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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Zur Philosophie der Umgangsformen,

glaubt, er könne, wenn er in Gesellschaft geht, den Verstand zu Hause lassen,
dem dürfte sein Selbstvertrauen möglicherweise nur allzu bald einen bösen
Streich spielen. Selber denken ist für den Geist, was selber essen für den
Körper ist. Daß man den Maßstab für den Wert eines schriftstellerischen Er¬
zeugnisses in dem darinliegenden Anreiz zu eignen Gedanken suchen müsse,
wird namentlich von französischen Schriftstellern in unzähligen Wendungen
wiederholt: Hu von livrs "zst eslui <M kalt xenssr.

Eine praktische Denklehre für den geselligen Verkehr wäre das erste Er¬
fordernis einer Belehrung über den guten Ton, die sich an Leser wendet,
welche Bildung besitzen oder solche erwerben wollen. Daß Bildung vor allem
in einem Betragen besteht, das den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht,
drückt die französische Sprache unmittelbar dadurch aus, daß sie den gebildeten
Mann un Iioinilis oominv it kaut nennt. Wie wünscht sich die Gesellschaft
den Mann und sein Betragen? Kurz gesagt: ihren Zwecken entsprechend. Die
Frage nach dem Zweck wird also den Wegweiser bilden für ein Verhalten, das
als <Z0min6 it kaut Anerkennung finden soll.

Die menschliche Gesellschaft ist das erstaunlichste Wunderwerk, das der
weite Kreis der Schöpfung unserm Auge darbietet. Hier feiert die göttlich¬
menschliche Vernunft ihren höchsten Triumph, indem sie den Egoismus des
persönlichen Willens, der alle gegen alle in den Kampf hetzt, in einer Weise zu
bändigen, zu diszipliniren und dem Gemeinintercsse dienstbar zu machen versteht,
daß aus dem chaotischen Widerstreit sich das Bild einer friedlichen Interessenhar-
monie erhebt. Herstellung der Interessenharmonie ist der umfassendste Ausdruck
für die Aufgabe des Gesellschaftslebens, insbesondre also auch für den geselligen Um¬
gang. Jeder erscheint da auf dem Markte, um seine Persönlichkeit zur Geltung
zu bringen. Pflicht eines jeden ist es, darauf zu fehen, daß die eigne Person
nicht, wie der populäre Ausdruck lautet, sich in einer Weise breit mache, daß
dadurch den andern ihr Spielraum in ungebührlicher Weise beengt und ver¬
schränkt wird. Besondern Beifall aber wird derjenige erlangen, der nicht bloß
sich hütet, andern im Wege oder im Lichte zu stehen, sondern auf feine Weise
und unmerklich jedem, mit dem er in Berührung tritt, Gelegenheit zu verschaffen
weiß, mit sich selbst zufrieden zu sein. Denn auf Selbstbefriedigung ist jeder
persönliche Wille gerichtet. Der Virtuose des geselligen Umganges wird er¬
finderisch fein in den Mitteln zur Erreichung des angegebenen Zweckes der
Selbstbefriedigung aller, welche zum geselligen Tauschverkehr zusammen¬
getreten sind.

Aber mag auch das Selbstdenken keinem zu ersparen sein, das Selbst¬
erfinden ist nicht jedem zuzumuten. Und so arbeitet denn die Gesellschaft in
Bezug auf ihre Art, sich zu unterhalten, sich gegenseitig zu genießen, wie in
jedem andern Betracht, wesentlich "nach berühmten Mustern." Maßgebend ist
die Autorität des erfahrungsmäßig als zweckdienlich erkannten. Auch der


Zur Philosophie der Umgangsformen,

glaubt, er könne, wenn er in Gesellschaft geht, den Verstand zu Hause lassen,
dem dürfte sein Selbstvertrauen möglicherweise nur allzu bald einen bösen
Streich spielen. Selber denken ist für den Geist, was selber essen für den
Körper ist. Daß man den Maßstab für den Wert eines schriftstellerischen Er¬
zeugnisses in dem darinliegenden Anreiz zu eignen Gedanken suchen müsse,
wird namentlich von französischen Schriftstellern in unzähligen Wendungen
wiederholt: Hu von livrs «zst eslui <M kalt xenssr.

Eine praktische Denklehre für den geselligen Verkehr wäre das erste Er¬
fordernis einer Belehrung über den guten Ton, die sich an Leser wendet,
welche Bildung besitzen oder solche erwerben wollen. Daß Bildung vor allem
in einem Betragen besteht, das den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht,
drückt die französische Sprache unmittelbar dadurch aus, daß sie den gebildeten
Mann un Iioinilis oominv it kaut nennt. Wie wünscht sich die Gesellschaft
den Mann und sein Betragen? Kurz gesagt: ihren Zwecken entsprechend. Die
Frage nach dem Zweck wird also den Wegweiser bilden für ein Verhalten, das
als <Z0min6 it kaut Anerkennung finden soll.

Die menschliche Gesellschaft ist das erstaunlichste Wunderwerk, das der
weite Kreis der Schöpfung unserm Auge darbietet. Hier feiert die göttlich¬
menschliche Vernunft ihren höchsten Triumph, indem sie den Egoismus des
persönlichen Willens, der alle gegen alle in den Kampf hetzt, in einer Weise zu
bändigen, zu diszipliniren und dem Gemeinintercsse dienstbar zu machen versteht,
daß aus dem chaotischen Widerstreit sich das Bild einer friedlichen Interessenhar-
monie erhebt. Herstellung der Interessenharmonie ist der umfassendste Ausdruck
für die Aufgabe des Gesellschaftslebens, insbesondre also auch für den geselligen Um¬
gang. Jeder erscheint da auf dem Markte, um seine Persönlichkeit zur Geltung
zu bringen. Pflicht eines jeden ist es, darauf zu fehen, daß die eigne Person
nicht, wie der populäre Ausdruck lautet, sich in einer Weise breit mache, daß
dadurch den andern ihr Spielraum in ungebührlicher Weise beengt und ver¬
schränkt wird. Besondern Beifall aber wird derjenige erlangen, der nicht bloß
sich hütet, andern im Wege oder im Lichte zu stehen, sondern auf feine Weise
und unmerklich jedem, mit dem er in Berührung tritt, Gelegenheit zu verschaffen
weiß, mit sich selbst zufrieden zu sein. Denn auf Selbstbefriedigung ist jeder
persönliche Wille gerichtet. Der Virtuose des geselligen Umganges wird er¬
finderisch fein in den Mitteln zur Erreichung des angegebenen Zweckes der
Selbstbefriedigung aller, welche zum geselligen Tauschverkehr zusammen¬
getreten sind.

Aber mag auch das Selbstdenken keinem zu ersparen sein, das Selbst¬
erfinden ist nicht jedem zuzumuten. Und so arbeitet denn die Gesellschaft in
Bezug auf ihre Art, sich zu unterhalten, sich gegenseitig zu genießen, wie in
jedem andern Betracht, wesentlich „nach berühmten Mustern." Maßgebend ist
die Autorität des erfahrungsmäßig als zweckdienlich erkannten. Auch der


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[0563] Zur Philosophie der Umgangsformen, glaubt, er könne, wenn er in Gesellschaft geht, den Verstand zu Hause lassen, dem dürfte sein Selbstvertrauen möglicherweise nur allzu bald einen bösen Streich spielen. Selber denken ist für den Geist, was selber essen für den Körper ist. Daß man den Maßstab für den Wert eines schriftstellerischen Er¬ zeugnisses in dem darinliegenden Anreiz zu eignen Gedanken suchen müsse, wird namentlich von französischen Schriftstellern in unzähligen Wendungen wiederholt: Hu von livrs «zst eslui <M kalt xenssr. Eine praktische Denklehre für den geselligen Verkehr wäre das erste Er¬ fordernis einer Belehrung über den guten Ton, die sich an Leser wendet, welche Bildung besitzen oder solche erwerben wollen. Daß Bildung vor allem in einem Betragen besteht, das den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht, drückt die französische Sprache unmittelbar dadurch aus, daß sie den gebildeten Mann un Iioinilis oominv it kaut nennt. Wie wünscht sich die Gesellschaft den Mann und sein Betragen? Kurz gesagt: ihren Zwecken entsprechend. Die Frage nach dem Zweck wird also den Wegweiser bilden für ein Verhalten, das als <Z0min6 it kaut Anerkennung finden soll. Die menschliche Gesellschaft ist das erstaunlichste Wunderwerk, das der weite Kreis der Schöpfung unserm Auge darbietet. Hier feiert die göttlich¬ menschliche Vernunft ihren höchsten Triumph, indem sie den Egoismus des persönlichen Willens, der alle gegen alle in den Kampf hetzt, in einer Weise zu bändigen, zu diszipliniren und dem Gemeinintercsse dienstbar zu machen versteht, daß aus dem chaotischen Widerstreit sich das Bild einer friedlichen Interessenhar- monie erhebt. Herstellung der Interessenharmonie ist der umfassendste Ausdruck für die Aufgabe des Gesellschaftslebens, insbesondre also auch für den geselligen Um¬ gang. Jeder erscheint da auf dem Markte, um seine Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Pflicht eines jeden ist es, darauf zu fehen, daß die eigne Person nicht, wie der populäre Ausdruck lautet, sich in einer Weise breit mache, daß dadurch den andern ihr Spielraum in ungebührlicher Weise beengt und ver¬ schränkt wird. Besondern Beifall aber wird derjenige erlangen, der nicht bloß sich hütet, andern im Wege oder im Lichte zu stehen, sondern auf feine Weise und unmerklich jedem, mit dem er in Berührung tritt, Gelegenheit zu verschaffen weiß, mit sich selbst zufrieden zu sein. Denn auf Selbstbefriedigung ist jeder persönliche Wille gerichtet. Der Virtuose des geselligen Umganges wird er¬ finderisch fein in den Mitteln zur Erreichung des angegebenen Zweckes der Selbstbefriedigung aller, welche zum geselligen Tauschverkehr zusammen¬ getreten sind. Aber mag auch das Selbstdenken keinem zu ersparen sein, das Selbst¬ erfinden ist nicht jedem zuzumuten. Und so arbeitet denn die Gesellschaft in Bezug auf ihre Art, sich zu unterhalten, sich gegenseitig zu genießen, wie in jedem andern Betracht, wesentlich „nach berühmten Mustern." Maßgebend ist die Autorität des erfahrungsmäßig als zweckdienlich erkannten. Auch der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/563>, abgerufen am 22.07.2024.