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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Kaiser Wilhelm der Zweite.

irgends zeigt sich das deutsche Nechtssprichwort: "Der Tote erbt
den Lebendigen" (I^o wort saisit lo vit) kräftiger als in der
Erbfolge des Thrones. Die stille Sammlung, welche dem Bürger
gegönnt ist, den der Tod seines Familienhauptes betroffen hat,
bleibt dem Herrscher versagt. Die Größe seiner Stellung, die
hohe Pflicht seines königlichen Amtes verlangen gebieterisch, daß der neue Herr
sich von der Trauer um den Toten zu der Sorge um die Lebenden wende.
Daß dies bei der Thronbesteigung Friedrichs III. nicht der Fall sein konnte,
daß die tötliche Krankheit den Kaiser an das Zimmer bannte, als die Leiche
Wilhelms I. beigesetzt wurde, daß die fehlende Sprache den Monarchen hinderte,
zu der gewählten Vertretung seines Volkes persönlich zu reden, das alles lastete
wie Blei auf den Gemütern. Aber Gott verläßt die Deutschen nicht. Dem ersten
Kaiser Wilhelm ist Wilhelm II. gefolgt; ein jugendlicher Monarch, der kaum noch
vor einem Jahre der größern Menge bekannt war, hat mit festen Händen die Zügel
der Negierung ergriffen. Sein jugendliches Alter teilt er mit vielen seiner großen
Ahnen; der große Kurfürst und der große König von Preußen und Friedrich
Wilhelm I., der dem preußischen Königtum zuerst das feste Gefüge einer geord¬
neten, gerechten und sparsamen Verwaltung gab, sind noch jünger gewesen, als
der gegenwärtige Inhaber der deutschen und preußischen Krone. Erst seit dem
Beginne der Krankheit seines erlauchten Vaters begannen die Blicke des Jn-
und Auslandes sich dem "Prinzen Wilhelm" zuzuwenden. Man beobachtete
ihn genauer und fand zwei außerordentliche Grundzüge in seinem Charakter:
in dem Großvater sah er das Ideal eines Regenten, und in dem Fürsten Bis-
marck verehrte er mit Begeisterung den Staatsmann, dem sein Haus und sein
Land so viel Dank schuldet. Für die überwiegende Mehrheit der Nation war
diese Wahrnehmung ein Trost in schwerer Zeit, der Hoffnungsstern der Pl-


Grmzboten III. 1833. 7


Kaiser Wilhelm der Zweite.

irgends zeigt sich das deutsche Nechtssprichwort: „Der Tote erbt
den Lebendigen" (I^o wort saisit lo vit) kräftiger als in der
Erbfolge des Thrones. Die stille Sammlung, welche dem Bürger
gegönnt ist, den der Tod seines Familienhauptes betroffen hat,
bleibt dem Herrscher versagt. Die Größe seiner Stellung, die
hohe Pflicht seines königlichen Amtes verlangen gebieterisch, daß der neue Herr
sich von der Trauer um den Toten zu der Sorge um die Lebenden wende.
Daß dies bei der Thronbesteigung Friedrichs III. nicht der Fall sein konnte,
daß die tötliche Krankheit den Kaiser an das Zimmer bannte, als die Leiche
Wilhelms I. beigesetzt wurde, daß die fehlende Sprache den Monarchen hinderte,
zu der gewählten Vertretung seines Volkes persönlich zu reden, das alles lastete
wie Blei auf den Gemütern. Aber Gott verläßt die Deutschen nicht. Dem ersten
Kaiser Wilhelm ist Wilhelm II. gefolgt; ein jugendlicher Monarch, der kaum noch
vor einem Jahre der größern Menge bekannt war, hat mit festen Händen die Zügel
der Negierung ergriffen. Sein jugendliches Alter teilt er mit vielen seiner großen
Ahnen; der große Kurfürst und der große König von Preußen und Friedrich
Wilhelm I., der dem preußischen Königtum zuerst das feste Gefüge einer geord¬
neten, gerechten und sparsamen Verwaltung gab, sind noch jünger gewesen, als
der gegenwärtige Inhaber der deutschen und preußischen Krone. Erst seit dem
Beginne der Krankheit seines erlauchten Vaters begannen die Blicke des Jn-
und Auslandes sich dem „Prinzen Wilhelm" zuzuwenden. Man beobachtete
ihn genauer und fand zwei außerordentliche Grundzüge in seinem Charakter:
in dem Großvater sah er das Ideal eines Regenten, und in dem Fürsten Bis-
marck verehrte er mit Begeisterung den Staatsmann, dem sein Haus und sein
Land so viel Dank schuldet. Für die überwiegende Mehrheit der Nation war
diese Wahrnehmung ein Trost in schwerer Zeit, der Hoffnungsstern der Pl-


Grmzboten III. 1833. 7
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[0057] [Abbildung] Kaiser Wilhelm der Zweite. irgends zeigt sich das deutsche Nechtssprichwort: „Der Tote erbt den Lebendigen" (I^o wort saisit lo vit) kräftiger als in der Erbfolge des Thrones. Die stille Sammlung, welche dem Bürger gegönnt ist, den der Tod seines Familienhauptes betroffen hat, bleibt dem Herrscher versagt. Die Größe seiner Stellung, die hohe Pflicht seines königlichen Amtes verlangen gebieterisch, daß der neue Herr sich von der Trauer um den Toten zu der Sorge um die Lebenden wende. Daß dies bei der Thronbesteigung Friedrichs III. nicht der Fall sein konnte, daß die tötliche Krankheit den Kaiser an das Zimmer bannte, als die Leiche Wilhelms I. beigesetzt wurde, daß die fehlende Sprache den Monarchen hinderte, zu der gewählten Vertretung seines Volkes persönlich zu reden, das alles lastete wie Blei auf den Gemütern. Aber Gott verläßt die Deutschen nicht. Dem ersten Kaiser Wilhelm ist Wilhelm II. gefolgt; ein jugendlicher Monarch, der kaum noch vor einem Jahre der größern Menge bekannt war, hat mit festen Händen die Zügel der Negierung ergriffen. Sein jugendliches Alter teilt er mit vielen seiner großen Ahnen; der große Kurfürst und der große König von Preußen und Friedrich Wilhelm I., der dem preußischen Königtum zuerst das feste Gefüge einer geord¬ neten, gerechten und sparsamen Verwaltung gab, sind noch jünger gewesen, als der gegenwärtige Inhaber der deutschen und preußischen Krone. Erst seit dem Beginne der Krankheit seines erlauchten Vaters begannen die Blicke des Jn- und Auslandes sich dem „Prinzen Wilhelm" zuzuwenden. Man beobachtete ihn genauer und fand zwei außerordentliche Grundzüge in seinem Charakter: in dem Großvater sah er das Ideal eines Regenten, und in dem Fürsten Bis- marck verehrte er mit Begeisterung den Staatsmann, dem sein Haus und sein Land so viel Dank schuldet. Für die überwiegende Mehrheit der Nation war diese Wahrnehmung ein Trost in schwerer Zeit, der Hoffnungsstern der Pl- Grmzboten III. 1833. 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/57>, abgerufen am 22.07.2024.