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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

nicht geeignet, eine neue Wissenschaft zu erzeugen. Nur das dürftige Bacillen-
leben der Kommentare wird reichlich in ihm Nahrung finden.

Voraussichtlich wird hiernach bei Einführung des Gesetzbuches auch das
ganze Universitätsstudium sich ändern. Das römische Recht, auf dessen Fort¬
bestand als Grundlage der Wissenschaft wohl manche Rechtslehrer gehofft haben,
wird aus dem Studium verschwinden. Es wird keine Zeit mehr dafür übrig
bleiben. Ein kodifizirtcs Recht nimmt in erster Linie das Gedächtnis in An¬
spruch. Schon jetzt stellen Handelsrecht, Wechselrecht, Strafrecht und die Neichs-
prozeßgesetze dem Studirenden die Aufgabe, den Inhalt von 3678 Paragraphen
zu erlernen. Tritt das Zivilgesetzbuch mit seinem Einführungsgesetze noch hinzu,
so werden das zusammen mehr als 600V Paragraphen allein im Reichsrecht
sein, die der Studirende sich aneignen muß. Wie kann man ihm, wenn man
ihm so viel auswendig zu lernen zumutet, auch noch zumuten, juristisch denken
zu lernen? Um sich Paragraphen einzuprägen, braucht man auch keinen Pro¬
fessor, sondern nur noch einen Einpauker. Das ganze Rechtsstudium wird hiernach
anderer Art werden. Es wird mehr auf ein mechanisches Lehren und Lernen
hinauslaufen. Wer aber nur mechanisch das Recht erlernt hat, wird es später
im Leben auch nur mechanisch anwenden.

Vielleicht werden manche sagen: Was ist wohl an der Wissenschaft gelegen,
wenn wir nur ein gutes Recht haben! Ganz dieser Ansicht würde ich auch
sein, wenn die Sache so wäre. Unter der Wissenschaft aber, der ich hier das
Wort rede, verstehe ich nicht gelehrten Krimskrams, sondern eine lebendige Er¬
kenntnis der Lebensverhältnisse, die das Recht bedingen. Ohne eine solche
wird niemals eine gute Rechtsprechung bestehen. Sie geht aber unter, wenn
man nur noch mechanisch Gesetze anwendet.

Nun wird man freilich den gewichtigen Einwand erheben: "Soll denn die
jetzt in Deutschland bestehende Buntscheckigkeit des Rechtes ewig fortbestehe"?
Das deutsche Volk verlangt nach Einheit des Rechtes, und diese muß ihm
gewährt werden." Gewiß besteht in dem deutschen Volke dieses Verlangen und
ist auch vollkommen berechtigt. Es war ein schwerer Fehler Savignys, daß er,
als er gegen die Kodifikation auftrat, dies verkannte. Die Frage ist nur die:
In welcher Weise wird dieses Verlangen am besten befriedigt? Hier muß ich
nun zurückverweisen auf die Stimmen derjenigen im Reichstage, welche begehrte",
daß auf dem Wege der Einzelgesetzgebung vorgeschritten werde. Das waren nicht
minder patriotisch gesinnte Männer, als die, welche heute für Kodifikation
schwärmen. Sie wollten nur nicht eine Einheit auf Kosten des materiellen
Wertes der Rechtspflege schaffen. Es ist eine schlimme Verirrung mancher
unsrer Politiker, daß sie meinen, wenn man nur Einheit schaffe, so komme es
gar nicht darauf an, ob das Geschaffene gut oder schlecht sei. Das deutsche
Volk erwartet von der Einheit gute Einrichtungen, nicht aber schlechte. Wir
haben das lebendige Beispiel vor Augen an unserm Zivilprozeß, der nur dazu


Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

nicht geeignet, eine neue Wissenschaft zu erzeugen. Nur das dürftige Bacillen-
leben der Kommentare wird reichlich in ihm Nahrung finden.

Voraussichtlich wird hiernach bei Einführung des Gesetzbuches auch das
ganze Universitätsstudium sich ändern. Das römische Recht, auf dessen Fort¬
bestand als Grundlage der Wissenschaft wohl manche Rechtslehrer gehofft haben,
wird aus dem Studium verschwinden. Es wird keine Zeit mehr dafür übrig
bleiben. Ein kodifizirtcs Recht nimmt in erster Linie das Gedächtnis in An¬
spruch. Schon jetzt stellen Handelsrecht, Wechselrecht, Strafrecht und die Neichs-
prozeßgesetze dem Studirenden die Aufgabe, den Inhalt von 3678 Paragraphen
zu erlernen. Tritt das Zivilgesetzbuch mit seinem Einführungsgesetze noch hinzu,
so werden das zusammen mehr als 600V Paragraphen allein im Reichsrecht
sein, die der Studirende sich aneignen muß. Wie kann man ihm, wenn man
ihm so viel auswendig zu lernen zumutet, auch noch zumuten, juristisch denken
zu lernen? Um sich Paragraphen einzuprägen, braucht man auch keinen Pro¬
fessor, sondern nur noch einen Einpauker. Das ganze Rechtsstudium wird hiernach
anderer Art werden. Es wird mehr auf ein mechanisches Lehren und Lernen
hinauslaufen. Wer aber nur mechanisch das Recht erlernt hat, wird es später
im Leben auch nur mechanisch anwenden.

Vielleicht werden manche sagen: Was ist wohl an der Wissenschaft gelegen,
wenn wir nur ein gutes Recht haben! Ganz dieser Ansicht würde ich auch
sein, wenn die Sache so wäre. Unter der Wissenschaft aber, der ich hier das
Wort rede, verstehe ich nicht gelehrten Krimskrams, sondern eine lebendige Er¬
kenntnis der Lebensverhältnisse, die das Recht bedingen. Ohne eine solche
wird niemals eine gute Rechtsprechung bestehen. Sie geht aber unter, wenn
man nur noch mechanisch Gesetze anwendet.

Nun wird man freilich den gewichtigen Einwand erheben: „Soll denn die
jetzt in Deutschland bestehende Buntscheckigkeit des Rechtes ewig fortbestehe»?
Das deutsche Volk verlangt nach Einheit des Rechtes, und diese muß ihm
gewährt werden." Gewiß besteht in dem deutschen Volke dieses Verlangen und
ist auch vollkommen berechtigt. Es war ein schwerer Fehler Savignys, daß er,
als er gegen die Kodifikation auftrat, dies verkannte. Die Frage ist nur die:
In welcher Weise wird dieses Verlangen am besten befriedigt? Hier muß ich
nun zurückverweisen auf die Stimmen derjenigen im Reichstage, welche begehrte»,
daß auf dem Wege der Einzelgesetzgebung vorgeschritten werde. Das waren nicht
minder patriotisch gesinnte Männer, als die, welche heute für Kodifikation
schwärmen. Sie wollten nur nicht eine Einheit auf Kosten des materiellen
Wertes der Rechtspflege schaffen. Es ist eine schlimme Verirrung mancher
unsrer Politiker, daß sie meinen, wenn man nur Einheit schaffe, so komme es
gar nicht darauf an, ob das Geschaffene gut oder schlecht sei. Das deutsche
Volk erwartet von der Einheit gute Einrichtungen, nicht aber schlechte. Wir
haben das lebendige Beispiel vor Augen an unserm Zivilprozeß, der nur dazu


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[0466] Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung. nicht geeignet, eine neue Wissenschaft zu erzeugen. Nur das dürftige Bacillen- leben der Kommentare wird reichlich in ihm Nahrung finden. Voraussichtlich wird hiernach bei Einführung des Gesetzbuches auch das ganze Universitätsstudium sich ändern. Das römische Recht, auf dessen Fort¬ bestand als Grundlage der Wissenschaft wohl manche Rechtslehrer gehofft haben, wird aus dem Studium verschwinden. Es wird keine Zeit mehr dafür übrig bleiben. Ein kodifizirtcs Recht nimmt in erster Linie das Gedächtnis in An¬ spruch. Schon jetzt stellen Handelsrecht, Wechselrecht, Strafrecht und die Neichs- prozeßgesetze dem Studirenden die Aufgabe, den Inhalt von 3678 Paragraphen zu erlernen. Tritt das Zivilgesetzbuch mit seinem Einführungsgesetze noch hinzu, so werden das zusammen mehr als 600V Paragraphen allein im Reichsrecht sein, die der Studirende sich aneignen muß. Wie kann man ihm, wenn man ihm so viel auswendig zu lernen zumutet, auch noch zumuten, juristisch denken zu lernen? Um sich Paragraphen einzuprägen, braucht man auch keinen Pro¬ fessor, sondern nur noch einen Einpauker. Das ganze Rechtsstudium wird hiernach anderer Art werden. Es wird mehr auf ein mechanisches Lehren und Lernen hinauslaufen. Wer aber nur mechanisch das Recht erlernt hat, wird es später im Leben auch nur mechanisch anwenden. Vielleicht werden manche sagen: Was ist wohl an der Wissenschaft gelegen, wenn wir nur ein gutes Recht haben! Ganz dieser Ansicht würde ich auch sein, wenn die Sache so wäre. Unter der Wissenschaft aber, der ich hier das Wort rede, verstehe ich nicht gelehrten Krimskrams, sondern eine lebendige Er¬ kenntnis der Lebensverhältnisse, die das Recht bedingen. Ohne eine solche wird niemals eine gute Rechtsprechung bestehen. Sie geht aber unter, wenn man nur noch mechanisch Gesetze anwendet. Nun wird man freilich den gewichtigen Einwand erheben: „Soll denn die jetzt in Deutschland bestehende Buntscheckigkeit des Rechtes ewig fortbestehe»? Das deutsche Volk verlangt nach Einheit des Rechtes, und diese muß ihm gewährt werden." Gewiß besteht in dem deutschen Volke dieses Verlangen und ist auch vollkommen berechtigt. Es war ein schwerer Fehler Savignys, daß er, als er gegen die Kodifikation auftrat, dies verkannte. Die Frage ist nur die: In welcher Weise wird dieses Verlangen am besten befriedigt? Hier muß ich nun zurückverweisen auf die Stimmen derjenigen im Reichstage, welche begehrte», daß auf dem Wege der Einzelgesetzgebung vorgeschritten werde. Das waren nicht minder patriotisch gesinnte Männer, als die, welche heute für Kodifikation schwärmen. Sie wollten nur nicht eine Einheit auf Kosten des materiellen Wertes der Rechtspflege schaffen. Es ist eine schlimme Verirrung mancher unsrer Politiker, daß sie meinen, wenn man nur Einheit schaffe, so komme es gar nicht darauf an, ob das Geschaffene gut oder schlecht sei. Das deutsche Volk erwartet von der Einheit gute Einrichtungen, nicht aber schlechte. Wir haben das lebendige Beispiel vor Augen an unserm Zivilprozeß, der nur dazu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/466>, abgerufen am 22.07.2024.