Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.Litteratur. Politische Geschichte der Gegenwart. Von Wilhelm Müller, Professor in Tübingen. XXI. Band. Berlin, I. Springer, 1888. Es ist bei Besprechung dieses Werkes, das alle Jahre ein neues Glied ansetzt, Litteratur. Politische Geschichte der Gegenwart. Von Wilhelm Müller, Professor in Tübingen. XXI. Band. Berlin, I. Springer, 1888. Es ist bei Besprechung dieses Werkes, das alle Jahre ein neues Glied ansetzt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0531" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289654"/> </div> </div> <div n="1"> <head> Litteratur.</head><lb/> <div n="2"> <head> Politische Geschichte der Gegenwart. Von Wilhelm Müller, Professor in Tübingen.<lb/> XXI. Band. Berlin, I. Springer, 1888.</head><lb/> <p xml:id="ID_1796" next="#ID_1797"> Es ist bei Besprechung dieses Werkes, das alle Jahre ein neues Glied ansetzt,<lb/> wiederholt in diesen Blättern darauf aufmerksam gemacht worden, daß eine Geschichte<lb/> der Gegenwart eigentlich ein Widerspruch ist, wenn Geschichte die wissenschaftlich beur¬<lb/> teilte und geordnete Wiedergabe geschehener Dinge sein soll. Die Gegenwart wird<lb/> niemals imstande sein, die Forderungen, welche die Wissenschaft an eine solche<lb/> Arbeit stellt, zu erfülle», sie wird niemals sich selbst erzählen und beschreiben<lb/> können, wenigstens niemals genügend und für die Dauer. Sie wird immer, wenn<lb/> derartiges versucht wird, zu befürchten haben, durch die Zukunft in wesentlichen<lb/> Stücken des Irrtums und der UnVollständigkeit geziehen zu werden, durch die Zukunft,<lb/> welche durch Oeffnung jetzt verschlossener Quellen und durch Beseitigung der Partei¬<lb/> leidenschaften, die auch gute Augen verblenden, das rechte Verständnis der Ereignisse<lb/> und der durch sie geschaffenen Zustände ermöglicht. Geschichte der Gegenwart schreiben<lb/> nur die Zeitungen, und man weiß, was das für Geschichte ist. Indes richten sich solche<lb/> Bemerkungen nur gegen den Titel derartiger Werke wie das vorliegende, und die<lb/> Verfasser erheben wohl selbst nicht den Anspruch, als Geschichtschreiber betrachtet<lb/> zu werden. Sie liefern, was sie können, Rückblicke, die, nach Zeitungsberichten<lb/> zusammengestellt und vorzüglich für Zeitungsleser bestimmt, bis auf weiteres hin¬<lb/> reichen, wenn sie mit Geschick angefertigt sind und nicht gar zu sehr die Farbe<lb/> der Partei tragen, welcher der Verfasser angehört. Diese Eigenschaften lassen sich<lb/> dem Sammelwerke nachrühmen, mit dem wir es hier zu thun haben. Der neue<lb/> Band berichtet über das Jahr 1837, das zu den inhaltsreichsten Abschnitten unsrer<lb/> Zeit zählt, namentlich, soweit es sich um das handelt, was uns am nächsten liegt.<lb/> Die Auflösung des deutschen Reichstages, mit dessen aus Demokraten und klerikalen<lb/> Neichsfeinden zusammengesetzter Opposition sich nicht mehr regieren ließ, der Um¬<lb/> schwung, welchen die Wahl einer nntionalgesinnten Mehrheit im Reichstage herbei¬<lb/> führte, die nun rasch erfolgende Erledigung der dringend notwendigen Militär¬<lb/> vorlage, die Bewilligung der dazu erforderlichen finanziellen Mittel, das umsichtige<lb/> und kraftvolle Auftreten des Reichskanzlers in den Parlamenten und in der Diplo¬<lb/> matie für die Erhaltung des Friedens, der sowohl von Westen als von Osten her<lb/> »niederholt gefährdet erschien, alles das lenkte die Aufmerksamkeit ganz Europas<lb/> auf sich und trug erheblich dazu bei, die Verteidigungsstellung des Reiches zu<lb/> verstärken und zu befestige», und da das Reich zum Grund- und Eckstein des<lb/> Weltfriedens geworden ist, so kau» man das Jahr 1837 als Jahr der Beruhigung<lb/> bezeichnen. Blicken wir auf die mit uns zur Erhaltung des Friedens verbündeten<lb/> Mächte zurück, so hatte Oesterreich-Ungarn noch von der slawisch-magyagarischen Hoch¬<lb/> flut zu leiden, welche von der Regierung entfesselt worden ist, ihr aber jetzt wohl<lb/> in dem Lichte erscheint, in welchem der Zauberlehrling die von ihm gerufenen<lb/> Geister zuletzt erblickte. Italien dagegen hatte mit den Verlegenheiten zu kämpfen,<lb/> in die es seine Politik in Ostafrika verwickelt hatte. Rußland war ohne Erfolg<lb/> im Innern mit der Ueberwindung finanzieller Schwierigkeiten, nach außen hin mit<lb/> Versuchen beschäftigt, die Mißerfolge seiner Politik in den Balkanländern auszu¬<lb/> gleichen Frankreich rückte, wie ihm mit seinem Parlamentarismus von Anfang</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0531]
Litteratur.
Politische Geschichte der Gegenwart. Von Wilhelm Müller, Professor in Tübingen.
XXI. Band. Berlin, I. Springer, 1888.
Es ist bei Besprechung dieses Werkes, das alle Jahre ein neues Glied ansetzt,
wiederholt in diesen Blättern darauf aufmerksam gemacht worden, daß eine Geschichte
der Gegenwart eigentlich ein Widerspruch ist, wenn Geschichte die wissenschaftlich beur¬
teilte und geordnete Wiedergabe geschehener Dinge sein soll. Die Gegenwart wird
niemals imstande sein, die Forderungen, welche die Wissenschaft an eine solche
Arbeit stellt, zu erfülle», sie wird niemals sich selbst erzählen und beschreiben
können, wenigstens niemals genügend und für die Dauer. Sie wird immer, wenn
derartiges versucht wird, zu befürchten haben, durch die Zukunft in wesentlichen
Stücken des Irrtums und der UnVollständigkeit geziehen zu werden, durch die Zukunft,
welche durch Oeffnung jetzt verschlossener Quellen und durch Beseitigung der Partei¬
leidenschaften, die auch gute Augen verblenden, das rechte Verständnis der Ereignisse
und der durch sie geschaffenen Zustände ermöglicht. Geschichte der Gegenwart schreiben
nur die Zeitungen, und man weiß, was das für Geschichte ist. Indes richten sich solche
Bemerkungen nur gegen den Titel derartiger Werke wie das vorliegende, und die
Verfasser erheben wohl selbst nicht den Anspruch, als Geschichtschreiber betrachtet
zu werden. Sie liefern, was sie können, Rückblicke, die, nach Zeitungsberichten
zusammengestellt und vorzüglich für Zeitungsleser bestimmt, bis auf weiteres hin¬
reichen, wenn sie mit Geschick angefertigt sind und nicht gar zu sehr die Farbe
der Partei tragen, welcher der Verfasser angehört. Diese Eigenschaften lassen sich
dem Sammelwerke nachrühmen, mit dem wir es hier zu thun haben. Der neue
Band berichtet über das Jahr 1837, das zu den inhaltsreichsten Abschnitten unsrer
Zeit zählt, namentlich, soweit es sich um das handelt, was uns am nächsten liegt.
Die Auflösung des deutschen Reichstages, mit dessen aus Demokraten und klerikalen
Neichsfeinden zusammengesetzter Opposition sich nicht mehr regieren ließ, der Um¬
schwung, welchen die Wahl einer nntionalgesinnten Mehrheit im Reichstage herbei¬
führte, die nun rasch erfolgende Erledigung der dringend notwendigen Militär¬
vorlage, die Bewilligung der dazu erforderlichen finanziellen Mittel, das umsichtige
und kraftvolle Auftreten des Reichskanzlers in den Parlamenten und in der Diplo¬
matie für die Erhaltung des Friedens, der sowohl von Westen als von Osten her
»niederholt gefährdet erschien, alles das lenkte die Aufmerksamkeit ganz Europas
auf sich und trug erheblich dazu bei, die Verteidigungsstellung des Reiches zu
verstärken und zu befestige», und da das Reich zum Grund- und Eckstein des
Weltfriedens geworden ist, so kau» man das Jahr 1837 als Jahr der Beruhigung
bezeichnen. Blicken wir auf die mit uns zur Erhaltung des Friedens verbündeten
Mächte zurück, so hatte Oesterreich-Ungarn noch von der slawisch-magyagarischen Hoch¬
flut zu leiden, welche von der Regierung entfesselt worden ist, ihr aber jetzt wohl
in dem Lichte erscheint, in welchem der Zauberlehrling die von ihm gerufenen
Geister zuletzt erblickte. Italien dagegen hatte mit den Verlegenheiten zu kämpfen,
in die es seine Politik in Ostafrika verwickelt hatte. Rußland war ohne Erfolg
im Innern mit der Ueberwindung finanzieller Schwierigkeiten, nach außen hin mit
Versuchen beschäftigt, die Mißerfolge seiner Politik in den Balkanländern auszu¬
gleichen Frankreich rückte, wie ihm mit seinem Parlamentarismus von Anfang
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