Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.Berliner Romane einige heute in Trümmern liegen, während die übrigen später einmal verfallen Berliner Romane lese Bezeichnung hat sich schnell eingebürgert, unter dem Schlagwort Berliner Romane einige heute in Trümmern liegen, während die übrigen später einmal verfallen Berliner Romane lese Bezeichnung hat sich schnell eingebürgert, unter dem Schlagwort <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204559"/> <fw type="header" place="top"> Berliner Romane</fw><lb/> <p xml:id="ID_1524" prev="#ID_1523"> einige heute in Trümmern liegen, während die übrigen später einmal verfallen<lb/> werden, das ist ein Umstand, der sich weder leugnen noch beseitigen läßt. Da<lb/> alles Irdische an Zeit und Raum gebunden ist, so muß auch jeder irdische<lb/> Geist irgendwann und irgendwo geboren werden; ist er einmal da, dann lebt<lb/> er fort und wirkt über seine Geburtsstätte hinaus. Der hellenische, der stoische,<lb/> der epikureische, der jüdische, der römisch-katholische, der lutherische, der preußische<lb/> Geist, sie sind heute noch so lebendig wie vor 2000, vor 1000, vor Z00, vor<lb/> 100 Jahren, und sie werden des Menschen Seeleuspeise bleiben, auch wenn im<lb/> Laufe der Zeit andre neue Geister sich ihnen zugesellen. Sind doch Noggeu-<lb/> und Weizenbrod uicht von unsern: Tische verschwunden, obwohl schon zu unsrer<lb/> Urgroßväter Zeit die Kartoffel eingeführt wurde.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Berliner Romane</head><lb/> <p xml:id="ID_1525" next="#ID_1526"> lese Bezeichnung hat sich schnell eingebürgert, unter dem Schlagwort<lb/> „Berliner Roman" versteht man überall das gleiche Gemisch von<lb/> Sittenbild und Phantastik. Es ist auch natürlich, daß sich diese<lb/> neueste deutsche Nomangattuug rasch verbreitet hat. Das Getriebe<lb/> der Reichshauptstadt, auf die sich Tag für Tag nicht bloß die<lb/> Augen der Deutschen, sondern die der gesamten politischen Welt richten, erweckt<lb/> in Millionen von Lesern auch uach der sozialen Seite hiu Neugier und Interesse,<lb/> und der Berliner Roman ist darum kein Lokalroman mehr. Darin liegt seine<lb/> Berechtigung im weitern Sinne, das hat ihm seinen großen Erfolg geschaffen.<lb/> Man kann sogar sagen, daß der Berliner Roman über alle Romangattungen<lb/> herrschend geworden sei, nur dürfen nicht die Naturalisten diesen Erfolg für<lb/> sich in Anspruch nehmen, denn er folgt gar nicht aus ihren ästhetischen Grund¬<lb/> sätzen. Das Wachsen Berlins ist zunächst das äußerlich sichtbarste Ereignis<lb/> der neuen Zeit in Deutschland, darum fesselt es das große Publikum von<lb/> Romanlesern am meisten. So bedauerlich es nun wäre, wenn Berlin für<lb/> Deutschland jene einzige Bedeutung gewänne, die Paris in beiden Beziehungen,<lb/> in politischer wie in künstlerischer, sich für Frankreich im Laufe der Zeiten<lb/> angemaßt hat, ebenso bedauerlich wäre es, wenn die ganze deutsche Roman¬<lb/> produktion im Berliner Roman aufginge. Das großstädtische Leben ist bei,<lb/> all seinem Reichtum und in all seiner Mannigfaltigkeit doch nicht typisch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0470]
Berliner Romane
einige heute in Trümmern liegen, während die übrigen später einmal verfallen
werden, das ist ein Umstand, der sich weder leugnen noch beseitigen läßt. Da
alles Irdische an Zeit und Raum gebunden ist, so muß auch jeder irdische
Geist irgendwann und irgendwo geboren werden; ist er einmal da, dann lebt
er fort und wirkt über seine Geburtsstätte hinaus. Der hellenische, der stoische,
der epikureische, der jüdische, der römisch-katholische, der lutherische, der preußische
Geist, sie sind heute noch so lebendig wie vor 2000, vor 1000, vor Z00, vor
100 Jahren, und sie werden des Menschen Seeleuspeise bleiben, auch wenn im
Laufe der Zeit andre neue Geister sich ihnen zugesellen. Sind doch Noggeu-
und Weizenbrod uicht von unsern: Tische verschwunden, obwohl schon zu unsrer
Urgroßväter Zeit die Kartoffel eingeführt wurde.
Berliner Romane
lese Bezeichnung hat sich schnell eingebürgert, unter dem Schlagwort
„Berliner Roman" versteht man überall das gleiche Gemisch von
Sittenbild und Phantastik. Es ist auch natürlich, daß sich diese
neueste deutsche Nomangattuug rasch verbreitet hat. Das Getriebe
der Reichshauptstadt, auf die sich Tag für Tag nicht bloß die
Augen der Deutschen, sondern die der gesamten politischen Welt richten, erweckt
in Millionen von Lesern auch uach der sozialen Seite hiu Neugier und Interesse,
und der Berliner Roman ist darum kein Lokalroman mehr. Darin liegt seine
Berechtigung im weitern Sinne, das hat ihm seinen großen Erfolg geschaffen.
Man kann sogar sagen, daß der Berliner Roman über alle Romangattungen
herrschend geworden sei, nur dürfen nicht die Naturalisten diesen Erfolg für
sich in Anspruch nehmen, denn er folgt gar nicht aus ihren ästhetischen Grund¬
sätzen. Das Wachsen Berlins ist zunächst das äußerlich sichtbarste Ereignis
der neuen Zeit in Deutschland, darum fesselt es das große Publikum von
Romanlesern am meisten. So bedauerlich es nun wäre, wenn Berlin für
Deutschland jene einzige Bedeutung gewänne, die Paris in beiden Beziehungen,
in politischer wie in künstlerischer, sich für Frankreich im Laufe der Zeiten
angemaßt hat, ebenso bedauerlich wäre es, wenn die ganze deutsche Roman¬
produktion im Berliner Roman aufginge. Das großstädtische Leben ist bei,
all seinem Reichtum und in all seiner Mannigfaltigkeit doch nicht typisch
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