Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.Die Grenzen zwischen Dichtung und Misseuschaft wissenschaftlichen Anschauungen und Forschungen vieles, wahrscheinlich mehij em¬ Unter diesen Umständen wird es zur Pflicht, an die Grenzen zwischen Dich¬ Die Grenzen zwischen Dichtung und Misseuschaft wissenschaftlichen Anschauungen und Forschungen vieles, wahrscheinlich mehij em¬ Unter diesen Umständen wird es zur Pflicht, an die Grenzen zwischen Dich¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0322" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204411"/> <fw type="header" place="top"> Die Grenzen zwischen Dichtung und Misseuschaft</fw><lb/> <p xml:id="ID_1023" prev="#ID_1022"> wissenschaftlichen Anschauungen und Forschungen vieles, wahrscheinlich mehij em¬<lb/> pfangen, als sich heute voraussehen läßt. Aber die Erscheinungen und die Em¬<lb/> pfindungen, auf denen alle echte Dichtung seit Jahrtausenden beruht, können<lb/> durch keine naturwissenschaftliche Erkenntnis in Frage gestellt werden, und in¬<lb/> sofern ist es vollkommen widersinnig, eine völlig neue Litteratur zu prophe¬<lb/> zeien. Als die Romantiker den Versuch machten, die Grenzen der Dichtung<lb/> und der Religion zu mißachten und aufzuheben, die Poesie vom irdischen Boden<lb/> zu lösen, als Novalis verkündete: „Die Poesie soll das ganze Leben ergreifen<lb/> und die übersinnliche Welt in diese eintreten lassen, so daß sich in ihrem Lichte<lb/> alle Verhältnisse neu gestalten. Der Dichter ist darin nur das Organ höherer;<lb/> er ist wahrhaft sinnberanbt, dafür lebt das All in ihm. Die höhere Welt ist<lb/> uns näher, als wir denken, schon hier leben wir in ihr und erblicken sie auf<lb/> das innigste mit der irdischen Natur verwebt. Es bricht die neue Welt herein<lb/> und verdunkelt den hellsten Sonnenschein, der Ursprung der Natur beginnt,<lb/> ans kräftige Worte jedes sinnt, und so das große Weltgemüt überall sich regt<lb/> und unendlich blüht" — als er und seine Genossen der Poesie zu einer das<lb/> Diesseits auch eine das Jenseits offenbarende Kraft zusprachen, schädigten, ja<lb/> zerstörten sie dieselbe Kunst, die sie unendlich zu erheben vermeinten. Als die<lb/> Jungdeutschen die deutsche Poesie mit der „heiligen Demokratie" zu vermählen<lb/> suchten und die Kraft des poetischen Geistes um der Stärke politischer Wallungen<lb/> und der Länge politischer Phrasen maßen, glaubten sie ernsthaft an eine neue<lb/> Litteratur. Aber die Erfahrung zeigt, daß sie mir eine binnen wenigen Jahren<lb/> ungenießbar gewordene Modelitteratnr erschufen. Wir Wollen nicht zweifeln, daß<lb/> auch die Kritiker, welche der Dichtung durch das wissenschaftliche Experiment<lb/> Erfrischung und Erhebung zuzuführen meinen, sie von dem ausschließlichen oder<lb/> doch überwiegenden Frauenpublikum erlösen wollen, die ehrliche Überzeugung<lb/> hegen, daß sich an ihre Bestrebungen wieder einmal ein „großes Zeitalter"<lb/> knüpfen werde. Aber da sie die Bedingungen, unter denen es allein eine Dich¬<lb/> tung giebt und immer geben wird, von vornherein übersehen, so können sie höchstens<lb/> die herrschende Verwirrung vermehren, aber weder belebend noch klärend wirken.</p><lb/> <p xml:id="ID_1024" next="#ID_1025"> Unter diesen Umständen wird es zur Pflicht, an die Grenzen zwischen Dich¬<lb/> tung und Wissenschaft zu erinnern und gegen die fortwährende Störung und<lb/> widersinnige Ausstachluug des poetischen Geistes zu Protestiren, eines Geistes,<lb/> der sich unmittelbar und rein aus der Fülle der Erscheinungen entwickeln soll<lb/> und mit diesen fortwährenden Dekretirnngen neuer Zeitalter, epochaler Wand¬<lb/> lungen wahrhaftig nicht geweckt wird. Einen und zwar den gewaltigsten Unter¬<lb/> schied vergessen die Verkünder des großen Satzes: „Unsre Wissenschaft (unter<lb/> Wissenschaft verstehen sie lediglich die Naturwissenschnft) schreitet beständig vor,<lb/> und die Litteratur bleibt beständig zurück." An der Förderung der Wissenschaft<lb/> können, führende Geister und gute Methoden vorausgesetzt, unzählige methodisch<lb/> geschulte Hilfsarbeiter teilnehmen. Die experimentelle Arbeit auf diesen? Ge-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0322]
Die Grenzen zwischen Dichtung und Misseuschaft
wissenschaftlichen Anschauungen und Forschungen vieles, wahrscheinlich mehij em¬
pfangen, als sich heute voraussehen läßt. Aber die Erscheinungen und die Em¬
pfindungen, auf denen alle echte Dichtung seit Jahrtausenden beruht, können
durch keine naturwissenschaftliche Erkenntnis in Frage gestellt werden, und in¬
sofern ist es vollkommen widersinnig, eine völlig neue Litteratur zu prophe¬
zeien. Als die Romantiker den Versuch machten, die Grenzen der Dichtung
und der Religion zu mißachten und aufzuheben, die Poesie vom irdischen Boden
zu lösen, als Novalis verkündete: „Die Poesie soll das ganze Leben ergreifen
und die übersinnliche Welt in diese eintreten lassen, so daß sich in ihrem Lichte
alle Verhältnisse neu gestalten. Der Dichter ist darin nur das Organ höherer;
er ist wahrhaft sinnberanbt, dafür lebt das All in ihm. Die höhere Welt ist
uns näher, als wir denken, schon hier leben wir in ihr und erblicken sie auf
das innigste mit der irdischen Natur verwebt. Es bricht die neue Welt herein
und verdunkelt den hellsten Sonnenschein, der Ursprung der Natur beginnt,
ans kräftige Worte jedes sinnt, und so das große Weltgemüt überall sich regt
und unendlich blüht" — als er und seine Genossen der Poesie zu einer das
Diesseits auch eine das Jenseits offenbarende Kraft zusprachen, schädigten, ja
zerstörten sie dieselbe Kunst, die sie unendlich zu erheben vermeinten. Als die
Jungdeutschen die deutsche Poesie mit der „heiligen Demokratie" zu vermählen
suchten und die Kraft des poetischen Geistes um der Stärke politischer Wallungen
und der Länge politischer Phrasen maßen, glaubten sie ernsthaft an eine neue
Litteratur. Aber die Erfahrung zeigt, daß sie mir eine binnen wenigen Jahren
ungenießbar gewordene Modelitteratnr erschufen. Wir Wollen nicht zweifeln, daß
auch die Kritiker, welche der Dichtung durch das wissenschaftliche Experiment
Erfrischung und Erhebung zuzuführen meinen, sie von dem ausschließlichen oder
doch überwiegenden Frauenpublikum erlösen wollen, die ehrliche Überzeugung
hegen, daß sich an ihre Bestrebungen wieder einmal ein „großes Zeitalter"
knüpfen werde. Aber da sie die Bedingungen, unter denen es allein eine Dich¬
tung giebt und immer geben wird, von vornherein übersehen, so können sie höchstens
die herrschende Verwirrung vermehren, aber weder belebend noch klärend wirken.
Unter diesen Umständen wird es zur Pflicht, an die Grenzen zwischen Dich¬
tung und Wissenschaft zu erinnern und gegen die fortwährende Störung und
widersinnige Ausstachluug des poetischen Geistes zu Protestiren, eines Geistes,
der sich unmittelbar und rein aus der Fülle der Erscheinungen entwickeln soll
und mit diesen fortwährenden Dekretirnngen neuer Zeitalter, epochaler Wand¬
lungen wahrhaftig nicht geweckt wird. Einen und zwar den gewaltigsten Unter¬
schied vergessen die Verkünder des großen Satzes: „Unsre Wissenschaft (unter
Wissenschaft verstehen sie lediglich die Naturwissenschnft) schreitet beständig vor,
und die Litteratur bleibt beständig zurück." An der Förderung der Wissenschaft
können, führende Geister und gute Methoden vorausgesetzt, unzählige methodisch
geschulte Hilfsarbeiter teilnehmen. Die experimentelle Arbeit auf diesen? Ge-
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