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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

ein vereinsamtes Aussehen. Die Laternen, die im Winde flackerten, jagten
ihr Licht geisterhaft an den Mauern entlang, sodaß hie und da ein Schild
aus seinen Träumen aufschreckte und in großartiger Gedankenleere vor sich
hinstarrte. Auch die Ladenfenster, die nur halb erleuchtet waren und deren
Schaustellung in der Geschäftigkeit des Tages zerstört worden war, sahen anders
aus als sonst: es war etwas eigenartig Jnsichgekehrtes über sie gekommen.

Ricks bog in die Nebenstraßen ein, und hier schien Weihnachten schon in
vollem Gange zu sein, denn aus den Kellern und den niedern Erdgeschossen
klangen ihm überall Töne entgegen, zuweilen von einer Violine, am häufigsten
aber von Handharmonikas herrührend, die sich unverdrossen durch bekannte
Tanzmelodien hindurchquälten, und durch die treuherzige Weise, mit der sie vor¬
getragen wurden, mehr die frohe Arbeit des Tanzes als das eigentliche Fest¬
liche desselben ausdrückten. Aber es lag über dem Ganzen eine gewisse Illusion
von schleppenden Tritten und qualmiger Luft, so schien es ihm, dem draußen
stehenden, den seine Einsamkeit gegen jegliche Geselligkeit feindselig stimmte. Er
hatte weit mehr Sympathie für den Arbeitsmann, der vor dem matt erleuchteten
Fenster des kleinen Kramladens stand und mit seinem Kinde über eins der
billigen Wunder da drinnen verhandelte, und der so besorgt schien, eine unwider¬
rufliche Wahl zu treffen, bevor sie sich in die Höhle der Versuchung wagten.
Und dann diese alten, einfachen Damen, die in Menge des Weges gingen, eine
nach der andern, fast auf jedem hundertsten Schritt; alle mit den wunderbarsten
Mänteln aus längst entschwundnen Zeiten, und alle mit leisen, menschenscheuen
Bewegungen ihrer alten Hälse, ganz wie mißtrauische Vögel, und mit etwas
Unsicheren, Weltentwöhntem in ihrem Gange, als hätten sie Tag für Tag da
oben in den Mansardenstübchen der Hinterhäuser gesessen und wären nur an
diesem einen Abende ins Freie gelassen worden. Er wurde traurig, als er daran
dachte, und es stieg ein krankhaftes Gefühl in seinem Herzen auf, als er sich
träumend in das langsam verrinnende Dasein so einer einsamen alten Jungfer
versetzte, und er hörte vor seinen Ohren das langsame Ticktack einer Wanduhr
peinlich taktfest die inhaltslosen Sekunden in die Schale des Tages tröpfeln.

Er mußte suchen, den Weihnachtsabend zu überstehen, und so ging er
denn denselben Weg zurück, den er gekommen war, mit einem halbbewußten
Grauen, daß in den andern Straßen neue Einsamkeiten dämmerten, andre Ver¬
hältnisse auftauchten als die, welche ihm hier entgegengetreten waren und die
ihn so bitter gestimmt hatten.

Draußen in den großen Straßen atmete er freier auf, er ging schneller,
mit einem gewissen Trotz in seinem Gang, und befreite sich von dem, was ihn
eben noch so unangenehm berührt hatte, durch den Gedanken, daß er ja seine
Einsamkeit freiwillig gewählt habe.

So trat er in eines der größern Restaurants ein.

Während er dasaß und auf die Speisen wartete, beobachtete er hinter


Ricks Lyhne.

ein vereinsamtes Aussehen. Die Laternen, die im Winde flackerten, jagten
ihr Licht geisterhaft an den Mauern entlang, sodaß hie und da ein Schild
aus seinen Träumen aufschreckte und in großartiger Gedankenleere vor sich
hinstarrte. Auch die Ladenfenster, die nur halb erleuchtet waren und deren
Schaustellung in der Geschäftigkeit des Tages zerstört worden war, sahen anders
aus als sonst: es war etwas eigenartig Jnsichgekehrtes über sie gekommen.

Ricks bog in die Nebenstraßen ein, und hier schien Weihnachten schon in
vollem Gange zu sein, denn aus den Kellern und den niedern Erdgeschossen
klangen ihm überall Töne entgegen, zuweilen von einer Violine, am häufigsten
aber von Handharmonikas herrührend, die sich unverdrossen durch bekannte
Tanzmelodien hindurchquälten, und durch die treuherzige Weise, mit der sie vor¬
getragen wurden, mehr die frohe Arbeit des Tanzes als das eigentliche Fest¬
liche desselben ausdrückten. Aber es lag über dem Ganzen eine gewisse Illusion
von schleppenden Tritten und qualmiger Luft, so schien es ihm, dem draußen
stehenden, den seine Einsamkeit gegen jegliche Geselligkeit feindselig stimmte. Er
hatte weit mehr Sympathie für den Arbeitsmann, der vor dem matt erleuchteten
Fenster des kleinen Kramladens stand und mit seinem Kinde über eins der
billigen Wunder da drinnen verhandelte, und der so besorgt schien, eine unwider¬
rufliche Wahl zu treffen, bevor sie sich in die Höhle der Versuchung wagten.
Und dann diese alten, einfachen Damen, die in Menge des Weges gingen, eine
nach der andern, fast auf jedem hundertsten Schritt; alle mit den wunderbarsten
Mänteln aus längst entschwundnen Zeiten, und alle mit leisen, menschenscheuen
Bewegungen ihrer alten Hälse, ganz wie mißtrauische Vögel, und mit etwas
Unsicheren, Weltentwöhntem in ihrem Gange, als hätten sie Tag für Tag da
oben in den Mansardenstübchen der Hinterhäuser gesessen und wären nur an
diesem einen Abende ins Freie gelassen worden. Er wurde traurig, als er daran
dachte, und es stieg ein krankhaftes Gefühl in seinem Herzen auf, als er sich
träumend in das langsam verrinnende Dasein so einer einsamen alten Jungfer
versetzte, und er hörte vor seinen Ohren das langsame Ticktack einer Wanduhr
peinlich taktfest die inhaltslosen Sekunden in die Schale des Tages tröpfeln.

Er mußte suchen, den Weihnachtsabend zu überstehen, und so ging er
denn denselben Weg zurück, den er gekommen war, mit einem halbbewußten
Grauen, daß in den andern Straßen neue Einsamkeiten dämmerten, andre Ver¬
hältnisse auftauchten als die, welche ihm hier entgegengetreten waren und die
ihn so bitter gestimmt hatten.

Draußen in den großen Straßen atmete er freier auf, er ging schneller,
mit einem gewissen Trotz in seinem Gang, und befreite sich von dem, was ihn
eben noch so unangenehm berührt hatte, durch den Gedanken, daß er ja seine
Einsamkeit freiwillig gewählt habe.

So trat er in eines der größern Restaurants ein.

Während er dasaß und auf die Speisen wartete, beobachtete er hinter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/50>, abgerufen am 22.07.2024.