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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne,

gehen. Ich fürchte mich, Ricks! Dort, wohin ich nun kommen werde, dort
regiert der Herr, und der kümmert sich nicht um unsre Klugheit hier auf Erden,
er will das Seine haben und weiter nichts, und alles, was sein eigen ist, das
liegt mir so fern, so fern! Ich habe nicht viel Böses gethan, nicht wahr?
Aber darauf kommt es ja nicht an -- hol mir den Pfarrer, Ricks, ich möchte
so gern mit ihm reden!

Ricks stand auf und schickte sich an, den Pfarrer zu holen; er war dank¬
bar, daß dies nicht im allerletzten Augenblicke gekommen war.

Der Pfarrer kam und blieb allein mit Gerda.

Er war ein hübscher Mann mittlern Alters, mit feinen, regelmäßigen
Zügen und großen braunen Augen. Natürlich kannte er sowohl Ricks Lyhncs
als auch Gerdas Stellung zur Kirche, ihm waren auch wohl hin und wieder
verschiedne kirchenfeindliche Äußerungen der jungen Frau zu Ohren gekommen,
aber es fiel ihm jetzt nicht ein, zu ihr wie zu eiuer Heidin oder einer Ab¬
trünnigen zu reden, er verstand es nur zu gut, daß ihre große Liebe allein
sie auf die Irrwege geführt hatte, und er verstand auch das Gefühl, das sie
jetzt, wo die Liebe sie nicht weiter geleiten konnte, dazu veranlaßte, sich in ihrer
Herzensangst nach einer Versöhnung mit dem Gotte zu sehnen, den sie früher
gekannt hatte, und er bemühte sich deshalb, in seiner Rede hauptsächlich ihre
schlummernden Erinnerungen zu wecken und ihr solche Stellen aus dem Evan¬
gelium und aus dem Gesangbuche vorzulesen, von denen er annehmen konnte,
daß sie sie noch am besten kannte.

Und darin irrte er sich nicht. Wie klangen sie nicht heimatlich und festlich,
diese Worte, gleich dem Läuten der Glocken am Weihnachtsmorgen, wie lag es
nicht auf einmal wieder vor ihrem Blick, das Land, in dem ihre Phantasie zu
allererst heimisch gewesen war, das Land, in dem Josef träumte und David
sang, wo die Leiter steht, die vom Himmel bis zur Erde reicht! Mit Feigen
und Maulbeerbäumen lag es da, und der Jordan schimmerte silberhell durch
den Morgennebel, Jerusalem lag rot und trauernd im Strahl der Abendsonne,
aber über Bethlehem breitete sich eine herrliche Nacht aus mit großen Sternen
am dunkelblauen Himmel. Wie sprudelte nicht der Kinderglaube wieder ge¬
waltsam hervor! Sie wurde wieder zu dem kleinen Mädchen, das an der Hand
der Mutter zur Kirche ging und dasaß und fror und sich darüber wunderte,
weswegen die Menschen eigentlich so viel sündigten. Dann wuchs sie heran
unter den hohen Worten der Bergpredigt, und als der Pfarrer von den heiligen
Mysterien sprach, von den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls, da
lag sie als kranke Sünderin du. Da gewann das wahre Bedürfnis ihres
Herzens die Oberhand, jenes tiefe Knieen vor dem allmächtigen, richtenden
Gotte, jene bittern Thränen der Reue über den verratenen, bespotteten, leidenden
Gott, und jenes demütige und doch so kühne Sehnen, durch Wein und Brot
einen neuen Vertrag zu schließen mit dem geheimnisvollen Gotte.


Ricks Lyhne,

gehen. Ich fürchte mich, Ricks! Dort, wohin ich nun kommen werde, dort
regiert der Herr, und der kümmert sich nicht um unsre Klugheit hier auf Erden,
er will das Seine haben und weiter nichts, und alles, was sein eigen ist, das
liegt mir so fern, so fern! Ich habe nicht viel Böses gethan, nicht wahr?
Aber darauf kommt es ja nicht an — hol mir den Pfarrer, Ricks, ich möchte
so gern mit ihm reden!

Ricks stand auf und schickte sich an, den Pfarrer zu holen; er war dank¬
bar, daß dies nicht im allerletzten Augenblicke gekommen war.

Der Pfarrer kam und blieb allein mit Gerda.

Er war ein hübscher Mann mittlern Alters, mit feinen, regelmäßigen
Zügen und großen braunen Augen. Natürlich kannte er sowohl Ricks Lyhncs
als auch Gerdas Stellung zur Kirche, ihm waren auch wohl hin und wieder
verschiedne kirchenfeindliche Äußerungen der jungen Frau zu Ohren gekommen,
aber es fiel ihm jetzt nicht ein, zu ihr wie zu eiuer Heidin oder einer Ab¬
trünnigen zu reden, er verstand es nur zu gut, daß ihre große Liebe allein
sie auf die Irrwege geführt hatte, und er verstand auch das Gefühl, das sie
jetzt, wo die Liebe sie nicht weiter geleiten konnte, dazu veranlaßte, sich in ihrer
Herzensangst nach einer Versöhnung mit dem Gotte zu sehnen, den sie früher
gekannt hatte, und er bemühte sich deshalb, in seiner Rede hauptsächlich ihre
schlummernden Erinnerungen zu wecken und ihr solche Stellen aus dem Evan¬
gelium und aus dem Gesangbuche vorzulesen, von denen er annehmen konnte,
daß sie sie noch am besten kannte.

Und darin irrte er sich nicht. Wie klangen sie nicht heimatlich und festlich,
diese Worte, gleich dem Läuten der Glocken am Weihnachtsmorgen, wie lag es
nicht auf einmal wieder vor ihrem Blick, das Land, in dem ihre Phantasie zu
allererst heimisch gewesen war, das Land, in dem Josef träumte und David
sang, wo die Leiter steht, die vom Himmel bis zur Erde reicht! Mit Feigen
und Maulbeerbäumen lag es da, und der Jordan schimmerte silberhell durch
den Morgennebel, Jerusalem lag rot und trauernd im Strahl der Abendsonne,
aber über Bethlehem breitete sich eine herrliche Nacht aus mit großen Sternen
am dunkelblauen Himmel. Wie sprudelte nicht der Kinderglaube wieder ge¬
waltsam hervor! Sie wurde wieder zu dem kleinen Mädchen, das an der Hand
der Mutter zur Kirche ging und dasaß und fror und sich darüber wunderte,
weswegen die Menschen eigentlich so viel sündigten. Dann wuchs sie heran
unter den hohen Worten der Bergpredigt, und als der Pfarrer von den heiligen
Mysterien sprach, von den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls, da
lag sie als kranke Sünderin du. Da gewann das wahre Bedürfnis ihres
Herzens die Oberhand, jenes tiefe Knieen vor dem allmächtigen, richtenden
Gotte, jene bittern Thränen der Reue über den verratenen, bespotteten, leidenden
Gott, und jenes demütige und doch so kühne Sehnen, durch Wein und Brot
einen neuen Vertrag zu schließen mit dem geheimnisvollen Gotte.


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[0570] Ricks Lyhne, gehen. Ich fürchte mich, Ricks! Dort, wohin ich nun kommen werde, dort regiert der Herr, und der kümmert sich nicht um unsre Klugheit hier auf Erden, er will das Seine haben und weiter nichts, und alles, was sein eigen ist, das liegt mir so fern, so fern! Ich habe nicht viel Böses gethan, nicht wahr? Aber darauf kommt es ja nicht an — hol mir den Pfarrer, Ricks, ich möchte so gern mit ihm reden! Ricks stand auf und schickte sich an, den Pfarrer zu holen; er war dank¬ bar, daß dies nicht im allerletzten Augenblicke gekommen war. Der Pfarrer kam und blieb allein mit Gerda. Er war ein hübscher Mann mittlern Alters, mit feinen, regelmäßigen Zügen und großen braunen Augen. Natürlich kannte er sowohl Ricks Lyhncs als auch Gerdas Stellung zur Kirche, ihm waren auch wohl hin und wieder verschiedne kirchenfeindliche Äußerungen der jungen Frau zu Ohren gekommen, aber es fiel ihm jetzt nicht ein, zu ihr wie zu eiuer Heidin oder einer Ab¬ trünnigen zu reden, er verstand es nur zu gut, daß ihre große Liebe allein sie auf die Irrwege geführt hatte, und er verstand auch das Gefühl, das sie jetzt, wo die Liebe sie nicht weiter geleiten konnte, dazu veranlaßte, sich in ihrer Herzensangst nach einer Versöhnung mit dem Gotte zu sehnen, den sie früher gekannt hatte, und er bemühte sich deshalb, in seiner Rede hauptsächlich ihre schlummernden Erinnerungen zu wecken und ihr solche Stellen aus dem Evan¬ gelium und aus dem Gesangbuche vorzulesen, von denen er annehmen konnte, daß sie sie noch am besten kannte. Und darin irrte er sich nicht. Wie klangen sie nicht heimatlich und festlich, diese Worte, gleich dem Läuten der Glocken am Weihnachtsmorgen, wie lag es nicht auf einmal wieder vor ihrem Blick, das Land, in dem ihre Phantasie zu allererst heimisch gewesen war, das Land, in dem Josef träumte und David sang, wo die Leiter steht, die vom Himmel bis zur Erde reicht! Mit Feigen und Maulbeerbäumen lag es da, und der Jordan schimmerte silberhell durch den Morgennebel, Jerusalem lag rot und trauernd im Strahl der Abendsonne, aber über Bethlehem breitete sich eine herrliche Nacht aus mit großen Sternen am dunkelblauen Himmel. Wie sprudelte nicht der Kinderglaube wieder ge¬ waltsam hervor! Sie wurde wieder zu dem kleinen Mädchen, das an der Hand der Mutter zur Kirche ging und dasaß und fror und sich darüber wunderte, weswegen die Menschen eigentlich so viel sündigten. Dann wuchs sie heran unter den hohen Worten der Bergpredigt, und als der Pfarrer von den heiligen Mysterien sprach, von den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls, da lag sie als kranke Sünderin du. Da gewann das wahre Bedürfnis ihres Herzens die Oberhand, jenes tiefe Knieen vor dem allmächtigen, richtenden Gotte, jene bittern Thränen der Reue über den verratenen, bespotteten, leidenden Gott, und jenes demütige und doch so kühne Sehnen, durch Wein und Brot einen neuen Vertrag zu schließen mit dem geheimnisvollen Gotte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/570>, abgerufen am 22.07.2024.