-mes as cliMe- der deutschen Dichtung sonst vollste Gerechtig¬<lb/> keit und Anerkennung wird. Wenn Heine keine andre Nachfolge gehabt hätte als<lb/> die „Feuilletonistik", so wäre sein Einfluß schon gerichtet. Aber er erstreckt sich<lb/> noch auf bedenklichere Seiten der zu überwindenden Litteraturperiode.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0062]
Litteratur
nach beiden Seiten hin beurteilt werden will. Nach einem solchen Buche greift in
Deutschland, dem Lande der gelehrten Bildung, jedermann, meist um so zu ur¬
teilen, wie da geurteilt ist, und das zu kennen, was ihm da vorgestellt wird. Für
das heranwachsende Geschlecht pflegt ein solches Buch von unermeßlicher Bedeutung
zu sein, namentlich gegenwärtig, wo die Kreise der Volksbildung sich immer mehr
ins Unbegrenzte ausdehnen und sich der Bestimmung durch eine führende litterarische
Gesellschaft, wie es noch nach dem klassischen Zeitalter einige Zeit möglich war,
völlig entziehen. Der gute oder schlechte Same eines solchen Buches trägt daher
nach beiden Seiten tausendfältige Frucht: es kann die litterarische Bildung, ja
Anlage — man halte das für keine Uebertreibung! — eines ganzen Geschlechts
geradezu verseuchen, wie wir das an mehreren „gangbaren" Produkten des litterar-
historischen Büchermarkts, besonders an ihrem Musterbilde, dem hoffentlich auch
litterarisch begrabenen Scherr, mit Schrecken bemerken können; oder es kann es
fördern, heben, Unberufene abschrecken, Berufene auf den rechten Weg lenken, wie
wir es im Gegensatze zu jenen Büchern von dem vorliegenden erwarten. Gemein¬
plätze der Halbbildung, Parteischlagworte, lächerliche und billige Paradoxien, Zoten
und faber Ulk, der die seichtesten Köpfe zum Mitsprechen anregt, ernstern Naturen
die Litteratur als eine Beschäftigung von und für Narren erscheinen läßt, bilden
hier nicht die Würze für einen sonst inhaltleeren, wissensarmen und gedankenlosen
Kvuversationslexikonsauszug. Der Verfasser ist ein ebenso allseitig unterrichteter
wie feinsinniger Gelehrter, der in Darstellung und Auswahl durch schöpferisches
Talent aufs glücklichste unterstützt wird. selbständig steht er seinem Stoffe gegen¬
über, kurze, treffende Auszüge aus den Ergebnissen der Einzelforscher auf allen
Gebieten zeigen sein Werk auf der Höhe der Wissenschaft. Was gleichwohl sein
hervorstechender Charakter ist und uns am wohlthuendsten an ihm berührt, ist sein
künstlerisches Gepräge. Die Dichtung, der Grundstock der Litteraturen, erscheint
hier wieder einmal als das, wofür man sie nachgerade anzusehen verlernt hat, als
Kunst. Im ganzen erinnert es uns daher in seinem Fache an eine Erscheinung
der Geschichtschreibung auf einem andern künstlerischen Gebiete, an Lübkes Kunst¬
geschichte, deren Erfolg wir ihm daher wohl zusprechen dürfen und aufrichtig
wünschen. Die Ausnutzung des gegebenen Umfangs ist namentlich in der neuern
Litteratur musterhaft. Ju Litteratur- und Kunstgeschichte sind die dutzendbändigen
Werke in Deutschland wenigstens nicht eingeführt. Franzosen und Italiener lieben
sie gerade auf diesen Gebieten, nehmen aber viel Tiraden und Geschwätz mit in
den Kauf. Stern befleißigt sich trotz der notwendigen Kürze anregender Darstellung.
Trockne Aufzählung wird nur in besondern Fällen — des Nachschlagcns halber —
für nötig gehalten. Auswahl und Urteil zeigen gleichermaßen die objektive, künst¬
lerisch aufnehmende Natur des Verfassers. Mitunter wäre der Kritiker und der
richtende und gruppireude Historiker anders zu Werke gegangen. Das Urteil derer,
die z. B. in der allerneuesten Litteratur etwa noch mehr „Objektivität", d. h.
hier in ihrem Sinne Urteilslosigkeit fordern mögen, braucht Stern wahrlich nicht zu
fürchten. Sie Pflegen sich bekanntlich aus den Reihen der in diesem Falle nicht Ob¬
jektiven, der Schriftsteller der Kürschnerschen und Hinrichsenschen „Weltlitteratur" zu¬
sammenzusetzen. Sonntagsfeuilletonisten mag es z. B. ärgern, daß der Einfluß Heines
kein segensreicher genannt wird und unter den von Platen und Immermann gesetzt
wird, obwohl jener bös-mes as cliMe- der deutschen Dichtung sonst vollste Gerechtig¬
keit und Anerkennung wird. Wenn Heine keine andre Nachfolge gehabt hätte als
die „Feuilletonistik", so wäre sein Einfluß schon gerichtet. Aber er erstreckt sich
noch auf bedenklichere Seiten der zu überwindenden Litteraturperiode.
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