Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Ricks Lyhne.
Z. j). Jacobsen. Roman von
Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann.
(Schluß.)
Vierzehntes Aapitel.

ctzt ist es Herbst. Auf den Gräbern da oben auf dem Friedhofe
blühen keine Blumen mehr, und das Laub liegt braun und modernd
auf den nassen Wegen und unter den Bäumen im Garten zu Lön-
borggaard.

In den leeren Stuben geht Ricks Lyhne in bitterer Schwer¬
mut umher. In ihm ist etwas gebrochen, in jener Nacht, als das Kind starb; er
hat das Zutrauen zu sich selber verloren, seinen Glauben an die Macht des
Menschen, das Leben zu ertragen, das man ja leben muß. Das Dasein war ihm
schal geworden, und der Inhalt desselben stob zwecklos davon, nach allen Seiten hin.

Es konnte nichts nützen, daß er das Gebet, was er gebetet hatte, den
wahnsinnigen Hilfeschrei eines Vaters für sein Kind nannte. Er hatte es
gewußt, was er in seiner Verzweiflung gethan hatte. Er war versucht worden
und war gefallen; es war ein Sündenfall, ein Abfallen von dem eignen Ich,
von der Idee. Es kam vielleicht daher, daß die Tradition in seinem Blute zu
stark gewesen war; das Menschengeschlecht hatte in so viel tausend Jahren stets
in seiner Not den Himmel angerufen, und jetzt hatte er diesem ererbten Drange
nachgegeben. Aber er hatte dagegen losgehen müssen wie gegen einen bösen
Instinkt, er wußte ja doch bis in die innersten Fibern seines Hirnes, daß alle
Götter nichts sind als Träume, und daß er zu einem Traume Zuflucht ge¬
nommen hatte, sobald er betete, ebenso wie er in alten Tagen, wenn er sich
der Phantasterei in die Arme geworfen hatte, genau gewußt hatte, daß es
Phantasterei war. Er hatte das Leben, so wie es war, nicht ertragen können,
jetzt hatte er Teil genommen an dem Kampfe um das Höchste und war in der
Hitze des Kampfes der Fahne untreu geworden, zu der er geschworen hatte;
denn das Neue, der Atheismus, die heilige Sache der Wahrheit, welchen Zweck
hatte das alles, was war das alles? Nichts als ein Flittergoldname für das


Grenzboten III. 1888. 79


Ricks Lyhne.
Z. j). Jacobsen. Roman von
Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann.
(Schluß.)
Vierzehntes Aapitel.

ctzt ist es Herbst. Auf den Gräbern da oben auf dem Friedhofe
blühen keine Blumen mehr, und das Laub liegt braun und modernd
auf den nassen Wegen und unter den Bäumen im Garten zu Lön-
borggaard.

In den leeren Stuben geht Ricks Lyhne in bitterer Schwer¬
mut umher. In ihm ist etwas gebrochen, in jener Nacht, als das Kind starb; er
hat das Zutrauen zu sich selber verloren, seinen Glauben an die Macht des
Menschen, das Leben zu ertragen, das man ja leben muß. Das Dasein war ihm
schal geworden, und der Inhalt desselben stob zwecklos davon, nach allen Seiten hin.

Es konnte nichts nützen, daß er das Gebet, was er gebetet hatte, den
wahnsinnigen Hilfeschrei eines Vaters für sein Kind nannte. Er hatte es
gewußt, was er in seiner Verzweiflung gethan hatte. Er war versucht worden
und war gefallen; es war ein Sündenfall, ein Abfallen von dem eignen Ich,
von der Idee. Es kam vielleicht daher, daß die Tradition in seinem Blute zu
stark gewesen war; das Menschengeschlecht hatte in so viel tausend Jahren stets
in seiner Not den Himmel angerufen, und jetzt hatte er diesem ererbten Drange
nachgegeben. Aber er hatte dagegen losgehen müssen wie gegen einen bösen
Instinkt, er wußte ja doch bis in die innersten Fibern seines Hirnes, daß alle
Götter nichts sind als Träume, und daß er zu einem Traume Zuflucht ge¬
nommen hatte, sobald er betete, ebenso wie er in alten Tagen, wenn er sich
der Phantasterei in die Arme geworfen hatte, genau gewußt hatte, daß es
Phantasterei war. Er hatte das Leben, so wie es war, nicht ertragen können,
jetzt hatte er Teil genommen an dem Kampfe um das Höchste und war in der
Hitze des Kampfes der Fahne untreu geworden, zu der er geschworen hatte;
denn das Neue, der Atheismus, die heilige Sache der Wahrheit, welchen Zweck
hatte das alles, was war das alles? Nichts als ein Flittergoldname für das


Grenzboten III. 1888. 79
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0633" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289756"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341847_289122/figures/grenzboten_341847_289122_289756_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Ricks Lyhne.<lb/><note type="byline"> Z. j). Jacobsen.</note> Roman von<lb/>
Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann.<lb/>
(Schluß.)<lb/>
Vierzehntes Aapitel.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2144"> ctzt ist es Herbst. Auf den Gräbern da oben auf dem Friedhofe<lb/>
blühen keine Blumen mehr, und das Laub liegt braun und modernd<lb/>
auf den nassen Wegen und unter den Bäumen im Garten zu Lön-<lb/>
borggaard.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2145"> In den leeren Stuben geht Ricks Lyhne in bitterer Schwer¬<lb/>
mut umher. In ihm ist etwas gebrochen, in jener Nacht, als das Kind starb; er<lb/>
hat das Zutrauen zu sich selber verloren, seinen Glauben an die Macht des<lb/>
Menschen, das Leben zu ertragen, das man ja leben muß. Das Dasein war ihm<lb/>
schal geworden, und der Inhalt desselben stob zwecklos davon, nach allen Seiten hin.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2146" next="#ID_2147"> Es konnte nichts nützen, daß er das Gebet, was er gebetet hatte, den<lb/>
wahnsinnigen Hilfeschrei eines Vaters für sein Kind nannte. Er hatte es<lb/>
gewußt, was er in seiner Verzweiflung gethan hatte. Er war versucht worden<lb/>
und war gefallen; es war ein Sündenfall, ein Abfallen von dem eignen Ich,<lb/>
von der Idee. Es kam vielleicht daher, daß die Tradition in seinem Blute zu<lb/>
stark gewesen war; das Menschengeschlecht hatte in so viel tausend Jahren stets<lb/>
in seiner Not den Himmel angerufen, und jetzt hatte er diesem ererbten Drange<lb/>
nachgegeben. Aber er hatte dagegen losgehen müssen wie gegen einen bösen<lb/>
Instinkt, er wußte ja doch bis in die innersten Fibern seines Hirnes, daß alle<lb/>
Götter nichts sind als Träume, und daß er zu einem Traume Zuflucht ge¬<lb/>
nommen hatte, sobald er betete, ebenso wie er in alten Tagen, wenn er sich<lb/>
der Phantasterei in die Arme geworfen hatte, genau gewußt hatte, daß es<lb/>
Phantasterei war. Er hatte das Leben, so wie es war, nicht ertragen können,<lb/>
jetzt hatte er Teil genommen an dem Kampfe um das Höchste und war in der<lb/>
Hitze des Kampfes der Fahne untreu geworden, zu der er geschworen hatte;<lb/>
denn das Neue, der Atheismus, die heilige Sache der Wahrheit, welchen Zweck<lb/>
hatte das alles, was war das alles? Nichts als ein Flittergoldname für das</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1888. 79</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0633] [Abbildung] Ricks Lyhne. Z. j). Jacobsen. Roman von Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann. (Schluß.) Vierzehntes Aapitel. ctzt ist es Herbst. Auf den Gräbern da oben auf dem Friedhofe blühen keine Blumen mehr, und das Laub liegt braun und modernd auf den nassen Wegen und unter den Bäumen im Garten zu Lön- borggaard. In den leeren Stuben geht Ricks Lyhne in bitterer Schwer¬ mut umher. In ihm ist etwas gebrochen, in jener Nacht, als das Kind starb; er hat das Zutrauen zu sich selber verloren, seinen Glauben an die Macht des Menschen, das Leben zu ertragen, das man ja leben muß. Das Dasein war ihm schal geworden, und der Inhalt desselben stob zwecklos davon, nach allen Seiten hin. Es konnte nichts nützen, daß er das Gebet, was er gebetet hatte, den wahnsinnigen Hilfeschrei eines Vaters für sein Kind nannte. Er hatte es gewußt, was er in seiner Verzweiflung gethan hatte. Er war versucht worden und war gefallen; es war ein Sündenfall, ein Abfallen von dem eignen Ich, von der Idee. Es kam vielleicht daher, daß die Tradition in seinem Blute zu stark gewesen war; das Menschengeschlecht hatte in so viel tausend Jahren stets in seiner Not den Himmel angerufen, und jetzt hatte er diesem ererbten Drange nachgegeben. Aber er hatte dagegen losgehen müssen wie gegen einen bösen Instinkt, er wußte ja doch bis in die innersten Fibern seines Hirnes, daß alle Götter nichts sind als Träume, und daß er zu einem Traume Zuflucht ge¬ nommen hatte, sobald er betete, ebenso wie er in alten Tagen, wenn er sich der Phantasterei in die Arme geworfen hatte, genau gewußt hatte, daß es Phantasterei war. Er hatte das Leben, so wie es war, nicht ertragen können, jetzt hatte er Teil genommen an dem Kampfe um das Höchste und war in der Hitze des Kampfes der Fahne untreu geworden, zu der er geschworen hatte; denn das Neue, der Atheismus, die heilige Sache der Wahrheit, welchen Zweck hatte das alles, was war das alles? Nichts als ein Flittergoldname für das Grenzboten III. 1888. 79

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/633
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/633>, abgerufen am 22.07.2024.