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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Zur Strafrechtspflege

in sehr verschiedner Weise gehegten Gedanken über Befriedigung des allerdings
ziemlich allgemein gefühlten Bedürfnisses einer durchgreifenden Reform auf
dem gedachten Gebiete gerade sie sich zu eigen gemacht hätte. Eingehendere
Mitteilungen in dieser Beziehung in einer Zeitschrift wie die Grenzboten würden
deshalb erwünscht sein. Der erwähnte Artikel enthält deren keine, hat auch
wohl nur den Zweck, vorläufig einmal auf das Bestehen und die ungefähren
Ziele der Vereinigung aufmerksam zu machen. Mau erfährt daraus wenigstens
in der Hauptsache weiter nichts, als daß die Strafrechtspflege der Zukunft
Hand in Hand mit der Statistik und der Psychologie gehen müsse, und daß
die Strafgesetzgebung die "Gesellschaftswissenschaft" fernerhin nicht mehr
"vornehm übersehen" dürfe; man sucht aber vergebens nach greifbaren Vor¬
schlägen, wie die Sache nach dieser Richtung nun eigentlich zu machen sei.
Die wenigen Worte, die gegen den Schluß hin noch über Freiheits- und
Prügelstrafe sowie über die Art der jetzigen Strafvollstreckung überhaupt
zu lesen find, dürften doch als für das Ganze ziemlich unbedeutend erscheinen.

Doch darüber mit dem Herrn Verfasser rechten zu wollen, kommt uns
nicht in den Sinn. Etwas ganz andres ist es, was uns die Feder in die
Hand zwingt. Gewissermaßen zur Rechtfertigung seiner und der "Inter¬
nationalen strafrechtlichen Vereinigung" Überzeugung von der Nefvrmbedürftig-
keit der jetzigen Strafrechtspflege führt der Verfasser einige ihm besonders
beachtenswert erscheinende Mängel ausdrücklich um und leistet dabei folgende
Ungeheuerlichkeit: "Die bisherige Strafrechtswissenschaft hat die durch die
Statistik längst nachgewiesene Unterscheidung zwischen dem Gewvhnheits- und
Gelegenheitsverbrccher geflissentlich unbeachtet gelassen; beide Klassen werden
nach gleichen Grundsätzen behandelt und bestraft, so widersinnig es auch ist, den
zum vierzigstenmale auf der Anklagebank erscheinenden Dieb nach gleichen
Bestimmungen zu beurteilen wie den, der nur gelegentlich einen Diebstahl
verübt hat."

Man traut in der That seinen Augen kaum, wenn "um das liest, und
muß sich alles Ernstes fragen, ob der Verfasser wohl jemals einen Blick in
das Strafgesetzbuch irgend eines Kultnrstantes, z. B. des deutschen Reiches,
geworfen hat oder nicht.

Ein Diebstahl bleibt ein Diebstahl, mag er infolge gegebener Gelegenheit
oder ans Gewohnheit, zum erstenmal oder zum vierzigstenmal, an einer Mark
oder an einer Million begangen worden sein. Die einzelne That muß allemal
uuter den feststehenden Begriff des Diebstahls untergeordnet werden, daran ist
nichts zu ändern, und in so weit muß der Gelegenheitsdieb allerdings nach
demselben Grundsatz behandelt werden, wie der Gewohnheitsdieb. Es kann
sich also nur darum handeln, bei der Abstrafung der beiden Klassen von Dieben
-- um bei dem vom Verfasser gewühlten Beispiel stehen zu bleiben ......... einen
richtigen Unterschied zu machen.


Zur Strafrechtspflege

in sehr verschiedner Weise gehegten Gedanken über Befriedigung des allerdings
ziemlich allgemein gefühlten Bedürfnisses einer durchgreifenden Reform auf
dem gedachten Gebiete gerade sie sich zu eigen gemacht hätte. Eingehendere
Mitteilungen in dieser Beziehung in einer Zeitschrift wie die Grenzboten würden
deshalb erwünscht sein. Der erwähnte Artikel enthält deren keine, hat auch
wohl nur den Zweck, vorläufig einmal auf das Bestehen und die ungefähren
Ziele der Vereinigung aufmerksam zu machen. Mau erfährt daraus wenigstens
in der Hauptsache weiter nichts, als daß die Strafrechtspflege der Zukunft
Hand in Hand mit der Statistik und der Psychologie gehen müsse, und daß
die Strafgesetzgebung die „Gesellschaftswissenschaft" fernerhin nicht mehr
„vornehm übersehen" dürfe; man sucht aber vergebens nach greifbaren Vor¬
schlägen, wie die Sache nach dieser Richtung nun eigentlich zu machen sei.
Die wenigen Worte, die gegen den Schluß hin noch über Freiheits- und
Prügelstrafe sowie über die Art der jetzigen Strafvollstreckung überhaupt
zu lesen find, dürften doch als für das Ganze ziemlich unbedeutend erscheinen.

Doch darüber mit dem Herrn Verfasser rechten zu wollen, kommt uns
nicht in den Sinn. Etwas ganz andres ist es, was uns die Feder in die
Hand zwingt. Gewissermaßen zur Rechtfertigung seiner und der „Inter¬
nationalen strafrechtlichen Vereinigung" Überzeugung von der Nefvrmbedürftig-
keit der jetzigen Strafrechtspflege führt der Verfasser einige ihm besonders
beachtenswert erscheinende Mängel ausdrücklich um und leistet dabei folgende
Ungeheuerlichkeit: „Die bisherige Strafrechtswissenschaft hat die durch die
Statistik längst nachgewiesene Unterscheidung zwischen dem Gewvhnheits- und
Gelegenheitsverbrccher geflissentlich unbeachtet gelassen; beide Klassen werden
nach gleichen Grundsätzen behandelt und bestraft, so widersinnig es auch ist, den
zum vierzigstenmale auf der Anklagebank erscheinenden Dieb nach gleichen
Bestimmungen zu beurteilen wie den, der nur gelegentlich einen Diebstahl
verübt hat."

Man traut in der That seinen Augen kaum, wenn »um das liest, und
muß sich alles Ernstes fragen, ob der Verfasser wohl jemals einen Blick in
das Strafgesetzbuch irgend eines Kultnrstantes, z. B. des deutschen Reiches,
geworfen hat oder nicht.

Ein Diebstahl bleibt ein Diebstahl, mag er infolge gegebener Gelegenheit
oder ans Gewohnheit, zum erstenmal oder zum vierzigstenmal, an einer Mark
oder an einer Million begangen worden sein. Die einzelne That muß allemal
uuter den feststehenden Begriff des Diebstahls untergeordnet werden, daran ist
nichts zu ändern, und in so weit muß der Gelegenheitsdieb allerdings nach
demselben Grundsatz behandelt werden, wie der Gewohnheitsdieb. Es kann
sich also nur darum handeln, bei der Abstrafung der beiden Klassen von Dieben
— um bei dem vom Verfasser gewühlten Beispiel stehen zu bleiben ......... einen
richtigen Unterschied zu machen.


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[0602] Zur Strafrechtspflege in sehr verschiedner Weise gehegten Gedanken über Befriedigung des allerdings ziemlich allgemein gefühlten Bedürfnisses einer durchgreifenden Reform auf dem gedachten Gebiete gerade sie sich zu eigen gemacht hätte. Eingehendere Mitteilungen in dieser Beziehung in einer Zeitschrift wie die Grenzboten würden deshalb erwünscht sein. Der erwähnte Artikel enthält deren keine, hat auch wohl nur den Zweck, vorläufig einmal auf das Bestehen und die ungefähren Ziele der Vereinigung aufmerksam zu machen. Mau erfährt daraus wenigstens in der Hauptsache weiter nichts, als daß die Strafrechtspflege der Zukunft Hand in Hand mit der Statistik und der Psychologie gehen müsse, und daß die Strafgesetzgebung die „Gesellschaftswissenschaft" fernerhin nicht mehr „vornehm übersehen" dürfe; man sucht aber vergebens nach greifbaren Vor¬ schlägen, wie die Sache nach dieser Richtung nun eigentlich zu machen sei. Die wenigen Worte, die gegen den Schluß hin noch über Freiheits- und Prügelstrafe sowie über die Art der jetzigen Strafvollstreckung überhaupt zu lesen find, dürften doch als für das Ganze ziemlich unbedeutend erscheinen. Doch darüber mit dem Herrn Verfasser rechten zu wollen, kommt uns nicht in den Sinn. Etwas ganz andres ist es, was uns die Feder in die Hand zwingt. Gewissermaßen zur Rechtfertigung seiner und der „Inter¬ nationalen strafrechtlichen Vereinigung" Überzeugung von der Nefvrmbedürftig- keit der jetzigen Strafrechtspflege führt der Verfasser einige ihm besonders beachtenswert erscheinende Mängel ausdrücklich um und leistet dabei folgende Ungeheuerlichkeit: „Die bisherige Strafrechtswissenschaft hat die durch die Statistik längst nachgewiesene Unterscheidung zwischen dem Gewvhnheits- und Gelegenheitsverbrccher geflissentlich unbeachtet gelassen; beide Klassen werden nach gleichen Grundsätzen behandelt und bestraft, so widersinnig es auch ist, den zum vierzigstenmale auf der Anklagebank erscheinenden Dieb nach gleichen Bestimmungen zu beurteilen wie den, der nur gelegentlich einen Diebstahl verübt hat." Man traut in der That seinen Augen kaum, wenn »um das liest, und muß sich alles Ernstes fragen, ob der Verfasser wohl jemals einen Blick in das Strafgesetzbuch irgend eines Kultnrstantes, z. B. des deutschen Reiches, geworfen hat oder nicht. Ein Diebstahl bleibt ein Diebstahl, mag er infolge gegebener Gelegenheit oder ans Gewohnheit, zum erstenmal oder zum vierzigstenmal, an einer Mark oder an einer Million begangen worden sein. Die einzelne That muß allemal uuter den feststehenden Begriff des Diebstahls untergeordnet werden, daran ist nichts zu ändern, und in so weit muß der Gelegenheitsdieb allerdings nach demselben Grundsatz behandelt werden, wie der Gewohnheitsdieb. Es kann sich also nur darum handeln, bei der Abstrafung der beiden Klassen von Dieben — um bei dem vom Verfasser gewühlten Beispiel stehen zu bleiben ......... einen richtigen Unterschied zu machen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/602>, abgerufen am 24.08.2024.