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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Kleinere Mitteilungen.

müsse ein Fehler in ihm sein, sagte er sich, ein unheilbarer Fehler im innersten
Mark seines Wesens, denn ein Mensch müßte sich doch sonst zusammenleben
können! Solche Gedanken und Stimmungen beherrschten ihn immer noch, als
er sich im zweiten Jahre seines Aufenthalts im Auslande anfang September
an den Ufern des Gardasees in dem kleinen Riva niederließ.

Unmittelbar nachdem er gekommen war, schloß sich das Land rings umher
mit einem Wall von Schwierigkeiten und Reisebeschwerlichkeiten, die alle Fremden
fernhielten. In Venedig war die Cholera ausgebrochen, ebenso nördlich in der
Gegend von Trient und südlich in Desenzcmo. Unter diesen Umständen wurde
Riva nicht sonderlich lebhaft, die Hotels hatten sich bei den ersten Gerüchten
geleert, und die nach Italien reisenden gingen einen andern Weg. Umso enger
schlössen sich die wenigen zurückgebliebenen an einander an.

Die bemerkenswerteste Persönlichkeit unter diesen war eine gefeierte Opern-
säugerin, deren wirklicher Name Madame Otero war; der Name, unter dem
sie auf der Bühne auftrat, hatte einen weit berühmteren Klang. Sie und ihre
Gesellschaftsdame, Ricks sowie ein tauber Arzt aus Wien waren die einzigen
Gäste im Hotel zur "Goldner Sonne," dem hervorragendsten der Stadt.

Ricks schloß sich mehr und mehr un die Sängerin an, und sie gab der
Herzlichkeit nach, die in seinem ganzen Wesen lag, wie das so oft bei Leuten
der Fall ist, die mit sich selber im Unfrieden leben, und die deswegen darauf
angewiesen sind, bei andern in Sicherheit zu kommen. (Fortsetzung folgt.)




Kleinere Mitteilungen.

Zur baltischen Frage liegen wieder zwei Schriften vor, beide im Verlage von
Duncker und Humblot in Leipzig erschienen. Die erste, "Rechtskraft und Rechtsbruch
der lip- und estlcindischen Privilegien," führt zunächst unter Mitteilung dieser Privi¬
legien den Beweis, daß diese sowie die der Städte Riga und Neval vermöge ihrer
Natur und nach der Beschaffenheit ihrer Quellen einer einseitigen Aufhebung oder
auch nur Abänderung durch die russische Regierung nicht unterliegen dürfen und
einer solchen auch nicht durch amtlichen Akt ausdrücklich unterzogen worden sind,
also rechtlich noch bestehen. Dann wird gezeigt, daß sie thatsächlich teils ver¬
nichtet, teils mit baldiger Vernichtung bedroht sind. Endlich widerlegt der Ver¬
fasser, offenbar ein Mann der Wissenschaft, die Behauptung, daß die bei einzelnen
Bestätigungsurkunden hinzugefügten Klauseln die Unabänderlichkeit des verfassungs¬
mäßigen Rechtes der genannten Provinzen und Städte irgendwie zu schmälern ge¬
eignet seien. Wir empfehle" die Schrift allen, die der traurigen Angelegenheit
ihre Teilnahme zugewendet haben, als eine durch Klarheit und Vollständigkeit aus¬
gezeichnete Arbeit mit dem Wunsche, daß sie an der Stelle, welche den vorliegenden


Kleinere Mitteilungen.

müsse ein Fehler in ihm sein, sagte er sich, ein unheilbarer Fehler im innersten
Mark seines Wesens, denn ein Mensch müßte sich doch sonst zusammenleben
können! Solche Gedanken und Stimmungen beherrschten ihn immer noch, als
er sich im zweiten Jahre seines Aufenthalts im Auslande anfang September
an den Ufern des Gardasees in dem kleinen Riva niederließ.

Unmittelbar nachdem er gekommen war, schloß sich das Land rings umher
mit einem Wall von Schwierigkeiten und Reisebeschwerlichkeiten, die alle Fremden
fernhielten. In Venedig war die Cholera ausgebrochen, ebenso nördlich in der
Gegend von Trient und südlich in Desenzcmo. Unter diesen Umständen wurde
Riva nicht sonderlich lebhaft, die Hotels hatten sich bei den ersten Gerüchten
geleert, und die nach Italien reisenden gingen einen andern Weg. Umso enger
schlössen sich die wenigen zurückgebliebenen an einander an.

Die bemerkenswerteste Persönlichkeit unter diesen war eine gefeierte Opern-
säugerin, deren wirklicher Name Madame Otero war; der Name, unter dem
sie auf der Bühne auftrat, hatte einen weit berühmteren Klang. Sie und ihre
Gesellschaftsdame, Ricks sowie ein tauber Arzt aus Wien waren die einzigen
Gäste im Hotel zur „Goldner Sonne," dem hervorragendsten der Stadt.

Ricks schloß sich mehr und mehr un die Sängerin an, und sie gab der
Herzlichkeit nach, die in seinem ganzen Wesen lag, wie das so oft bei Leuten
der Fall ist, die mit sich selber im Unfrieden leben, und die deswegen darauf
angewiesen sind, bei andern in Sicherheit zu kommen. (Fortsetzung folgt.)




Kleinere Mitteilungen.

Zur baltischen Frage liegen wieder zwei Schriften vor, beide im Verlage von
Duncker und Humblot in Leipzig erschienen. Die erste, „Rechtskraft und Rechtsbruch
der lip- und estlcindischen Privilegien," führt zunächst unter Mitteilung dieser Privi¬
legien den Beweis, daß diese sowie die der Städte Riga und Neval vermöge ihrer
Natur und nach der Beschaffenheit ihrer Quellen einer einseitigen Aufhebung oder
auch nur Abänderung durch die russische Regierung nicht unterliegen dürfen und
einer solchen auch nicht durch amtlichen Akt ausdrücklich unterzogen worden sind,
also rechtlich noch bestehen. Dann wird gezeigt, daß sie thatsächlich teils ver¬
nichtet, teils mit baldiger Vernichtung bedroht sind. Endlich widerlegt der Ver¬
fasser, offenbar ein Mann der Wissenschaft, die Behauptung, daß die bei einzelnen
Bestätigungsurkunden hinzugefügten Klauseln die Unabänderlichkeit des verfassungs¬
mäßigen Rechtes der genannten Provinzen und Städte irgendwie zu schmälern ge¬
eignet seien. Wir empfehle» die Schrift allen, die der traurigen Angelegenheit
ihre Teilnahme zugewendet haben, als eine durch Klarheit und Vollständigkeit aus¬
gezeichnete Arbeit mit dem Wunsche, daß sie an der Stelle, welche den vorliegenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/486>, abgerufen am 22.07.2024.