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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Frau Gottsched,

genötigt, sein Urteil in die Worte zusammenzufassen: "Kurzum, kein Lustspiel,
das unsern heutigen Anforderungen entspräche, aber historisch, auch nur als
Vorstufe zur "Minna von Barnhelm" angesehen, gewiß interessant und lehrreich."

Paul Schlenther, der neueste Biograph der Frau Gottsched, findet die
Erklärung für die befremdliche Thatsache, daß uns so viel Grobes und Rohes
in ihren Lustspielen überrascht, zum Teil in Gottscheds Natürlichkeits- und
Abschreckungstheorie, In der "Ungleichen Heirat," welche in Adelskreisen spielt,
hatte Frau Gottsched treu nach der Regel die gewöhnliche Umgangssprache ge¬
wählt. Da nun die Handlung der "Hausfranzösin" in ein Bürgerhaus verlegt
wird, so erschien es wünschenswert, den Ton um einiges niedriger zu stimmen.
Da aber die Sprache das vorwiegendste Mittel der Darstellung war, und damit
die Franzosen recht abscheulich erscheinen konnten, mußten sie vor allem nicht
nur selbst recht abscheulich reden, sondern auch von den andern mit den ab¬
scheulichsten Bezeichnungen bedacht werden. Da Fran Gottsched einmal sich vor¬
genommen hatte oder verleitet worden war, eine Schwutzwirtschaft zu schildern,
so glaubte sie auch an einer naturalistischen Schilderung derselben es nicht fehlen
lassen zu dürfen. Je ferner und unbekannter ihrem Gefühl und ihrer Erfahrunug
solche Zustände waren, desto mehr mußten sie Ton und Farbe der Schilderung
verfehlen, und sie half sich, wie alle Unkundigen sich helfen: sie übertrieb und
machte Ausschreitungen."

Wer Frau Gottsched gerecht beurteilen will, muß sich mit Schlenther ver¬
gegenwärtigen, daß sie an der Wiege eines großen Dichterzeitalters stand. "Das
Jahr 1744, wo die Hausfwnzösin erschien, zeigt uns Klopstock und Lessing im
Werden. Goethe wird ein halbes Jahrzehnt später geboren. Diese werdende
Poesie der Großen folgt auf die emsigen Bemühungen unsrer Dichterin, wie
der feste Mannesschritt sich allmählig herausbildet aus dem vierfüßigen Tasten
und Tappen des Kindes. Wie sich Kinder zu Erwachsenen verhalten, so verhält
sich Frau Gottscheds Stil zum Stile der Lessingschen Minna von Barnhelm."

Und wer das ganze Wesen Frau Gottscheds erkennen will, der darf sich
nicht bloß an ihre für den Druck bestimmten Werke halten, der muß namentlich
ihre Briefe in Betracht ziehen, von denen ein großer Teil nach ihrem Tode
dnrch ihre Freundin, Frau von Ruukel, ein kleinerer Teil auch durch ihren Gatten
in der ihren Gedichten vorgesetzten Lebensbeschreibung veröffentlicht worden ist
Auch ihre von Gottsched veröffentlichten Gelegenheitsgedichte lassen manchen
lehrreichen Blick in ihren Geist und ihr Herz thun. Gottsched meint, daß seine
Gattin in Elogien auf den Tod geliebter Freunde von keinem Dichter über¬
troffen worden sei. Das ist etwas viel gesagt; immerhin darf man zugeben,
daß überraschend geistvolle Gedanken und Töne echter Empfindung oft in diesen
Gedichten zu entdecken sind, während geistlose Spielereien mit Namen, barocke
Einfälle und Zweideutigkeiten, an denen andre Gelegenheitsgedichte jener Zeit so
reich sind, sich bei ihr nicht finden. Sie schrieb auch solche Gedichte nur, wenn


Frau Gottsched,

genötigt, sein Urteil in die Worte zusammenzufassen: „Kurzum, kein Lustspiel,
das unsern heutigen Anforderungen entspräche, aber historisch, auch nur als
Vorstufe zur „Minna von Barnhelm" angesehen, gewiß interessant und lehrreich."

Paul Schlenther, der neueste Biograph der Frau Gottsched, findet die
Erklärung für die befremdliche Thatsache, daß uns so viel Grobes und Rohes
in ihren Lustspielen überrascht, zum Teil in Gottscheds Natürlichkeits- und
Abschreckungstheorie, In der „Ungleichen Heirat," welche in Adelskreisen spielt,
hatte Frau Gottsched treu nach der Regel die gewöhnliche Umgangssprache ge¬
wählt. Da nun die Handlung der „Hausfranzösin" in ein Bürgerhaus verlegt
wird, so erschien es wünschenswert, den Ton um einiges niedriger zu stimmen.
Da aber die Sprache das vorwiegendste Mittel der Darstellung war, und damit
die Franzosen recht abscheulich erscheinen konnten, mußten sie vor allem nicht
nur selbst recht abscheulich reden, sondern auch von den andern mit den ab¬
scheulichsten Bezeichnungen bedacht werden. Da Fran Gottsched einmal sich vor¬
genommen hatte oder verleitet worden war, eine Schwutzwirtschaft zu schildern,
so glaubte sie auch an einer naturalistischen Schilderung derselben es nicht fehlen
lassen zu dürfen. Je ferner und unbekannter ihrem Gefühl und ihrer Erfahrunug
solche Zustände waren, desto mehr mußten sie Ton und Farbe der Schilderung
verfehlen, und sie half sich, wie alle Unkundigen sich helfen: sie übertrieb und
machte Ausschreitungen."

Wer Frau Gottsched gerecht beurteilen will, muß sich mit Schlenther ver¬
gegenwärtigen, daß sie an der Wiege eines großen Dichterzeitalters stand. „Das
Jahr 1744, wo die Hausfwnzösin erschien, zeigt uns Klopstock und Lessing im
Werden. Goethe wird ein halbes Jahrzehnt später geboren. Diese werdende
Poesie der Großen folgt auf die emsigen Bemühungen unsrer Dichterin, wie
der feste Mannesschritt sich allmählig herausbildet aus dem vierfüßigen Tasten
und Tappen des Kindes. Wie sich Kinder zu Erwachsenen verhalten, so verhält
sich Frau Gottscheds Stil zum Stile der Lessingschen Minna von Barnhelm."

Und wer das ganze Wesen Frau Gottscheds erkennen will, der darf sich
nicht bloß an ihre für den Druck bestimmten Werke halten, der muß namentlich
ihre Briefe in Betracht ziehen, von denen ein großer Teil nach ihrem Tode
dnrch ihre Freundin, Frau von Ruukel, ein kleinerer Teil auch durch ihren Gatten
in der ihren Gedichten vorgesetzten Lebensbeschreibung veröffentlicht worden ist
Auch ihre von Gottsched veröffentlichten Gelegenheitsgedichte lassen manchen
lehrreichen Blick in ihren Geist und ihr Herz thun. Gottsched meint, daß seine
Gattin in Elogien auf den Tod geliebter Freunde von keinem Dichter über¬
troffen worden sei. Das ist etwas viel gesagt; immerhin darf man zugeben,
daß überraschend geistvolle Gedanken und Töne echter Empfindung oft in diesen
Gedichten zu entdecken sind, während geistlose Spielereien mit Namen, barocke
Einfälle und Zweideutigkeiten, an denen andre Gelegenheitsgedichte jener Zeit so
reich sind, sich bei ihr nicht finden. Sie schrieb auch solche Gedichte nur, wenn


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[0616] Frau Gottsched, genötigt, sein Urteil in die Worte zusammenzufassen: „Kurzum, kein Lustspiel, das unsern heutigen Anforderungen entspräche, aber historisch, auch nur als Vorstufe zur „Minna von Barnhelm" angesehen, gewiß interessant und lehrreich." Paul Schlenther, der neueste Biograph der Frau Gottsched, findet die Erklärung für die befremdliche Thatsache, daß uns so viel Grobes und Rohes in ihren Lustspielen überrascht, zum Teil in Gottscheds Natürlichkeits- und Abschreckungstheorie, In der „Ungleichen Heirat," welche in Adelskreisen spielt, hatte Frau Gottsched treu nach der Regel die gewöhnliche Umgangssprache ge¬ wählt. Da nun die Handlung der „Hausfranzösin" in ein Bürgerhaus verlegt wird, so erschien es wünschenswert, den Ton um einiges niedriger zu stimmen. Da aber die Sprache das vorwiegendste Mittel der Darstellung war, und damit die Franzosen recht abscheulich erscheinen konnten, mußten sie vor allem nicht nur selbst recht abscheulich reden, sondern auch von den andern mit den ab¬ scheulichsten Bezeichnungen bedacht werden. Da Fran Gottsched einmal sich vor¬ genommen hatte oder verleitet worden war, eine Schwutzwirtschaft zu schildern, so glaubte sie auch an einer naturalistischen Schilderung derselben es nicht fehlen lassen zu dürfen. Je ferner und unbekannter ihrem Gefühl und ihrer Erfahrunug solche Zustände waren, desto mehr mußten sie Ton und Farbe der Schilderung verfehlen, und sie half sich, wie alle Unkundigen sich helfen: sie übertrieb und machte Ausschreitungen." Wer Frau Gottsched gerecht beurteilen will, muß sich mit Schlenther ver¬ gegenwärtigen, daß sie an der Wiege eines großen Dichterzeitalters stand. „Das Jahr 1744, wo die Hausfwnzösin erschien, zeigt uns Klopstock und Lessing im Werden. Goethe wird ein halbes Jahrzehnt später geboren. Diese werdende Poesie der Großen folgt auf die emsigen Bemühungen unsrer Dichterin, wie der feste Mannesschritt sich allmählig herausbildet aus dem vierfüßigen Tasten und Tappen des Kindes. Wie sich Kinder zu Erwachsenen verhalten, so verhält sich Frau Gottscheds Stil zum Stile der Lessingschen Minna von Barnhelm." Und wer das ganze Wesen Frau Gottscheds erkennen will, der darf sich nicht bloß an ihre für den Druck bestimmten Werke halten, der muß namentlich ihre Briefe in Betracht ziehen, von denen ein großer Teil nach ihrem Tode dnrch ihre Freundin, Frau von Ruukel, ein kleinerer Teil auch durch ihren Gatten in der ihren Gedichten vorgesetzten Lebensbeschreibung veröffentlicht worden ist Auch ihre von Gottsched veröffentlichten Gelegenheitsgedichte lassen manchen lehrreichen Blick in ihren Geist und ihr Herz thun. Gottsched meint, daß seine Gattin in Elogien auf den Tod geliebter Freunde von keinem Dichter über¬ troffen worden sei. Das ist etwas viel gesagt; immerhin darf man zugeben, daß überraschend geistvolle Gedanken und Töne echter Empfindung oft in diesen Gedichten zu entdecken sind, während geistlose Spielereien mit Namen, barocke Einfälle und Zweideutigkeiten, an denen andre Gelegenheitsgedichte jener Zeit so reich sind, sich bei ihr nicht finden. Sie schrieb auch solche Gedichte nur, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/616>, abgerufen am 23.07.2024.